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angie99
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dawo

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Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 24.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


ausgezeichnet

Stefanie vor Schulte hat sich in ihrem zweiten Werk eines schwierigen und unliebsamen Themas angenommen: Trauerarbeit. Sie erschafft ungewöhnliche, wirkungsvolle, teilweise verstörende, irrwitzige Bilder, die aufzeigen, wie unterschiedlich die einzelnen Menschen trauern.
Und sie erinnert uns an die Kraft des Erinnerns. „Was von einem übrigbleibt, kann nicht laut genug von der Fülle erzählen, die man gegeben hat. Es hat ein großes Gefühl gegeben. Und groß soll es bleiben. Da ist es unerheblich, ob die Erinnerung mit der Vergangenheit übereinstimmt.“ (S. 74)

Familie Mohn gelingt es mit Hilfe von anderen kantigen Persönlichkeiten, die selbst Verluste erfahren haben, neue Erinnerungen an Johanne zu erschaffen. Das, was die Allgemeinheit als richtig ansieht, damit zu Übertölpeln.
Dabei hebelt die Erzählung selbst aus, was die Allgemeinheit als richtig und logisch ansieht. Sie driftet immer wieder ins Surreale ab. „Das Haus hat sich zur Seite geneigt. Vielleicht fließt deswegen das ganze Pech wieder hinaus.“ (S. 209)
Hier brodelt es nur so von Fantasie und Bildgewalt – und doch bleiben auch die traumhaften, allegorischen Sequenzen immer mit dem Grundthema und den Charakteren verbunden.

„Schlangen im Garten“ ist definitiv kein gefälliges 08/15-Buch. Wer eine stringente Handlung benötigt, sollte eher die Finger davon lassen. Wer mit dem bildhaften Stil nicht klarkommt (Leseprobe hilft), auch.

In meinen Augen passt jedoch all das Außergewöhnliche - Schreibstil, Charaktere, surreale Elemente, Anliegen - hier wunderbar zusammen, es ergänzt sich, wirkt umso intensiver, macht es unvergesslich.

Überzeugt hat mich auf jeden Fall die sprachliche Umsetzung; die Satzstellungen teils ungewöhnlich, einen leicht antiquierten Sound verbreitend und doch durchgängig treffend. Ich komme mit dem Markieren bemerkenswerter, bedenkenswürdiger und schöner Sätze kaum hinterher.
Für mich ein Jahreshighlight!

Bewertung vom 22.07.2022
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Bervoets, Hanna

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gut

Das bunte Cover hat auf mich eine geradezu magische Wirkung ausgeübt und nach der Leseprobe wusste ich, dass ich dieses Buch unbedingt lesen muss!

Die niederländische Schriftstellerin Hanna Bervoets nimmt die Lesenden direkt hinein in die Arbeitswelt von Hexa. Hier sind die Angestellten dafür verantwortlich, die gemeldeten Beiträge einer Internetplattform zu sichten und auszuwerten, ob sie gelöscht werden müssen. Somit sind sie tagtäglich nicht nur harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt, sondern auch permanent mit Gewalt in all ihren Formen konfrontiert: egal ob es sich um Beleidigungen, Selbstzerstümmelung, Tierquälerei oder sexuelle Anstößigkeit handelt, jeder Clip muss komplett geschaut werden, denn vielleicht taucht ja am Ende doch noch ein Nippel auf…

Bervoets veranschaulicht diesen visuellen Terror unzensiert und ungeschönt; man sollte also für diese Lektüre nicht allzu zart besaitet oder vorbelastet sein. Auch als Klassenlektüre würde ich sie nicht empfehlen, obwohl das aktuelle Thema als auch die Kürze dieses Werkes wie dafür gemacht scheint.
Wer gegenüber solchen Beschreibungen, die ja leider auf Tatsachen beruhen, eine gewisse Distanz wahren kann, wird allerdings einen „Knalleffekt“ erleben. Ich zumindest darf behaupten, dass mich dieses Buch streckenweise wirklich erschüttert hat und zwar auf einer viel tieferen Ebene, als dies z.B. bei „Die Kinder sind Könige“ der Fall war.

