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angie99
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dawo

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Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2023
Dalee
Gastmann, Dennis

Dalee


sehr gut

Wäre ich eine berühmte Filmregisseurin, hätte ich mich nach spätestens 200 Seiten „Dalee“ hinters Telefon geklemmt, um mir die Filmrechte zu sichern! Denn Dennis Gastmann erzählt hier eine mitreißende Geschichte in so bildhaften Szenen, als würden sie nur darauf warten, auf die Leinwand gebracht zu werden: abenteuerliche Szenen einer Schiffsfahrt über das weite Meer und der Besiedlung eines menschenleeren Archipels, anrührende Szenen von der Freundschaft zwischen Elefanten und ihren Mahuts, exotische Szenen eines quirligen Basars samt Elefantenrennen, märchenhafte, absurde, gefährliche, schmerzvolle und idyllische Szenen… Sie alle mit dicken, saftigen Pinselstrichen gemalt vor opulent ausgestatteten Kulissen oder einfach nur atemberaubend schöner Naturgewalt, üppig an Farben, Formen, Eindrücken, Gerüchen und Kontrasten.
(Das Einzige, was fehlt, ist: Sex & Crime. Und siehe da: niemand vermisst es!)
Dieses Buch ist ein Fest für die Vorstellungskraft, die einen über den Indischen Ozean auf die andanamischen Inseln bringt. „Die dritte Insel, die vorüberzog, glich einer Meeresschildkröte, deren Panzer mit Kokospalmen bewachsen war Als würde sie gleich den Kopf aus der Strömung heben und sich schwimmend von dem Dampfer entfernen, der die Andamanensee auf seiner Reise durchquerte. Es schien so viele Inseln zu geben, dass wir an jedem Tag im Jahr eine neue erkunden könnten, ohne dasselbe Land zweimal zu betreten.“ (S. 128)
Hin und wieder wird diese Vorstellungskraft jedoch überstrapaziert, denn viele Dinge oder Vorkommnisse umschreibt der Autor, ohne den Kern der Sache offen auszusprechen. So vermeidet er gekonnt Plattitüden, bleibt jedoch manches Mal auch zu vage.
Die Figuren – allen voran der Hauptprotagonist, der 11jährige Bellini – bleiben mir distanziert, als würden sie nur von weitem auf dem Bildschirm flimmern.
Sprachlich sitzt Dennis Gastmann ganz souverän auf dem Genick seines Buch-Elefanten: auf beeindruckende Weise verbindet er die fiktive Geschichte mit realen Begebenheiten und detaillierten Kenntnissen über die größten Landtiere und ihre menschlichen Begleiter. Auch Geschichte, Kultur und Religionen Indiens werden gekonnt im Text verwoben. „Die Holzfäller saßen auf dem Waldboden, rings um den Stamm eines Pipals, der fünfzig Fuß hoch in den Himmel ragte. Sie hatten den heiligen Feigenbaum in den Stunden der Dämmerung freigeschlagen, und nun stand er da ohne Büsche und Sträucher wie ein König ohne Untertanen, während die Männer ihn lobpreisten. Asche auf der Stirn, die Hände vor der Brust gefaltet, die Augen fest verschlossen. (…) ‚Wer in Indien einen Baum fällt, Sir, der begeht eine Sünde namens Suna. Darum bitten wir Aranyani, die Göttin des Waldes, um Vergebung.‘“ (S. 234)
Allen, die sich für Elefanten interessieren und / oder erlebnisreiche, warmherzige Geschichten vor exotischen Kulissen mögen, kann ich dieses Buch wärmstens ans Herz legen.
„‘Es heißt doch, ein Elefant vergisst nie. Das sagt man doch so, oder nicht?‘ ‚Märchen, Junge. Märchen von Menschen, die nicht wissen, wovon sie sprechen. Die Leute schauen nur, aber sie sehen nicht. Ein Elefant ist ein denkendes Wesen. Und wer denken kann, der vergisst auch…“ (S. 306)
Derweil warte ich ungeduldig, bis „Dalee“ (von jemand anderem) verfilmt wird!

