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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 390 Bewertungen
Bewertung vom 15.10.2024
Ein tugendhafter Mann
Brookner, Anita

Ein tugendhafter Mann


gut

Anita Brookers „Ein tugendhafter Mann“ erschien erstmals im Jahr 1989 unter dem Titel „Lewis Percy“. Lewis ist zu Beginn des Romans, 1959, Anfang zwanzig und lebt nach einem kurzen Forschungsaufenthalt in Paris wieder mit seiner Mutter zusammen. Für seine Promotion beschäftigt er sich mit dem Helden in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in der Realität ist er ein verzagter, unsicherer Mann. Seine Kenntnisse über Frauen bezieht er aus Romanen.

Es fiel mir sehr schwer, in den Roman hineinzufinden, da dieser selbst für sein Erscheinungsdatum recht antiquiert wirkt. Auch Lewis selbst scheint nicht in die 60er und 70er zu passen und hängt Idealbildern aus dem vorangehenden Jahrhundert nach. Die Rollenauffassungen sind äußerst konservativ, und ich muss gestehen, dass es mir stellenweise schwerfiel weiterzulesen, weil ich zu keiner Figur einen Zugang gefunden habe und weder mit Lewis noch seiner Frau Tissy oder seiner Angebeteten Emmy mitfühlen konnte. Insbesondere Lewis‘ Art, allein aus kleinsten Äußerlichkeiten auf die Lebensgeschichte und den Charakter von Menschen zu schließen, ohne sich mit diesen jemals ernsthaft auf ein Gespräch einzulassen und echte tiefgreifende Beziehungen einzugehen, verärgerte mich zunehmend.
Fraglos ist „Ein tugendhafter Mann“ von hoher literarischer Qualität, doch Lesevergnügen kam bei mir leider nicht auf. Zu weit weg waren hierfür für mich die Thematik und Figuren des Romans und zu langatmig die Erzählweise.

Bewertung vom 15.10.2024
Die Formel des Widerstands
Viciano, Astrid

Die Formel des Widerstands


sehr gut

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in der Physik durch bahnbrechende Entdeckungen im Bereich der Kernphysik geprägt, und maßgeblich beteiligt waren Marie und Pierre Curie sowie Irène und Frédéric Joliot-Curie. Kurz nachdem Otto Hahn und Fritz Straßmann 1938 erstmals eine Kernspaltung gelang, brach der Zweite Weltkrieg aus, und rasch wurde klar, dass diese Entdeckung militärisch bedeutsam war, da eine Atombombe den Kriegesverlauf entscheidend beeinflussen würde. Das Nazi-Regime setzte alles daran, diese zu entwickeln, und nach der Besetzung Frankreichs wurde auch das Labor von Frédéric Joliot-Curie unter deutsche Kontrolle gestellt. Es verfügte, im Gegensatz zu deutschen Forschungseinrichtungen, bereits über ein Zyklotron, das fortan deutsche Wissenschaftler für ihre kernphysikalischen Experimente nutzen wollten. Für die Überwachung der französischen Kollegen wurde Wolfgang Gentner entsandt, der bereits zuvor mit Joliot-Curie zusammengearbeitet hatte und mit ihm befreundet war. Für Gentner beginnt nun ein riskantes Spiel: Nach außen hin muss er im Sinne des deutschen Uranprojektes arbeiten, verdeckt schützt er seinen Freund Joliot-Curie, der eine wichtige Rolle in der Resistance innehat, und weitere französische Wissenschaftler im Widerstand.

Astrid Viciano beschreibt eindrücklich die Atmosphäre im besetzten Paris und die Situation in den Forschungsinstituten. Viele Wissenschaftler hatten sich dem Widerstand angeschlossen, waren Teil antifaschistischer, kommunistischer oder links-intellektueller Bewegungen, u.a. Frédéric Joliot-Curie, Jacques Solomon und Paul Langevin. Unter Lebensgefahr widersetzten sie sich den Besatzern und sabotierten das Atomprojekt. Gentner hält seine Hand über sie und setzt sich für die Freilassung von verhafteten Wissenschaftlern ein.