Es ist eine Ex-Hexa-Mitarbeiterin namens Kayleigh, die uns so direkte Einblicke hinter die Kulissen der schönen Online-Welt gibt.
Diese schreibt einem Anwalt, der eine Klage gegen Hexa erwirken will, warum sie sich ihren ehemaligen Kollegen nicht anschließt – als Lesende verfolge ich beinahe atemlos ihren Ausführungen und will natürlich wissen, was sie davon abhält. Ich erwarte dabei, dass sie eine schlüssige Story zu erzählen weiß, eine, die sowohl mich als auch einen Anwalt zu überzeugen weiß. Doch diese kommt nicht.
Denn Kayleigh argumentiert über die Liebesstory, die sich zwischen ihr und Sigrid, einer weiteren Hexa-Mitarbeiterin, anbahnt; eine natürlich vorbelastete, eine, die wohl in der Figur von Sigrid die Auswirkungen der Content-Moderatoren-Arbeit auf das Privatleben darlegen sollte. Doch leider verliert sie sich immer mehr in einer lau erzählten Beziehungsgeschichte.
Die Wendungen, die dann alles erklären sollen, setzen zwar wieder auf Knalleffekt, wirken aber nur wie zerplatzende Seifenblasen. Und gipfeln schließlich in einem jeglicher Logik spottenden Ende, das plötzlich keinen Anwalt Stitic mehr anspricht und mich verloren und einsam im Regen stehen lässt. Unfassbar. Als wäre die Farbkartusche des Druckers leergefahren und die Autorin hätte einfach keine Lust mehr gehabt, sich für ein paar abschließende Worte eine neue zu kaufen.
- Oder wurde das letzte Kapitel entfernt wie ein zensiertes Video?!

Ich muss zugeben: ich bin tief entsetzt.
Entsetzt darüber, wie die Arbeit von Kayleigh, Sigrid, Kyo, Robert & Co. aussieht und was sie mit ihnen macht. (Im Quellenverzeichnis wird sogar auf vertiefende Literatur / Dokumentarfilme hingewiesen.)
Aber ebenso entsetzt, wie man einen so gut recherchierten Roman zu einer brisanten Thematik so schrecklich in den Sand setzen kann.

Für einen 5-Sterne-Beginn mit 1-Sterne-Ende bleibt leider nur ein 3-Sterne-Durchschnitt übrig.

Bewertung vom 22.07.2022
Die Ewigkeit ist ein guter Ort
Noort, Tamar

Die Ewigkeit ist ein guter Ort


sehr gut

"Mein Vater war Pastor einer evangelischen Kirchengemeinde. Ich hatte schon als Kind auf der Kanzel gespielt, von der er eines Tages verkünden würde, wer ihm nachfolgen sollte. Dass ich das sein könnte, wünschten meine Eltern sich schon lange. (…) „Ich muss erst den Kopf frei kriegen“, sagte ich, „bevor ich gleich eine ganze Gemeinde übernehme.“ Mein Vater nickte etwas heftiger als nötig, dem Sekt geschuldet oder der Erleichterung, dass er nicht sofort in Rente gehen musste. „Du sagst Bescheid, wenn du so weit bist.“ Ich nickte, aber das war jetzt ein Jahr her, und mein Kopf war immer noch nicht frei. Und jetzt war der Schöpfer des Himmels und der Erden mir zuvorgekommen und hatte die Arbeit für mich erledigt. Gott hatte den Platz geräumt…" (S. 10)

Als bei Elke, 30 Jahre, abgeschlossenes Theologiestudium, liiert, eine selbstdiagnostizierte Gottdemenz eintritt und sie ihren Job im Altersheim verliert, scheint ihr sowieso schon wackeliges Leben ihr vollständig zu entgleiten...
Sie legt immer merkwürdigere Verhaltensweisen an den Tag, fährt zu ihren Eltern in den Norden, hilft beim Aufräumen der Wohnung der alten Nachbarin, kehrt mit Papagei nach Köln zurück, schließt sich einer Truppe Steilwand-Motorradfahrer an und zieht schließlich eine Spur beziehungstechnischer Verwüstung hinter sich her, die sie wieder zurück in ihre alte Heimat zwingt.