Bewertung vom 11.03.2023
Finni Fantastisch
Rose, Jess

Finni Fantastisch


ausgezeichnet

Finni fällt auf. Das Fuchskind trägt am liebsten Hüte, Umhänge, verrückte Schuhe, gerne regenbogenbunt und glitzerig. Mit seinem außergewöhnlichen Mode-Geschmack stößt Finni jedoch auch auf Ablehnung. Wer läuft denn schon >SO< herum?
Dieses Buch spricht direkt in die Lebenswelt von Kindergartenkindern hinein. Wer von ihnen hat es noch nicht erlebt, dass es von Anderen ausgelacht worden ist für etwas, das es mag?
Da es außerdem der Fantasie der Leser*innen überlassen bleibt, ob Finni ein Mädchen oder ein Junge ist, dürften sich so ziemlich alle mit dem fröhlich-frechen Fuchskind identifizieren dürfen.
Finni erlebt unterschiedliche Reaktionen auf seine Art, sich zu kleiden, das wird in diesem Buch differenziert aufgearbeitet und darf bei Kindern für Gesprächsstoff sorgen. Meine Tochter, die selbst ein bisschen was von Finni hat, fand die Einwände sehr merkwürdig und konnte sich nicht vorstellen, wieso jemand etwas gegen Superheldencapes und Glitzer haben könnte…?! 😉
Die Message dieser Geschichte wird gestalterisch unterstützt, in dem die Bilder in bunte (da, wo Finni finnibunt sein darf) und graue (da, wo das Angepasstsein herrscht) Bereiche eingeteilt sind. Dieser Kunst-Griff ist sehr aussagekräftig. Tatsächlich kommt das Buch mit sehr wenig Text aus und ist trotzdem für alle verständlich.
Ein gibt ein paar Kleinigkeiten, die ich nicht 100% gelungen finde, z.B. den unruhigen Zeichenstil und dass die Auflösung des Problems etwas arg einfach geraten ist. Für die Zielgruppe ist es jedoch okay und in der Gesamtheit überwiegt definitiv das Positive: ein mutmachendes, schönes Buch, das ein wichtiges Thema aufgreift und wertvolle Impulse liefert. Besonders zur gemeinsamen Bearbeitung in Kindergartengruppen empfehlenswert!
Der Preis des Buches ist leider ziemlich happig. Mit seinem Kauf tut man jedoch Gutes: Ein Teil des Erlöses geht an soziale Projekte und Tiere eines Begegnungs- und Gnadenhofs (Stiftung Sentana). Außerdem wird das Buch nachhaltig und fair produziert.

Bewertung vom 16.01.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Das Jahr ist noch jung – und hat mir trotzdem schon mein (erstes) literarisches Highlight eingebracht! Das Buch heißt - relativ nichtssagend und doch treffend - "Der Inselmann" und handelt, grob umschrieben, von einer Familie, die auf eine Binneninsel zieht. Eine ausführlichere Inhaltsangabe ist nicht nötig und ich würde sogar empfehlen, einen großen Bogen um eine solche zu machen, damit die Lektüre umso spannender bleibt. Denn obwohl die Ereignisse stets überschaubar bleiben, bieten sie doch einige Wendungen, die umso eindrücklicher ihre Wirkung entfalten, je unvoreingenommener man sich diesem großartigen Roman hingibt.
"Der Inselmann" hat mich schon ab der ersten Seite mit seiner atmosphärischen, dichten Sprache gefesselt. Dass die düstere Grundstimmung nicht aufs Gemüt schlägt, ist einer faszinierenden Leichtigkeit in den Beschreibungen von Naturbeobachtungen und Lebensweisheiten zu verdanken. „Bei seiner Rückkehr hatte die Mutter geschimpft: Wie kann das angehen, hast du schon wieder die Zeit vergessen? Doch es war umgekehrt gewesen: Die Zeit hatte den Jungen vergessen.“ (S. 13) Ich habe manchmal ehrfürchtig den Atem angehalten, weil mich die Wörter so angesprochen, so hineingesogen, so berührt haben.
„Auch diese Geschichte breitet sich aus in konzentrischen Kreisen, im Verschwinden begriffen, in ihrer Mitte ein versunkener Stein. Ist sie traurig? Ist sie schön? Ist sie beides?“ (S. 23)
Ja, diese Geschichte ist definitiv beides.
Sie ist traurig. Die Schicksale der Protagonisten sind berührend, ohne in Rührseligkeiten abzudriften. Besonders wenn es um die Eltern geht, beide auf ihre Weise sprachlos geworden, schwingen auf jeder Zeile verdrängte Traumata mit, ohne dass diese je benannt werden. Der Autor geht mit seinen Figuren sehr sensibel und liebevoll um, er verzichtet auf Schwarz-Weiß-Zeichnungen oder auf Schuldzuweisungen und zeichnet daher nahbare, vielschichte Persönlichkeitsbilder.
Sie ist schön in ihrer beeindruckenden Sprachvirtuosität.
Der Aufbau des Romans hat mich an ein Orchesterwerk erinnert. Den fünf Teilen liegen verschiedene Tempi zugrunde, wobei mir der erste – sehr langsam und intensiv erzählte – am besten gefallen hat. Die Hauptmelodie taucht immer wieder auf, wird abgewandelt, neu interpretiert. Ganze Aussagen erfahren Wiederholungen, neue Themen tauchen wie aus dem Nichts aus und fügen sich doch nahtlos in die Gesamtkomposition ein.
Das Erstaunliche ist, dass die Stille einen großen Raum in diesem musikalisch wirkenden Roman einnimmt. „Die Stille war ein Lied, das lange schon verklungen war.“ (S. 10) „War er seinen Eltern ähnlich? Klang sein Schweigen so wie ihres?“ (S. 153)
Sie ist beides und noch viel mehr.
Eine große Empfehlung für Literaturbegeisterte, die gerne den leisen Dingen nachspüren und den unausgesprochenen Wahrheiten ihr Ohr schenken möchten.