Der Fokus des Buches liegt klar auf den historischen Aspekten, die kernphysikalische Forschung wird nur sehr rudimentär angerissen. Es lässt sich daher auch für naturwissenschaftliche Laien problemlos lesen. Da die Autorin den Fokus auf mehrere Personen legt, springt das Buch sowohl zeitlich als auch räumlich immer wieder hin- und her, teilweise gibt es kleinere Redundanzen. Hier hätte ich mir vor allem zeitlich eine etwas stringentere Umsetzung gewünscht, zumal Viciano offenbar selbst etwas durcheinanderkommt. So schreibt sie, nachdem Frédéric Joliot-Curies Freund Jacques Solomon im Mai 1942 von den deutschen Besatzer ermordet wurde am Ende des fünften Kapitels: „Frédéric Joliot-Curie ist von der Ermordung Solomons so erschüttert, dass er beschließt, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden. […] Er wählt dafür einen denkbar ungünstigen Moment. Werden die Deutschen doch einen Monat später, im Juni 1942, den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion brechen, indem sie gen Osten marschieren.“. Der Nichtangriffspakt wurde jedoch bereits ein Jahr zuvor, am 22. Juni 1941, also deutlich vor der Ermordung Solomons, aufgekündigt. Im sechsten Kapitel geht es dann verwirrenderweise auch am 29. Juni 1941 mit der Verhaftung Frédéric Joliot-Curies weiter.

Abgesehen davon bietet das Buch jedoch sehr interessante Einblicke und verdeutlich die Brisanz der physikalischen Forschung zur damaligen Zeit sowie die Rolle der französischen Forscher in der Resistance. Sehr lesenwert!

Bewertung vom 15.10.2024
Ameisen
Sorger, Magdalena

Ameisen


ausgezeichnet

Ameisen - jeder kennt sie, doch die wenigsten schenken ihnen Beachtung, sofern man sich mit der Picknickdecke nicht versehentlich in der Nähe eines ihrer Nester niederlässt. Das wird sich nach Magdalena Sorgers Buch auf jeden Fall ändern. Ursprünglich studierte Wirtschaftswissenschaftlerin, verlor Sorger ihr Herz eher zufällig an Ameisen, und forschte daraufhin jahrelang als Myrmekologin.
Äußerst unterhaltsam schildert sie ihre Erlebnisse mit den unterschiedlichsten Ameisenarten auf ihren weltweiten Exkursionen, und ihre ehrliche Begeisterung für die kleinen Insekten ist in jedem Satz spürbar. Diese Faszination überträgt sich beim Lesen, und ich sehe diese Insekten nun mit ganz anderen Augen. Mir war zuvor nicht ansatzweise bewusst, wie groß der Artenreichtum der Ameisen ist und wie hochspezialisiert und sozial diese zusammenleben. Und wer hätte gedacht, dass Ameisen nicht nur gigantische Nester mit mehreren Metern Durchmesser und Tiefe bauen, Pilze züchten und Nutztiere halten, sondern etwa die Schnappkieferameise ihre Mandibeln mit 230 km/h schließen kann und sich so bei Gefahr durch den Rückstoß rückwärts durch die Luft katapultiert? Magdalena Sorger schreibt so eingängig und kurzweilig, dass ich stellenweise das Gefühl hatte, sie würde neben mir sitzen und mir von den Ameisen erzählen. Abgerundet wird das Buch durch interessante Fotos, die einen Eindruck von der Vielfalt der Ameisen geben. Ich kann dieses großartige Sachbuch nur jedem empfehlen, der sich für die Natur interessiert!