Es ist nicht nur eine Suche nach Gott, die Tamar Noort in ihrem Romandebüt bildreich abhandelt, sondern ein junges Leben, das ziel- und haltlos umherwankt. Auch die Lesenden werden dabei so unbarmherzig zwischen den Launen der Protagonistin hin- und hergeworfen, dass ein bisschen Übelkeit durchaus dazugehört. Ich jedenfalls war spätestens in der Mitte des Buches von der egozentrischen und luxusverweichlichten Art Elkes so brutal genervt, dass ich sie nur noch ungerne weiter begleitet habe.

Dem über weite Strecken unspektakulär dahintröpfelnden Plot und einer eher unbequem-unsympathischen Hauptfigur setzt die Autorin jedoch eine wunderbare Sprache entgegen. Diese ist klar, flüssig, authentisch und wird stets von einem ironischen Unterton getragen, so dass es immer wieder auch Momente zum Schmunzeln gibt. "Aus Hoch Bodo wurde Hoch Christof. Das Gewitter blieb aus, das Land schwitzte weiter unter anderem Namen, und ich blieb liegen." (S. 52) Außerdem sorgen scharfe Beobachtungen für eine tragende Symbolkraft. "Er machte das Deckenlicht an, und das Tier wirkte wie angeknipst, es surrte auf das Licht zu, als gäbe es eine unsichtbare Schnur zwischen ihm und der Lampe. (…) Langsam zehrte sie sich auf, sie verbrannte, aber sie wurde nicht leiser, sie wurde lauter. Sie strengte sich immer mehr an, als müsste sie sich einfach mehr Mühe geben, damit sie noch näher herankäme an die Quelle des Lichts. Die Hornisse versuchte, das Licht zu umarmen, und dann wurde es still." (S. 45)

Trotz der kirchlichen Thematik verwendet die Autorin ein weltliches Vokabular und konzentriert sich ganz auf die psychologischen Aspekte ihrer Figuren. Damit ist diese Lektüre auch für kirchen- und gottfremde Lesende geeignet. Ich als gläubige Person habe ich mich allerdings doch auch an einigen Darstellungen gerieben, vor allem an dem Umstand, dass die Religion nur als ein Baustein in einer erschreckend ich-betonten Lebensweise fungiert.

Das Ende hat mich mit dieser Ansicht jedoch wieder etwas ausgesöhnt. Elke findet einen Weg zu ihrer Vergangenheit, zu sich, zu einer Aufgabe, zu einer Hoffnung. Und das ohne bemühtes Pathos oder eine überbeanspruchte All-inclusive-Lösung. "Es ist ein Riss in allem, so kommt das Licht herein." (S. 296).

Diese eigenwillige Geschichte einer Selbstfindung legt schonungslos die Schwächen und die Stärken ihrer sehr menschlichen Hauptfigur dar und überzeugt vor allem sprachlich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.06.2022
Sonne, Mond und Sterne / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.72
Mennen, Patricia