Bewertung vom 16.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


gut

Frank ist vierzehn – das heißt, „noch nicht ganz. Wegen dem knappen Monat, der fehlt, glaube ich, kann ich doch sagen, ich bin vierzehn“ (S. 9) – und wohnt mit seiner Mutter in Wien. Das Leben hat sie zusammengeschweißt, sie sind ein eingespieltes Team.
Doch nun wird Franks Opa aus dem Gefängnis entlassen. Nach 18 Jahren. „Er streckte die Beine von sich und lehnte sich zurück. Er genießt jetzt die Freiheit, dachte ich und überlegte, ob ich nun fragen sollte, warum er so lang im Gefängnis gewesen war. Irgendwann würde ich ihn fragen, warum also nicht gleich. Da sagte er: ‚Und frag mich nicht, warum ich gesessen habe.‘ ‚Tu ich eh nicht‘, sage ich. ‚Und gleich auch nicht, wie es dort war.‘ ‚Tu ich eh nicht‘, sagte ich. ‚Und was fragst du sonst noch?‘ ‚Gar nichts.‘ ‚Kannst du Schach?‘ ‚Eher nicht.‘ ‚Man kann es oder man kann es nicht. Eher nicht kann man es nicht. Also was!‘ ‚Nicht‘, sagte ich.“ (S. 13)
Wie wird sich diese Großvater-Enkel-Beziehung entwickeln? Werden sich die Beiden annähern, obwohl sie sich so völlig fremd sind? Kann Opa die fehlende Vaterfigur ersetzen? Diese Fragestellung trägt den Roman, der chronologisch von Frank in der 1. Person erzählt wird.
Doch er wirft selbstverständlich noch weitere Fragen auf. Fragen zu Strafvollzug und Wiedereingliederung etwa. Zu Schuld. Zu Geständnissen: „Hast du jemals etwas getan, weil du einen Grund dafür gehabt hast? Nicht nur etwas Schlechtes, auch etwas Gutes. War es nicht immer so, wenn du genau nachdenkst, dass du etwas getan hast, und hinterher hast du dir ausgedacht, warum du es getan hast?“ (S. 86)
Köhlmeiers Text glänzt mit solchen Hintergründigkeiten sowie mit Wortwitz, gegen den Strich gebürsteten Dialogen und einer eigensinnigen Erzählweise, die irgendwo zwischen naiv und altklug daherkommt. Aus sprachlicher Sicht war es mir ein Vergnügen, dieses Buch zu lesen.
Inhaltlich hinterlässt dieser Roman jedoch einige Fragezeichen. Schon das Cover – so ansprechend es auch aussieht – beschreibt eine Szenerie, die im Buch so nicht auftaucht und die Erwartungen in eine falsche Richtung lenkt. Unvorhersehbar ist die Story zwar und damit auch relativ spannend – aber leider in ihrer Entwicklung nicht gänzlich nachvollziehbar. Stattdessen driftet sie je länger desto mehr ins Abstruse ab.
So wirkt das Ende leider verwirrend und unfertig, und das, obwohl die letzte Szene eigentlich Potenzial gehabt hätte, einen bleibenden, aufwühlenden Eindruck zu hinterlassen.
Was mich jedoch an „Frankie“ absolut gestört hat, ist Frankie selbst. Dass seine Denk- und Ausdrucksweise eher angestaubt daherkommt und nicht zu einem 14jährigen passen, hätte ich dem Autor noch verzeihen können, weil sie trotz dieses Mankos einfach Spaß machen. Doch seine Lebensgestaltung ist so was von neben der Zeit gezeichnet, dass es ins Lächerliche kippt. Handys sind vorhanden, Frank jedoch bedient Fernseher und Radio. Ok, es gab ja noch eine Zeit vor den Smartphones. Aber er recherchiert mit Wikipedia, ergo müsste wenigstens ein PC im Haus sein, den Frank jedoch nur für diesen Zweck zu nutzen scheint. Hallo? Ein Jugendlicher, der Internet hat und lieber im Fernsehen Tierdokus guckt? Der „im Netz“ nach einem Rezept für Kohlrabi sucht, sich jedoch kein einziges YouTube-Video anklickt. Hä??? Es tut mir leid, aber Frankie wirkt so, als würde Köhlmeier (Jahrgang 1949) über seine eigene Jugend berichten, der er einen pseudo-modernen Anstrich verpasst hat. Den Frank, den Köhlmeier beschreibt, ist ganz sicher kein Teenie des 21. Jahrhunderts.
Diese fehlende bzw. irregeleitete zeitliche Verortung nimmt ausgerechnet den zeitlosen Wahrheiten ihre Strahlkraft. „Verantwortung kommt vor der Schuld. Wenn jemand Verantwortung hat und ihr nicht nachkommt, kann das zu einer Schuld führen.“ (S. 115)