Bewertung vom 15.10.2024
Skogland brennt / Skogland Bd.3
Boie, Kirsten

Skogland brennt / Skogland Bd.3


gut

Das Königreich Skogland ist ein fiktives Land, das aus dem reichen Süden mit überwiegend hellhäutigen, blonden Menschen und einem armen Norden mit dunkelhäutigeren und dunkelhaarigen Bewohnern besteht. Nach turbulenten Jahren, Rebellenkämpfen und einem Putschversuch ist Skogland demokratisch und bemüht sich um Chancengleichheit und Gleichberechtigung für alle Skogen, doch Wohlstand und Aufstiegsmöglichkeiten sind noch immer ungleich verteilt. Nordische Rebellen auf der einen und rechtsextreme Kräfte auf der anderen Seite gefährden die junge Demokratie.
Prinzessin Jarven, die eine südskogische Mutter und einen nordskogischen Vater hat, besucht zusammen mit ihrer besten Freundin Ylva und ihrem Freund Joas ein Eliteinternat. Sie setzen sich für die Verständigung zwischen Nord- und Südskogen ein und planen ein gemeinsames Sommercamp. Hjalmar, ebenfalls Schüler dieses Internats, ist ein rechtsextremer Außenseiter und radikalisiert sich unbemerkt immer stärker.
Ich kannte die beiden Vorgängerbände der Skoglandreihe nicht, doch laut Verlag soll sich der dritte Teil auch separat lesen lassen. Dem stimme ich nur bedingt zu. Die Handlung an sich ist tatsächlich auch ohne Vorkenntnisse nachvollziehbar, und das Personenregister hilft, um in die Geschichte hineinzukommen. Dennoch nimmt die Autorin immer wieder Bezug auf Geschehnisse aus den Bänden 1 und 2, und es ist unbefriedigend, diese nicht zu kennen.
Kirsten Boie verarbeitete in diesem Buch im Teilen das Attentat von Anders Behring Breivik in Norwegen vom 22. Juli 2011, bei dem in Oslo und auf der Insel Utoya insgesamt 69 Menschen ermordet wurden, darunter viele Jugendliche, die an einem Sommercamp auf der Insel teilgenommen hatten.
Angesichts des erschreckenden Zulaufs rechter Parteien, gerade auch unter der jungen Generation, halte ich es für äußerst wichtig, dass sich auch Jugendliteratur mit dieser Thematik auseinandersetzt und sich für Vielfalt und demokratische Werte einsetzt. Da Kirsten Boie eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen ist, waren meine Erwartungen dementsprechend hoch.
Der Schreibstil ist gewohnt ansprechend, die Kapitel, die jeweils aus der Sicht eines der Protagonisten erzählt sind, sehr kurz, so dass ein gewisses Tempo erzeugt wird. Bereits im Prolog wird deutlich, dass sich das Buch an eine Altersgruppe ab ca. 15 Jahren richtet, da die Details des Attentates für jüngere schockierend sein könnten. Boie bezieht über Jarven, Ylva und Joas klar Stellung für Toleranz und Vielfalt. Auch die Schwierigkeiten einer jungen Demokratie, deren Prozesse Zeit brauchen, werden deutlich, ebenso wie die Unzufriedenheit der Nordskogen, die sich schnellere Fortschritte bei der Gleichberechtigung erhofft hatten.
Leider hat das Buch für mich jedoch deutliche Schwächen. Erstens ist die Figurenzeichnung wenig komplex und sehr schwarz-weiß. Dies gilt für alle Charaktere, wird aber besonders deutlich bei Bolström und Hjalmar. Sie werden als abgrundtief böse dargestellt, und gerade bei Hjalmar fehlt mir hierzu der Unterbau der Figur: Warum wurde er so? Welche Rolle spielt sein Elternhaus, welche Erfahrungen hat er gemacht? Stattdessen wird er als von Kindheit an boshaft und unberechenbar dargestellt, geradezu überzeichnet. Das ist mir zu einfach, und auch die Realität ist komplexer. Die Geschichte lehrt uns, dass im Dritten Reich die schlimmsten und grausamsten Nazis häufig vom Umfeld als unauffällig, nett und hilfsbereit geschildert wurden. Gerade diejenigen, die ihren Charme einzusetzen wissen, sind als politische Verführer besonders gefährlich. Hier hätte ich mir angesichts der Altersklasse ab 15 gewünscht, dass Boie ihren Lesern und Leserinnen mehr zutraut und ein differenzierteres Bild zeichnet.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Boie mit Body Positivity, Liebeskummer und Influencertum auf Social Media viele Themen einbaut, jedoch die Kernhandlung selbst an Tiefe vermissen lässt. Vieles wird nur angerissen und ist unrealistisch, gerade bei den Thrillerelementen (etwa die Abläufe des Sicherheitsapparates bei verdeckten Operationen und die gesamte Handlung um Joas). Hier spürt man, dass dieses Genre einfach nicht Boies Metier ist. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass es besser gewesen wäre, ein komplett neues Buch zu schreiben, anstatt die Skoglandreihe zu erweitern, da die bestehenden Figuren nicht so recht passen zu scheinen. Norlin und Nahira etwa werden als reine Tippgeber ohne echte Handlung nur knapp eingebaut.
Nun kann man einwenden, dass es sich um ein Jugendbuch handelt und hier eine gewisse Reduktion der Komplexität vertretbar ist. Da sehe ich nur bedingt so, da die Altersgruppe ab 15 in der Schule bereits Hochliteratur analysiert, und auch andere Autoren zeigen, dass komplexe Welten und ambivalente Charaktere durchaus auch bei Jugendbüchern möglich sind, etwa in der Tintenwelt bei Cornelia Funke.
Insgesamt bleibt Skogland 3 leider deutlich hinter meinen Erwartungen zurück.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2024
Herzenssache
Becker, Michael