Sonne, Mond und Sterne / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.72


ausgezeichnet

„Sonne, Mond und Sterne“ ist ein Sachbuch, das speziell für die Kleinsten (Altersangabe des Verlags: 2 bis 4 Jahre) konzipiert wurde. Dies merkt man schon ab der ersten Seite. Denn wo sich andere Kinderbücher zu diesem Thema mit Umlaufbahnen, Raketentechnik und Weltraumnahrung beschäftigen, liegt der Schwerpunkt hier auf dem alltäglichen Erleben: am Abend wird es dunkel – aber warum? Wieso brauchen wir die Sonne? Erst nach dieser sehr praxisorientierten Einführung wird auch (relativ kurz) die Erforschung und Erschließung des Weltraums angesprochen.
Meine 4jährige Tochter ist ein großer Fan der „Wieso? Weshalb? Warum?“-Reihe, die sowohl mit interessanten Klappenelementen als auch mit bunten, detailreichen und realitätsnahen Illustrationen punktet.
An diesem Buch gefällt ihr am besten die Doppelseite mit den Planeten, die hier als Bastelarbeit in Form eines Mobiles gezeigt und benannt werden. (Beachtenswert: Obwohl die Planeten eine eher abstrakte Materie sind, wird auf diese Weise doch wieder ein direkter Bezug zum (Kindergarten-) Alltag eines Kleinkindes hergestellt.)
Ich als Mutter (mit pädagogischer Ausbildung) bin nicht nur begeistert davon, dass hier Wissen spannend und unterhaltsam vermittelt wird, sondern dass in diesem Buch ganz gezielt das „Weiterdenken“ gefördert wird, da die Bilder oft mehr Informationen enthalten, als der Text hergibt. Wer also genau beobachtet, wird neue Fragen stellen – und neue Antworten erhalten.
Das gilt auch für das Rätsel auf der letzten Seite, bei dem Sternbilder zugeordnet werden sollen: es steht keine eindeutige Ruck-Zuck-Lösung dabei, das Kind muss schon von selbst draufkommen, dass die kaum sichtbaren, jedoch fühlbaren (!) Umrisse helfen, die richtigen Paare zu finden.
Somit ist „Sonne, Mond und Sterne“ kein Einmal-Durchgucken-und-Fertig-Buch, sondern animiert immer wieder aufs Neue, mehr zu entdecken: sei es hinter den Klappen, sei es in irgendwelchen Details der Illustrationen oder sei es direkt am Nachthimmel! Große Klasse!

Bewertung vom 23.06.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


ausgezeichnet

Was, wenn es Leben außerhalb der Erde gäbe? Was, wenn Außerirdische auf unseren Planeten kommen würden? Wie würden sie aussehen? Was wären ihre Absichten? – Während die Unterhaltungsindustrie sich schon ausgiebig an diesem Thema versucht hat und sich sowohl gefährlichen feindlichen Angriffen gewidmet hat als auch skurillen, jedoch liebenswürdigen und moralisch oft höherstehenden Lebensformen, öffnet der bereits verstorbene amerikanische Autor Walter Tevis hier noch eine weitere Schublade, eine insgesamt weniger spektakuläre, aber doch bestechende: Was, wenn sie uns ähnlicher wären als angenommen?!
Der von Anthea stammende Mann, der sich fortan Thomas Jerome Newton nennt, fällt in einer unwirtlichen Gegend in Kentucky vom Himmel. Er kaschiert seine andersartigen Äußerlichkeiten und versucht, nicht aufzufallen. „(Er war) krank vor Sorge, der Vorahnung einer Katastrophe, und gebeutelt von der entsetzlichen Last seines eigenen Gewichts. Seit Jahren hatte er gewusst, dass er so etwas wie das hier spüren würde, wenn der Augenblick gekommen war, wenn er endlich gelandet wäre und anfinge, den komplexen, seit Langem vorbereiteten Plan umzusetzen. Diese Welt, wie intensiv er sie auch studiert, wie oft er seinen Part darin geprobt haben mochte, war so unglaublich exotisch, das Gefühl, jetzt, da er fühlen konnte, dieses Gefühl war einfach überwältigend. Er lag im Gras und übergab sich.“ (S. 15)
Der erste Teil der (anfänglich nicht bekannten) Mission dieses seltsamen Mannes besteht darin, möglichst viel Geld anzuhäufen, was ihm auch schnell gelingt. Doch dann tauchen erste Schwierigkeiten auf; Newton entdeckt den Alkohol, der ihn in immer tiefere Sinnkrisen stürzt. Und die Erdmenschen, die auf seine auffälligen intellektuellen Fähigkeiten aufmerksam werden, fragen sich, mit wem sie es hier eigentlich zu tun haben. „… wer wusste schon, was für ein Mensch er war? (…) In diesem Moment schien fast alles möglich; und er fand es keineswegs absurd, dass er, Nathan Bryce, mit einem Marsmenschen Wein trank und Käse aß. Warum auch nicht? (…) Er musterte ihn erneut. Newton fing seinen Blick auf und lächelte ernst. Vom Mars? Wahrscheinlich kam er aus Litauen oder Massachusetts.“ (S. 120) Doch was, wenn er wirklich ein Außerirdischer wäre? Was wären seine Absichten? Warum ist er auf der Erde gelandet?
Da „Das Damengambit“ zu meinen Lesehighlights 2021 zählt, war ich sehr gespannt auf ein weiteres Werk von Tevis, das er bereits 1963 geschrieben hatte und nun in einer (übrigens sehr gelungenen) Neuübersetzung frisch aufgelegt wird.
Obwohl es in diesem Fall nicht um Schach geht, erfindet Tevis ein weiteres Wunderkind, das mit Abhängigkeit und Heimatlosigkeit zu kämpfen hat. Es gelingt ihm auch hier problemlos, komplexe Vorgänge und psychologische Feinheiten auf eine allgemein verständliche Art herunterzubrechen. Seine Charaktere sind plastisch gestaltet, der Schreibstil reichhaltig und angenehm flüssig.
Allerdings war ich vom „Mann, der vom Himmel fiel“ nicht ganz so gefesselt wie von der schachspielenden Beth; im Mittelteil gibt es doch ein paar langatmigere Stellen, die wenig zum Fortlauf der Geschichte beitragen.
Die versprochenen philosophischen Anklänge finden sich fast ausschließlich im letzten Drittel des Buches; hier zündet der zurecht hochgelobte Autor gleich mehrere Feuerwerke mit intelligenten Dialogen und unvorhersehbaren Ereignissen, ohne jedoch in gekünstelte Überdramatik zu verfallen.
So bleibt am Ende auch keine rosa Wolke guten Gefühls zurück; im Gegenteil, es bleibt offen. Es ist furchtbar ärgerlich und genau deswegen so unheimlich gekonnt, dass ich deswegen meine 4,5 Sterne auf volle 5 aufrunde.
Denn damit gelingt es Walter Tevis, einen eindrücklichen Nachhall auszulösen und ich bin sicher: auch „Der Mann, der vom Himmel fiel“ wird zu den Charakteren gehören, die ich so schnell nicht vergessen werde!