Bewertung vom 17.12.2022
Pups! Wer war's?
Henson, Mike

Pups! Wer war's?


sehr gut

Das Buch mit dem Titel „Pups – Wer war’s?“ hat hier sowohl bei Tochter als auch bei Mutter für große Vorfreude gesorgt.
Tochter so: Pupsi, hihi, will haben!
Mutter so: Wunderbar knallige Farben und witzige Figuren, sehr ansprechend!
Das Buch besticht erst einmal durch eine hochwertige, sehr robuste Verarbeitung und eine tolle Haptik. Die Pappseiten sind mehrschichtig aufgebaut, dadurch sind Schiebelemente sowohl leichtgängig als auch schön stabil.
Das Buch erzählt mit flächigen Illustrationen von einer Schar Tiere, die sich auf dem Weg zum Büro in den Lift drängt. Doch da pupst jemand! Und es stinkt furchtbar! Wer könnte das gewesen sein?
Die Idee für die Geschichte ist witzig, doch leider verflacht die Story, weil immer mehr Tiere den Lift verlassen. Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass das Konzept mit den Büro-Tieren, die Aktenkoffer bei sich tragen und z.B. auf dem Kopierer Pause machen, eher die Erwachsenen anspricht. Für Kinder funktioniert sie nicht wirklich, da sich diese Lebenswelt von der ihren dann doch ziemlich unterscheidet. Einige Gags und auch die Auflösung der Story hat meine Tochter gar nicht oder nur halb verstanden.
Die Altersangabe ab 2 Jahre halte ich für zu niedrig. Meine Tochter ist 4 und hatte ihren größten Spaß – wie erwartet – an den Schiebeteilen und am Gepupse. Weder die Tiere (deren Mimik ich wiederum köstlich fand) noch die Story konnten sie nachhaltig fesseln.
Die Reime fand ich zum Vorlesen nicht immer flüssig.
Alles in allem nett für einige lustige Eltern-Kind-Momente, wobei diese wahrscheinlich nicht über die gleichen Dinge lachen werden.