Herzenssache


ausgezeichnet

Prof. Michael Becker widmet sich in „Herzenssache“ einem lebenswichtigen, längst überfälligen Thema: Der Herzgesundheit von Patientinnen unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten. Er zeigt anhand der Kardiologie auf, dass bis heute Medizin im Regelfall eine an den männlichen Patienten ausgerichtete Medizin ist, ein Fakt, der dazu führt, dass Genderaspekte bei Anamnese, Diagnostik, Behandlung und Medikation vielfach nicht angemessen berücksichtigt werden. Der Gründer des Zentrums für Frauenherzen in Würselen zeigt anhand von Fallbeispielen auf, dass dies häufig zu hohem Leidensdruck und jahrelangen Ärzteodysseen führt. Nicht selten werden die Beschwerden als Hysterie oder psychisch bedingt abgetan. Dies kann im schlimmsten Fall tödlich enden.

In elf Kapiteln erläutert Prof. Michael Becker ausführlich und für medizinische Laien verständlich die Unterschiede zwischen Männerherzen und Frauenherzen und die Konsequenzen, die sich hieraus in der Behandlung ergeben müssen. Dabei geht er auch auf geschlechterspezifische Medikation und Beurteilung von Laborparametern ein.

Prof. Michael Becker gibt sich sehr viel Mühe, allgemeinverständlich zu schreiben und anschauliche Beispiele und Vergleiche anzuführen. Auch wenn ich selbst keine medizinischen Hintergrund habe, vereinfacht er mir hier manchmal fast etwas zu stark, doch ich verstehe seine Intention, wirklich jede Patientin unabhängig vom Bildungsniveau abholen zu wollen.

Sehr eindrücklich beschreibt der Autor, gegen welche Widerstände er und seine Kollegen auch unter Medizinern hierbei ankämpfen müssen, da geschlechtssensible Medizin leider noch immer von vielen abgelehnt wird. Seinem Einsatz gebührt daher großer Dank.

Ich habe in diesem Buch sehr viel Interessantes erfahren, und mir ist die Bedeutung gendersensibler medizinischer Forschung und Behandlung noch klarer geworden. Zudem fühle ich mich besser vorbereitet, sollten bei mir eines Tages Herzbeschwerden auftreten, und ich würde mit größerem Selbstbewusstsein auf eine entsprechende Diagnostik drängen.