Bewertung vom 05.06.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


gut

In „Die Kinder sind Könige“ lernen wir zwei gegensätzliche Frauen kennen: Die zielstrebige, verschlossene Polizistin Clara, die als Protokollantin bei der Kriminalkommission arbeitet – und die nach Aufmerksamkeit lechzende Mélanie, Mutter zweier Kinder und Betreiberin des beliebtesten Familienkanals Frankreichs.
Ihr Wege kreuzen sich, als Mélanies 6jährige Tochter Kimmy eines Tages spurlos verschwindet und eine aussichtslos erscheinende Suche nach dem allseits bekannten You-Tube-Nachwuchsstar beginnt.

Delphin de Vigan entwirft hier eine spannende Situation, in der sich die medienfremde Clara in die ihr unbekannte Parallelwelt von Videos, Storys, Followern, Likes und Sternenküsschen hineinfinden muss. Mit großer Eindringlichkeit weist der Roman darauf hin, wie sich die permanente öffentliche Sichtbarkeit auf das Leben der Kinder auswirkt. Er deckt empfindliche Missstände in diesem Bereich auf und wagt sogar einen Blick in die Zukunft; all dies wühlt auf und sensibilisiert für dieses topaktuelle Thema.

Doch obwohl Clara wie in einem Krimi auf die Auflösung des Entführungsfalles hinarbeitet, wird die Story in einem so nüchternen Ton erzählt, dass ich mich teilweise in einer Art Reportage wähnte. Einzig die in die Erzählung eingeschobenen Protokolle konnten in Form von Interviews und Video-Mitschnitten etwas Abwechslung und Lebendigkeit in einen von vielen Erklärungen strotzenden Text reinbringen.

Das Problem der Darstellung von Kindern im Internet wird zwar eindrücklich auf den Punkt gebracht, doch leider fehlt es an möglichen Lösungen; selbst der Blick in die Zukunft schildert nur Ansätze, die letztendlich scheitern.
Außerdem hat mich gestört, dass auf den gut 300 Seiten eine einzige Botschaft zwar auf vielfältige Weise wiederholt und bekräftigt wird, jedoch keine zusätzlichen Ebenen erhält. Obwohl de Vigan versucht, auch Mélanies Sichtweise einzubringen, bleibt diese unnahbar und fremd. Mindestens mir brachte dieses Buch keine Erkenntnisse, die mich überrumpelt oder sonderlich überrascht hätten.