Bewertung vom 24.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


ausgezeichnet

Stefanie vor Schulte hat sich in ihrem zweiten Werk eines schwierigen und unliebsamen Themas angenommen: Trauerarbeit. Sie erschafft ungewöhnliche, wirkungsvolle, teilweise verstörende, irrwitzige Bilder, die aufzeigen, wie unterschiedlich die einzelnen Menschen trauern.
Und sie erinnert uns an die Kraft des Erinnerns. „Was von einem übrigbleibt, kann nicht laut genug von der Fülle erzählen, die man gegeben hat. Es hat ein großes Gefühl gegeben. Und groß soll es bleiben. Da ist es unerheblich, ob die Erinnerung mit der Vergangenheit übereinstimmt.“ (S. 74)

Familie Mohn gelingt es mit Hilfe von anderen kantigen Persönlichkeiten, die selbst Verluste erfahren haben, neue Erinnerungen an Johanne zu erschaffen. Das, was die Allgemeinheit als richtig ansieht, damit zu Übertölpeln.
Dabei hebelt die Erzählung selbst aus, was die Allgemeinheit als richtig und logisch ansieht. Sie driftet immer wieder ins Surreale ab. „Das Haus hat sich zur Seite geneigt. Vielleicht fließt deswegen das ganze Pech wieder hinaus.“ (S. 209)
Hier brodelt es nur so von Fantasie und Bildgewalt – und doch bleiben auch die traumhaften, allegorischen Sequenzen immer mit dem Grundthema und den Charakteren verbunden.

„Schlangen im Garten“ ist definitiv kein gefälliges 08/15-Buch. Wer eine stringente Handlung benötigt, sollte eher die Finger davon lassen. Wer mit dem bildhaften Stil nicht klarkommt (Leseprobe hilft), auch.

In meinen Augen passt jedoch all das Außergewöhnliche - Schreibstil, Charaktere, surreale Elemente, Anliegen - hier wunderbar zusammen, es ergänzt sich, wirkt umso intensiver, macht es unvergesslich.

Überzeugt hat mich auf jeden Fall die sprachliche Umsetzung; die Satzstellungen teils ungewöhnlich, einen leicht antiquierten Sound verbreitend und doch durchgängig treffend. Ich komme mit dem Markieren bemerkenswerter, bedenkenswürdiger und schöner Sätze kaum hinterher.
Für mich ein Jahreshighlight!

Bewertung vom 22.07.2022
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Bervoets, Hanna

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gut

Das bunte Cover hat auf mich eine geradezu magische Wirkung ausgeübt und nach der Leseprobe wusste ich, dass ich dieses Buch unbedingt lesen muss!

Die niederländische Schriftstellerin Hanna Bervoets nimmt die Lesenden direkt hinein in die Arbeitswelt von Hexa. Hier sind die Angestellten dafür verantwortlich, die gemeldeten Beiträge einer Internetplattform zu sichten und auszuwerten, ob sie gelöscht werden müssen. Somit sind sie tagtäglich nicht nur harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt, sondern auch permanent mit Gewalt in all ihren Formen konfrontiert: egal ob es sich um Beleidigungen, Selbstzerstümmelung, Tierquälerei oder sexuelle Anstößigkeit handelt, jeder Clip muss komplett geschaut werden, denn vielleicht taucht ja am Ende doch noch ein Nippel auf…

Bervoets veranschaulicht diesen visuellen Terror unzensiert und ungeschönt; man sollte also für diese Lektüre nicht allzu zart besaitet oder vorbelastet sein. Auch als Klassenlektüre würde ich sie nicht empfehlen, obwohl das aktuelle Thema als auch die Kürze dieses Werkes wie dafür gemacht scheint.
Wer gegenüber solchen Beschreibungen, die ja leider auf Tatsachen beruhen, eine gewisse Distanz wahren kann, wird allerdings einen „Knalleffekt“ erleben. Ich zumindest darf behaupten, dass mich dieses Buch streckenweise wirklich erschüttert hat und zwar auf einer viel tieferen Ebene, als dies z.B. bei „Die Kinder sind Könige“ der Fall war.

Es ist eine Ex-Hexa-Mitarbeiterin namens Kayleigh, die uns so direkte Einblicke hinter die Kulissen der schönen Online-Welt gibt.
Diese schreibt einem Anwalt, der eine Klage gegen Hexa erwirken will, warum sie sich ihren ehemaligen Kollegen nicht anschließt – als Lesende verfolge ich beinahe atemlos ihren Ausführungen und will natürlich wissen, was sie davon abhält. Ich erwarte dabei, dass sie eine schlüssige Story zu erzählen weiß, eine, die sowohl mich als auch einen Anwalt zu überzeugen weiß. Doch diese kommt nicht.
Denn Kayleigh argumentiert über die Liebesstory, die sich zwischen ihr und Sigrid, einer weiteren Hexa-Mitarbeiterin, anbahnt; eine natürlich vorbelastete, eine, die wohl in der Figur von Sigrid die Auswirkungen der Content-Moderatoren-Arbeit auf das Privatleben darlegen sollte. Doch leider verliert sie sich immer mehr in einer lau erzählten Beziehungsgeschichte.
Die Wendungen, die dann alles erklären sollen, setzen zwar wieder auf Knalleffekt, wirken aber nur wie zerplatzende Seifenblasen. Und gipfeln schließlich in einem jeglicher Logik spottenden Ende, das plötzlich keinen Anwalt Stitic mehr anspricht und mich verloren und einsam im Regen stehen lässt. Unfassbar. Als wäre die Farbkartusche des Druckers leergefahren und die Autorin hätte einfach keine Lust mehr gehabt, sich für ein paar abschließende Worte eine neue zu kaufen.
- Oder wurde das letzte Kapitel entfernt wie ein zensiertes Video?!