Bewertung vom 08.10.2024
Zwei Leben
Arenz, Ewald

Zwei Leben


ausgezeichnet

1971, in einem Dorf in Süddeutschland. Roberta ist froh, nach ihrer Schneiderlehre wieder auf den heimischen Hof zurückzukehren. Sie hat die körperliche Arbeit an der frischen Luft vermisst. Und doch ist da eine Sehnsucht nach etwas Neuem in ihr, nach fremden Ländern und dem was möglich wäre, gäbe es die Verpflichtungen auf dem Hof nicht. Ihre Leidenschaft sind Stoffe, sie entwirft eigene Schnitte und träumt sich in die weite Welt. Und dann verliebt sie sich in den Pfarrerssohn Wilhelm, den alten Freund aus Kindertagen. Doch welche Zukunft ist für sie beide möglich? Robertas Arbeitskraft ist auf dem Hof ganz selbstverständlich einkalkuliert, Wilhelm wird in wenigen Monaten das Dorf verlassen und studieren. Auch Wilhelms Mutter Gertrud, die Pfarrersfrau, ist an einem Wendepunkt angelangt. Aus Hamburg stammend, ist sie in dem kleinen Dorf eine Außenseiterin geblieben und in dem rückständigen, alten Pfarrhof nie heimisch geworden. Sie möchte nun endlich ihre Träume umsetzen und dem Dorf den Rücken kehren - wenn da Wilhelm nicht wäre…

So, wie Roberta beim Schneidern scheinbar unvereinbare Materialien miteinander kombiniert, feine Seide und grobes Leinen, spüren die Figuren die Gegensätze des Lebens in sich. Hier die Wurzeln und das Vertraute, das man um sich haben möchte, und dort die Sehnsucht nach dem anderen Leben, das möglich wäre. Jede Entscheidung für einen Weg ist eine Entscheidung gegen alle anderen Optionen. Und sind die Einschränkungen, die wir wahrnehmen, echte Hindernisse, oder müssten wir nur beherzter nach Wegen suchen, sie zu umgehen? Geschickt verwebt Ewald Arenz die Lebenswege von Wilhelm, Roberta und Gertrud miteinander, und nachdem die erste Hälfte der Geschichte noch etwas beschaulich wirkt, hat sie mich in der zweiten Hälfte richtig gefesselt. Ich habe mitgehofft und mitgelitten und wollte das Buch gar nicht mehr weglegen. Ich hätte am liebsten die Figuren noch über weitere 100 Seiten begleitet. Mein heimlicher Lieblingscharakter, der mit seiner leisen, aber lebensklugen Art die Dinge durchschaut, ist Robertas Opa.

Wenn man sehr genau liest, fallen einem leider ein paar zeitliche Ungereimtheiten insbesondere bezüglich der Geschichte des Großvaters auf, wo die Angaben nicht immer genau passen und sich immer mal um 1-2 Jahre verändern. Zudem wird mehrfach erwähnt, dass die Gefangenschaft aus dem Zweiten Weltkrieg bereits 40 Jahre zurückliegt, was mit 1971 nicht vereinbar ist. Auch die Aussage von Wilhelms Kumpel Wolfgang, dass der Zivildienst dreimal so lang dauere, wie der Wehrdienst, ist merkwürdig. 1971 dauerten beide Dienste genau 18 Monate. An einer weiteren Stelle passt eine Aussage Robertas nicht zu einem einige Kapitel davor geschilderten Geschehen. Das sind allerdings Kleinigkeiten.

„Zwei Leben“ ist ein sehr bewegendes, teils trauriges, aber gleichzeitig Hoffnung schenkendes Buch, lebendig und klug erzählt. Es erinnert daran, was wirklich zählt, auch wenn es oft so schwer umzusetzen ist: „…Dass nichts wichtiger ist, als richtig zu leben. Nicht halb oder versteckt oder einfach falsch.“

Bewertung vom 01.10.2024
Dezember 41
Martin, William

Dezember 41


gut

Ich lese sehr gerne historische Spionage-Thriller, und die Kurzbeschreibung zu „Dezember 1941“ machte mich neugierig, zumal sie eine Geschichte verspricht, die auf historischen Tatsachen basieren soll. Hierzu später mehr.