Das ist schade, denn ich befürchte, dass dieses Buch in erster Linie von „Claras“ gelesen wird und nicht in die Hände der „Mélanies“ gerät, die den direkt möglichsten Einfluss zu einer nachhaltigen Änderung des Systems hätten.

Bewertung vom 21.05.2022
Wo die Wölfe sind
McConaghy, Charlotte

Wo die Wölfe sind


gut

Vom Cover und Klappentext her hatte mich dieses Werk nicht sonderlich angesprochen, doch die Leseprobe -

"Wir waren acht Jahre alt, da schnitt mein Vater mich auf, von der Kehle bis zum Bauch." (Erster Satz)

- direkt umgehauen, so dass ich mich in Erwartung eines Highlights an die Lektüre machte.

Und ja: der Einstieg ist wirklich grandios, von der ersten Seite an ist man mittendrin in der Erfahrungswelt von Wolfsforscherin Inti, die vom seltenen Mirror-Touch-Syndrom betroffen ist und deshalb Dinge, die sie sieht, körperlich spüren kann. Einerseits versprach gerade dieser Aspekt zusätzlichen Thrill neben dem in Schottland begonnen Projekt zur Wolfsauswilderung – allerdings war es mir relativ bald zu viel des Thrills, zu viel des Außergewöhnlichen und zu viel des damit einhergehenden Dramas.

"Inti Flynn", sagt Duncan noch einmal. "Was ist das überhaupt für ein Name?" "Ach, wer weiß das schon." "Will sagen?" "Mein Vater ist Kanadier mit irischem Namen, meine Mutter ist Australierin mit englischem Namen, meine Großeltern stammen aus Schottland, Irland und Frankreich und kein Mensch hat irgendeine Ahnung, wo mein Vorname herkommt." (S. 133)

Fehlt eigentlich nur noch, dass sich ihre Großmutter als die Queen herausstellt.
Aber nicht nur ihre Herkunft ist in jeglicher Hinsicht dick aufgetragen, auch Intis Charakter und Verhalten empfand ich als Zumutung : wieso nachvollziehbar wenn es auch kompliziert geht? Ach ja: wird halt spannender...

Als mir klar wurde, dass die verschiedenen Traumata, welche diese Familie belasten, sowie die Traumata von Intis neuen Freunden und Feinden und deren Familien in Schottland, sowie die vielen Geheimnisse, die in diesem Zusammenhang gekrämert werden, sowie die daraus entstehenden Komplikationen um die geheimen Traumata und traumatischen Geheimnisse (ihr versteht schon…) einen größeren Raum einnehmen als das Wolfsprojekt, habe ich dieses Buch nur noch quergelesen.

So trauere ich hier um einen Roman, der zwar vielversprechend beginnt und mit einem brillanten Schreibstil punktet, dessen Wendungen auf Vorabendserie-Niveau mir jedoch einfach nur „too much“ waren.

Bewertung vom 30.04.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


gut

Mit hoher Literatur ist das so eine Sache: Im besten Fall eröffnet sie neue sprachliche Welten, die zu entdecken zwar Mühe kostet, aber gleichzeitig staunen lässt und bereichert. Im schlechtesten Fall wird sie zu einer Aneinanderreihung von Wörtern, deren Sinn sich den Lesenden vor lauter Verschwurbelung nicht mehr erschließt.

Und nun ist da Zusammenkunft.
Zusammenkunft ist hohe Literatur.
Und Zusammenkunft ist die Zusammenkunft der positiven und der negativen Aspekte von Literatur. Mir ging es jedenfalls so.

Zusammenkunft handelt von einer weiblichen PoC, die es mit Fleiß und Selbstaufgabe bis in die hohen Etagen einer Londoner Bank geschafft hat. Die Ich-Erzählerin pickt kurze Szenen aus ihrem Alltag heraus, die sehr prägnante Einblicke in ihre Arbeits- und Gedankenwelt geben.