Ich muss zugeben: ich bin tief entsetzt.
Entsetzt darüber, wie die Arbeit von Kayleigh, Sigrid, Kyo, Robert & Co. aussieht und was sie mit ihnen macht. (Im Quellenverzeichnis wird sogar auf vertiefende Literatur / Dokumentarfilme hingewiesen.)
Aber ebenso entsetzt, wie man einen so gut recherchierten Roman zu einer brisanten Thematik so schrecklich in den Sand setzen kann.

Für einen 5-Sterne-Beginn mit 1-Sterne-Ende bleibt leider nur ein 3-Sterne-Durchschnitt übrig.

Bewertung vom 22.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


sehr gut

"Mein Vater war Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde. Ich hatte schon als Kind auf der Kanzel gespielt, von der er eines Tages verkünden würde, wer ihm nachfolgen sollte. Dass ich das sein könnte, wünschten meine Eltern sich schon lange. (…) „Ich muss erst den Kopf frei kriegen“, sagte ich, „bevor ich gleich eine ganze Gemeinde übernehme.“ Mein Vater nickte etwas heftiger als nötig, dem Sekt geschuldet oder der Erleichterung, dass er nicht sofort in Rente gehen musste. „Du sagst Bescheid, wenn du so weit bist.“ Ich nickte, aber das war jetzt ein Jahr her, und mein Kopf war immer noch nicht frei. Und jetzt war der Schöpfer des Himmels und der Erden mir zuvorgekommen und hatte die Arbeit für mich erledigt. Gott hatte den Platz geräumt…" (S. 10)

Als bei Elke, 30 Jahre, abgeschlossenes Theologiestudium, liiert, eine selbstdiagnostizierte Gottdemenz eintritt und sie ihren Job im Altersheim verliert, scheint ihr sowieso schon wackeliges Leben ihr vollständig zu entgleiten...
Sie legt immer merkwürdigere Verhaltensweisen an den Tag, fährt zu ihren Eltern in den Norden, hilft beim Aufräumen der Wohnung der alten Nachbarin, kehrt mit Papagei nach Köln zurück, schließt sich einer Truppe Steilwand-Motorradfahrer an und zieht schließlich eine Spur beziehungstechnischer Verwüstung hinter sich her, die sie wieder zurück in ihre alte Heimat zwingt.

Es ist nicht nur eine Suche nach Gott, die Tamar Noort in ihrem Romandebüt bildreich abhandelt, sondern ein junges Leben, das ziel- und haltlos umherwankt. Auch die Lesenden werden dabei so unbarmherzig zwischen den Launen der Protagonistin hin- und hergeworfen, dass ein bisschen Übelkeit durchaus dazugehört. Ich jedenfalls war spätestens in der Mitte des Buches von der egozentrischen und luxusverweichlichten Art Elkes so brutal genervt, dass ich sie nur noch ungerne weiter begleitet habe.

Dem über weite Strecken unspektakulär dahintröpfelnden Plot und einer eher unbequem-unsympathischen Hauptfigur setzt die Autorin jedoch eine wunderbare Sprache entgegen. Diese ist klar, flüssig, authentisch und wird stets von einem ironischen Unterton getragen, so dass es immer wieder auch Momente zum Schmunzeln gibt. "Aus Hoch Bodo wurde Hoch Christof. Das Gewitter blieb aus, das Land schwitzte weiter unter anderem Namen, und ich blieb liegen." (S. 52) Außerdem sorgen scharfe Beobachtungen für eine tragende Symbolkraft. "Er machte das Deckenlicht an, und das Tier wirkte wie angeknipst, es surrte auf das Licht zu, als gäbe es eine unsichtbare Schnur zwischen ihm und der Lampe. (…) Langsam zehrte sie sich auf, sie verbrannte, aber sie wurde nicht leiser, sie wurde lauter. Sie strengte sich immer mehr an, als müsste sie sich einfach mehr Mühe geben, damit sie noch näher herankäme an die Quelle des Lichts. Die Hornisse versuchte, das Licht zu umarmen, und dann wurde es still." (S. 45)