Die Handlung spielt in den Tagen zwischen dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 und Weihnachten. Der deutsche Spion Martin Browning plant ein Attentat auf Präsident Franklin D. Roosevelt, wenn dieser am Heiligen Abend traditionell vor Publikum die Lichter des traditionellen National Chrismas Tree vor dem Weißen Haus entzündet. Auf seinem Weg von Los Angeles nach Washington kreuzen die unterschiedlichsten Personen seinen Weg: Die gescheiterte Schauspielerin Kathy, der desillusionierte Drehbuchleser Kevin Cusack, der als Amateurspion für eine jüdische Gruppierung den Deutschen Bund auskundschaftet, der FBI-Agent Frank Carter, die Privatdetektivin Sally Drake, etc. Martin wechselt seine Identitäten professionell, er benutzt die Menschen in seiner Umgebung für seine Zwecke, und wer ihm gefährlich werden könnte, wird liquidiert.

Der Thriller ist von Anfang durchaus kurzweilig geschrieben, die Geschichte schreitet flott voran, und als Leser/in begleitet man das Geschehen abwechselnd aus verschiedenen Perspektiven. Dennoch konnte mich die Handlung nicht richtig fesseln. Das liegt zum einen daran, dass die historischen Tatsachen bekannt sind (Roosevelt wurde nicht ermordet), so dass von Anfang an klar ist, dass das Attentat scheitern muss. Zum anderen traf der Schreibstil von Autor William Martin nicht meinen Geschmack. Stellenweise ist er mir zu amerikanisch-pathetisch, und mir fehlt auch eine gewisse Raffinesse, die den Thriller sprachlich hervorheben könnte. Teilweise wirkt der Thriller reißbrettartig geschrieben, echte Spannung kam bei mir nicht auf, und ich habe das Buch zwischendurch immer wieder für einige Tage beiseite gelegt.

Wie eingangs erwähnt, soll die Handlung laut Klappentext auf historischen Tatsachen beruhen. Diese Anmerkung ist allerdings etwas irreführend. Historisch belegt sind der Besuch Winston Churchills an Weihnachten 1941 im Weißen Haus, die alljährliche Illumination des nationalen Weihnachtsbaumes sowie natürlich die politische Situation und eine allgemeine Bedrohungslage. Alles andere, insbesondere das Attentat, ist reine Fiktion ohne jegliche historische Grundlage.

Insgesamt eine unterhaltsame Lektüre für zwischendurch, aber nicht mehr.

Bewertung vom 01.10.2024
Verlorene Sterne
Orange, Tommy

Verlorene Sterne


gut

Tommy Orange greift mit dem Schicksal der indigenen Bevölkerung, den Gräueltaten, die ihnen durch die Weißen zugefügt wurden, und der Suchtproblematik wichtige Themen auf.

Jedoch wurde ich mit der Umsetzung nicht warm. Tommy Orange erzählt die Geschichte einer Familie von Native Americans vom Sand Creek Massacre 1864 bis heute und zeigt, wie Traumata über mehrere Generationen hinweg wirken. Seinen sprunghaften Erzählstil, der immer wieder zwischen den Generationen wechselt, fand ich ungewöhnlich, aber interessant und keineswegs störend. Leider liest sich das Buch insgesamt sehr zäh, und die weitschweifige, oft poetische Erzählweise lag mir überhaupt nicht. Ich hatte das Gefühl, die Handlung bewegte sich nicht von der Stelle, mir fehlten ein roter Faden und eine gewisse Griffigkeit. Die Protagonist/innen blieben mir seltsam fremd, und ich war letztendlich erleichtert, als ich das Buch beendet hatte.

Fazit: Wer einen poetischen Schreibstil und eine experimentelle Erzählweise schätzt und sich vor allem mit dem Innenleben der Protagonist/innen auseinandersetzen möchte, wird an „Verlorene Sterne“ bestimmt Gefallen finden. Da ich direkte, nüchterne Sprache bevorzuge (die dennoch gerne komplex sein darf!), war es leider nichts für mich.