So interessant ich ihre messerscharfen Beobachtungen fand („Was bedeutet Staatsbürgerschaft, wenn du zugesehen hast, wie grelle GoHome-Lieferwagen deine Straße entlangkrochen?“ (S. 64), so irritiert war ich wiederum von Textabschnitten, die ich nicht einordnen konnte, die ich entweder als zu trivial oder aber als zu abgehoben empfand: „Ein Windhauch Brutalität schneidet dich jeden Tag – wie rechtfertigst du das? Deine Erfahrung? Durchschnittenes Fleisch. Deine Hoffnung. Verdunstung?“ (S. 66)

Zusammenkunft bleibt für mich deshalb insgesamt ein durchschnittliches Leseerlebnis: Da sind einerseits differenzierte Reflexionen und beachtenswerte Ansätze, die mir z.B. die Verbindungen vom totgeglaubten Imperialismus zum heutigen Rassismus aufgeschlossen haben. Andererseits aber ein durch die fragmentierte Schreibweise holperiger Lesefluss und eine schwer zu greifende Hauptfigur, deren Ringen um einen Platz in der Gesellschaft mir zu vage und zu distanziert geblieben ist.

Bewertung vom 24.04.2022
Meerestiere
Kogler, Iris Antonia

Meerestiere


ausgezeichnet

Jakob ist eben von seiner Frau verlassen worden und muss sich mit einem sprechenden Fisch herumschlagen, der gerne ins Meer zurück möchte.
Alfred wird von seiner gestressten Tochter zum weit entfernten Betreuten Wohnheim gefahren.
Sonja und Richard, Anfang sechzig, brechen zu einem Urlaub auf dem Campingplatz auf und merken, dass sie sich in den letzten Jahren entfremdet haben.
Jen hat sich mit ihrem Liebhaber, einem verheirateten Familienvater, in einem Hotel verabredet.
Wir lernen sie alle unabhängig voneinander kennen, wohlgeordnet in die entsprechenden Unterkapitel aufgeteilt.
Sie lassen uns in ihren Alltag, ihre Vergangenheit und ihre Gedankenwelt eintauchen. „Alfred fühlte, wie die Dinge näher rückten, wenn er nicht hinsah, wie bei diesem Kinderspiel, bei dem sich die Kinder nur dann bewegen durften, wenn das Kind, das vorne stand, sich wegdrehte und die Augen zuhielt.“ (32)
Sie alle leben das, was allgemeingültig als normal gilt; sie haben gewöhnliche Berufe gelernt, machen mittelmäßige Karrieren und gehen unscheinbaren Hobbys nach.
Trotzdem spürt die Autorin auch den kleinen Besonderheiten nach – und gerade das entwickelt seinen eigenen Reiz, mindestens für alle, die ebenso gerne über diese „kleinen Dinge“ sinnieren, die unsere durchschnittlichen Leben liebenswert machen. „… durch Jens Blick durch die Kamera bekamen diese alltäglichen Dinge plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Der Schatten einer Gabel auf eine weiße, glatte Fläche, ein Graffiti auf einer Mauer genau in dem Moment, in dem ein Sonnenstrahl durch die Lücke einer Häuserfront darauf scheint und das Wort Peace erhellt.“ (439)
Und so unterschiedlich sie mit ihren jeweiligen Lebenssituationen auch scheinen: Sie alle haben mit geplatzten Träumen, mit nicht verwirklichten Wünschen und geheimen Sehnsüchten zu kämpfen. „Sonja schien ihm schon seit Jahren unzufrieden zu sein. Es war ein schleichender Prozess gewesen, und oft war diese Unzufriedenheit von irgendeinem Aktionismus überlagert worden. Er hätte gerne gewusst, über welche Dinge sie nachdachte, während sie den Stau betrachtete, der vor ihnen entstanden war.“ (122)
Ihre Leben kreuzen sich im gleichen Hotel an einer Autobahnraststätte. Charmant und warmherzig bekommen wir erzählt, wie sie sich einander annähern. Und schließlich, wie aus mehreren gescheiterten Plänen ein neuer, gemeinsamer entsteht...
Diese Geschichte „Roadtrip“ zu nennen, finde ich leider eine unglückliche Wahl, denn die Weiterreise unserer fünf Hauptprotagonisten mitsamt ihren tierischen Begleitern nimmt nur einen kleinen und relativ unbedeutenden Teil davon ein.
Alles andere an diesem kurzen Roman ist jedoch sehr gelungen.
Die Autorin versteht es, jede einzelne Figur ernst zu nehmen und ihr Tiefe zu verleihen. Der Humor kommt trotzdem nicht zu kurz und findet sich insbesondere in den Dialogen mit dem Fisch wieder, dem eine ganz wichtige Bedeutung zukommt. Sie baut Wendungen auf, die im ersten Moment klischeehaft wirken und dann doch in letzter Sekunde eine andere Richtung einnehmen. Zu guter Letzt schenkt sie uns ein bewegendes Happy End – ach nein, sogar gleich mehrere Happy Enden! Und das ohne Klamauk, ohne Zuckerguss und ohne Kitsch.
Einfach das Leben.