Trotz der kirchlichen Thematik verwendet die Autorin ein weltliches Vokabular und konzentriert sich ganz auf die psychologischen Aspekte ihrer Figuren. Damit ist diese Lektüre auch für kirchen- und gottfremde Lesende geeignet. Ich als gläubige Person habe ich mich allerdings doch auch an einigen Darstellungen gerieben, vor allem an dem Umstand, dass die Religion nur als ein Baustein in einer erschreckend ich-betonten Lebensweise fungiert.

Das Ende hat mich mit dieser Ansicht jedoch wieder etwas ausgesöhnt. Elke findet einen Weg zu ihrer Vergangenheit, zu sich, zu einer Aufgabe, zu einer Hoffnung. Und das ohne bemühtes Pathos oder eine überbeanspruchte All-inclusive-Lösung. "Es ist ein Riss in allem, so kommt das Licht herein." (S. 296).

Diese eigenwillige Geschichte einer Selbstfindung legt schonungslos die Schwächen und die Stärken ihrer sehr menschlichen Hauptfigur dar und überzeugt vor allem sprachlich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2022
Sonne, Mond und Sterne / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.72
Mennen, Patricia

Sonne, Mond und Sterne / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.72


ausgezeichnet

„Sonne, Mond und Sterne“ ist ein Sachbuch, das speziell für die Kleinsten (Altersangabe des Verlags: 2 bis 4 Jahre) konzipiert wurde. Dies merkt man schon ab der ersten Seite. Denn wo sich andere Kinderbücher zu diesem Thema mit Umlaufbahnen, Raketentechnik und Weltraumnahrung beschäftigen, liegt der Schwerpunkt hier auf dem alltäglichen Erleben: am Abend wird es dunkel – aber warum? Wieso brauchen wir die Sonne? Erst nach dieser sehr praxisorientierten Einführung wird auch (relativ kurz) die Erforschung und Erschließung des Weltraums angesprochen.
Meine 4jährige Tochter ist ein großer Fan der „Wieso? Weshalb? Warum?“-Reihe, die sowohl mit interessanten Klappenelementen als auch mit bunten, detailreichen und realitätsnahen Illustrationen punktet.
An diesem Buch gefällt ihr am besten die Doppelseite mit den Planeten, die hier als Bastelarbeit in Form eines Mobiles gezeigt und benannt werden. (Beachtenswert: Obwohl die Planeten eine eher abstrakte Materie sind, wird auf diese Weise doch wieder ein direkter Bezug zum (Kindergarten-) Alltag eines Kleinkindes hergestellt.)
Ich als Mutter (mit pädagogischer Ausbildung) bin nicht nur begeistert davon, dass hier Wissen spannend und unterhaltsam vermittelt wird, sondern dass in diesem Buch ganz gezielt das „Weiterdenken“ gefördert wird, da die Bilder oft mehr Informationen enthalten, als der Text hergibt. Wer also genau beobachtet, wird neue Fragen stellen – und neue Antworten erhalten.
Das gilt auch für das Rätsel auf der letzten Seite, bei dem Sternbilder zugeordnet werden sollen: es steht keine eindeutige Ruck-Zuck-Lösung dabei, das Kind muss schon von selbst draufkommen, dass die kaum sichtbaren, jedoch fühlbaren (!) Umrisse helfen, die richtigen Paare zu finden.
Somit ist „Sonne, Mond und Sterne“ kein Einmal-Durchgucken-und-Fertig-Buch, sondern animiert immer wieder aufs Neue, mehr zu entdecken: sei es hinter den Klappen, sei es in irgendwelchen Details der Illustrationen oder sei es direkt am Nachthimmel! Große Klasse!