Bewertung vom 29.09.2024
Birds of Paris - Das magische Pendel
Tordasi, Kathrin

Birds of Paris - Das magische Pendel


ausgezeichnet

Léa ist zwölf Jahre alt und neu in Paris. Da ihre Mutter für internationale Museen arbeitet und der Vater als Fotograf viel unterwegs ist, ist sie bereits fünfmal umgezogen und oft auf sich allein gestellt. Entsprechend schwer ist es für sie, irgendwo anzukommen und Freundschaften zu schließen. Bei einer Erkundungstour durch Paris fällt Léa im Garten von Notre-Dame ein Mädchen auf, das sich mit einer Taube zu unterhalten scheint. Neugierig geht Léa dem Mädchen nach, und wird kurz darauf Zeugin einer merkwürdigen Begebenheit, die Léa zeigt, dass Paris voller geheimer Magie steckt…

„Birds of Paris“ ist eine spannende, sehr lebendig erzählte Abenteuergeschichte mit einem eher ungewöhnlichen Schauplatz. Gerade letzteres hat mich besonders gereizt, das Buch mit meinem Sohn zu lesen: Die meisten Kinderbücher spielen entweder in einer kompletten Fantasiewelt oder an britischen oder amerikanischen Orten. Paris ist eine erfrischende Abwechslung, und der Roman lädt ein, sich ein bisschen genauer mit der Stadt zu beschäftigen. Ein Teil der Handlung spielt in den Katakomben von Paris, und mein Sohn und ich haben uns daraufhin dieses Stollensystem und seine Geschichte näher angesehen.

Die Hauptfiguren im Buch sind Léa und die Straßenkinder Roux, Ari, Alex und Coralie, Erwachsene kommen lediglich am Rande vor. Der Großteil der Geschichte wird aus Léas Sicht erzählt, in einigen Kapiteln wechselt die Perspektive zu Roux. Die Charaktere, ihre Gefühle und Gedanken sind sehr schön ausgearbeitet, man kann sich sofort in sie hineinversetzen. Besonders gut gelungen ist dies bei Léa. Sie ist zunächst befangen und unsicher, als sie auf die Kinder trifft, da ihr durch die häufigen Umzüge die Übung fehlt, sich mit Gleichaltrigen anzufreunden. Man spürt richtig, wie sehr sie sich wünscht, Freunde und Freundinnen zu haben und zu einer Gruppe dazuzugehören. Gerade introvertierte junge Leser/innen werden sich in Léa sehr gut hineinversetzen können, und das Buch macht Mut, auf andere zuzugehen. Auch die Gefühle, die die Kinder bei ihrem Abenteuer durchleben - Angst, Entschlossenheit, Mut und Zuversicht durch Zusammenhalt - sind sehr einfühlsam und authentisch beschrieben. Die Straßenkinder sind wie eine Familie füreinander, sie halten fest zusammen und nehmen Léa bereitwillig in ihre Gruppe auf.

Der Kern der Handlung findet im Buch ein abgeschlossenes Ende, dennoch bleiben einige Fragen offen, und es wird klar, dass die Vergangenheit der Straßenkinder, allen voran Roux‘, noch viele Geheimnisse birgt. Das letzte Kapitel endet mit einem Cliffhanger, der uns schon neugierig und gespannt auf den nächsten Band warten lässt.

Unser einziger Kritikpunkt: Warum bekommt ein Buch einer deutschsprachigen Autorin, das in Frankreich spielt, einen englischen Titel? „Oiseaux de Paris“ wäre natürlich weniger griffig, aber warum nicht „Schimmervögel“ oder „Die Vögel von Paris“?