Bewertung vom 14.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


weniger gut

„Sie ist der Regen des Regenmanns und das Schiff des Schiffmanns. Sie läuft durch die Straßen von New York, ein Weg durch einen Wald aus Feuertreppen.“ (S. 9) - So beginnt Jennifer Clements Roman „Auf der Zunge“.
Die Leserin erhofft sich, dass die fragmentarische Sprache sich irgendwann zu einem Strang verwickeln vermöge, zu einem festen Baumstamm, aus dessen Ästen im Kopf die Gehirnknospen zu blühen beginnen. Doch nichts dergleichen passiert.
Sie irrt wankend vom Rechtsanwalt zum Arzt, zum Dichter, zum Soldaten und zu anderen Gestalten, welchen die Frau auf den Straßen begegnet.
„Der Kerzendreher tritt auf sie zu. ‚Du riechst nach Kerzen, Sabbatkerzen und Geburtstagskerzen‘, sagt er. ‚Wusstest du das?‘ ‚Ich weiß, dass die Stadt von oben aussehen würde wie ein Friedhof‘, sagt die Frau. ‚Die Häuser wären die Grabsteine, Reihe an Reihe.‘“ (S. 84)
Da stehen Buchstaben und sie bilden Sätze. Das S sieht aus wie eine Schlange mit abgeschnittenem Kopf.
Die Sätze sind schön. „Wenn sie den Schrank öffnet, weht ihr ein kalter Luftzug entgegen, von Pullovern, die nicht umarmen können, Mänteln, die nicht marschieren und sie vor dem Feind beschützen können, Hemden mit Ärmeln, die niemals die Ärmel ihrer Blusen berühren. Er besitzt alle möglichen Stoffe, die ihrer beider Haut vor Berührung schützen.“ (S. 13)
Doch die Sätze sind Feuertreppen ohne Stufen. Sie führen ins Nichts.
Die Leere überspült die Nase der Leserin. Sie vermischt sich mit dem Duft von festem Papier, Druckerschwärze und Vanille, dem Schweiß der Autorin, den Zigaretten des Übersetzers, der Seife und des Pausenapfels des Kommissionierers.
Während die Frau in dem Buch über die Grenzen balanciert zwischen Ich und Du, zwischen War und Ist, zwischen Tag und Traum, zwischen Vergessen und Erinnern, fühlt sich die Leserin gefangen zwischen Fiebertraum und gähnender Langeweile.
„Ja, ja, ich habe das Geschirr zerschlagen und mit oranger Kreide an die Wand gemalt, weil bei mir zu Hause aus den Fenstern Türen wurden und aus den Türen Wände. Mein Körper schreit nach Ungehorsam. Es ist wie Wasser trinken oder in der Sonne stehen. Es ist ganz einfach – man will mehr.“ (S. 51)
Die Hände der Leserin schreien danach, das Buch an ihr Hirn zu schlagen, das sich als unzureichend für diese surrealistische, abgehobene Lektüre erweist. Oder an die Wand, die sich teilt, um das Buch segeln zu lassen in eine Welt, die sich keinem normalen Menschen erschließen kann.
Sie will nicht mehr. Sie ist froh, dass der Spuk nach 140 Seiten ein Ende findet.