Bewertung vom 23.06.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


ausgezeichnet

Was, wenn es Leben außerhalb der Erde gäbe? Was, wenn Außerirdische auf unseren Planeten kommen würden? Wie würden sie aussehen? Was wären ihre Absichten? – Während die Unterhaltungsindustrie sich schon ausgiebig an diesem Thema versucht hat und sich sowohl gefährlichen feindlichen Angriffen gewidmet hat als auch skurillen, jedoch liebenswürdigen und moralisch oft höherstehenden Lebensformen, öffnet der bereits verstorbene amerikanische Autor Walter Tevis hier noch eine weitere Schublade, eine insgesamt weniger spektakuläre, aber doch bestechende: Was, wenn sie uns ähnlicher wären als angenommen?!
Der von Anthea stammende Mann, der sich fortan Thomas Jerome Newton nennt, fällt in einer unwirtlichen Gegend in Kentucky vom Himmel. Er kaschiert seine andersartigen Äußerlichkeiten und versucht, nicht aufzufallen. „(Er war) krank vor Sorge, der Vorahnung einer Katastrophe, und gebeutelt von der entsetzlichen Last seines eigenen Gewichts. Seit Jahren hatte er gewusst, dass er so etwas wie das hier spüren würde, wenn der Augenblick gekommen war, wenn er endlich gelandet wäre und anfinge, den komplexen, seit Langem vorbereiteten Plan umzusetzen. Diese Welt, wie intensiv er sie auch studiert, wie oft er seinen Part darin geprobt haben mochte, war so unglaublich exotisch, das Gefühl, jetzt, da er fühlen konnte, dieses Gefühl war einfach überwältigend. Er lag im Gras und übergab sich.“ (S. 15)
Der erste Teil der (anfänglich nicht bekannten) Mission dieses seltsamen Mannes besteht darin, möglichst viel Geld anzuhäufen, was ihm auch schnell gelingt. Doch dann tauchen erste Schwierigkeiten auf; Newton entdeckt den Alkohol, der ihn in immer tiefere Sinnkrisen stürzt. Und die Erdmenschen, die auf seine auffälligen intellektuellen Fähigkeiten aufmerksam werden, fragen sich, mit wem sie es hier eigentlich zu tun haben. „… wer wusste schon, was für ein Mensch er war? (…) In diesem Moment schien fast alles möglich; und er fand es keineswegs absurd, dass er, Nathan Bryce, mit einem Marsmenschen Wein trank und Käse aß. Warum auch nicht? (…) Er musterte ihn erneut. Newton fing seinen Blick auf und lächelte ernst. Vom Mars? Wahrscheinlich kam er aus Litauen oder Massachusetts.“ (S. 120) Doch was, wenn er wirklich ein Außerirdischer wäre? Was wären seine Absichten? Warum ist er auf der Erde gelandet?
Da „Das Damengambit“ zu meinen Lesehighlights 2021 zählt, war ich sehr gespannt auf ein weiteres Werk von Tevis, das er bereits 1963 geschrieben hatte und nun in einer (übrigens sehr gelungenen) Neuübersetzung frisch aufgelegt wird.
Obwohl es in diesem Fall nicht um Schach geht, erfindet Tevis ein weiteres Wunderkind, das mit Abhängigkeit und Heimatlosigkeit zu kämpfen hat. Es gelingt ihm auch hier problemlos, komplexe Vorgänge und psychologische Feinheiten auf eine allgemein verständliche Art herunterzubrechen. Seine Charaktere sind plastisch gestaltet, der Schreibstil reichhaltig und angenehm flüssig.
Allerdings war ich vom „Mann, der vom Himmel fiel“ nicht ganz so gefesselt wie von der schachspielenden Beth; im Mittelteil gibt es doch ein paar langatmigere Stellen, die wenig zum Fortlauf der Geschichte beitragen.
Die versprochenen philosophischen Anklänge finden sich fast ausschließlich im letzten Drittel des Buches; hier zündet der zurecht hochgelobte Autor gleich mehrere Feuerwerke mit intelligenten Dialogen und unvorhersehbaren Ereignissen, ohne jedoch in gekünstelte Überdramatik zu verfallen.
So bleibt am Ende auch keine rosa Wolke guten Gefühls zurück; im Gegenteil, es bleibt offen. Es ist furchtbar ärgerlich und genau deswegen so unheimlich gekonnt, dass ich deswegen meine 4,5 Sterne auf volle 5 aufrunde.
Denn damit gelingt es Walter Tevis, einen eindrücklichen Nachhall auszulösen und ich bin sicher: auch „Der Mann, der vom Himmel fiel“ wird zu den Charakteren gehören, die ich so schnell nicht vergessen werde!