Bewertung vom 25.09.2024
Truboy
Roshani, Anuschka

Truboy


sehr gut

Vor 40 Jahren starb Truman Capote und nahm das Geheimnis um sein letztes großes Werk „Erhörte Gebete“ mit ins Grab. Nur drei Kapitel wurden vorab veröffentlicht, und insbesondere das erste, in dem Capote kaum verfremdet intime Geheimnisse der High Society ausplauderte, in deren Kreisen er sich jahrelang bewegt hatte, sorgte 1975 für einen Skandal. Erhalten ist lediglich ein literarisches Fragment, und bis heute ist unklar, ob Capote dieses Werk jemals vollendet hat. In „Truboy“ begibt sich Anuschka Roshani auf die Suche nach dem Manuskript, befragt alte Weggefährten und durchforstet Teile seines Nachlasses.

„Truboy“ ist flüssig und lebendig zu lesen, die teilweise recht eigenwilligen bis kauzigen Interviewpartner sind besonders unterhaltsam, allen voran Gordon Lish. Auffällig ist, dass der grundsätzlich gehobene Schreibstil Roshanis immer wieder unterbrochen wird durch deplatziert wirkende Begriffe wie deppert, stulle (als Adjektiv in der Bedeutung blöd), hinterfotzig u.ä.

Auf jeder Seite ist Roshanis Bewunderung, ja Verehrung, Capotes zu spüren. Und auch ihre sieben Interviewpartner/innen, darunter Capotes Ziehtochter, sein Anwalt, Freunde aus der Künstlerszene, ein Literaturredakteur und sein Biograph, schwärmen in den höchsten Tönen von Capotes einnehmendem Wesen, seinem Charme, Witz und seiner Liebenswürdigkeit. Die Auswahl der Gesprächspartner/innen ist hier sicherlich nicht ganz ausgewogen, und ich habe mich während des Lesens immer wieder gefragt, was wohl andere Zeitzeugen, die über eine etwas kritischere Distanz verfügten, über Capote ausgesagt hätten, da die Lobeshymnen doch etwas dick aufgetragen wirken.

Insgesamt entsteht das Bild eines sehr feinfühligen, mit großem Talent gesegneten Menschen, der sich danach sehnt, dazuzugehören, aber im Grunde immer ein Außenseiter bleibt, mit dem sich die High Society zwar gerne schmückt, ihn aber nie als einen der Ihren akzeptiert. Capotes exzentrisches Wesen und seine bereits in jugendlichen Jahren offen gelebte Homosexualität waren in der damaligen Zeit sicher für viele provokativ. Seine Alkohol- und Tablettensucht machen ihm zunehmend zu schaffen und verhindern wohl auch in den letzten Jahren, dass er noch einmal künstlerisch an seine Hochzeit anknüpfen kann.

Immer wieder führt Roshani Trumans Sensibilität und diverse psychische Probleme auf die Abwesenheit seiner Mutter hin, die Capote jahrelang bei Verwandten ließ. Ein Kindheitstrauma, das Truman Capotes gesamtes Leben und Werk durchzieht und prägt. Umso verwunderlicher ist es, dass sie nur wenige Worte über Capotes Kindheit und sein späteres Verhältnis zu seiner Mutter verliert, so dass diese zentrale Beziehung im Buch nicht greifbar wird. Auffällig ist, dass Roshani der Mutter Capotes die gesamte Schuld zuschiebt, der ebenso abwesende und offenbar unfähige Vater jedoch glimpflich bzw. unerwähnt davon kommt (die Ehe der Eltern wurde geschieden, ein Vater war also durchaus vorhanden).

Wie die Kurzbeschreibung des Verlages bereits vorwegnimmt, findet Roshani tatsächlich ein Fragment des verschollenen Romans. Hierüber schreibt sie jedoch erstaunlich wenig, und ich hätte gerne mehr über die Länge des Textes, seine Rezeption in der Fachwelt und eine mögliche Veröffentlichung bzw. Einbindung in das Fragment „Erhörte Gebete“ erfahren. Stattdessen begibt sich Roshani im letzten Kapitel auf für mein Empfinden gewagtes Terrain, als sie unter Annahme, die Figur P. B. Jones aus „Erhörte Gebete“ sei Capotes düsteres Alter Ego, aus dem Fragment selbst und mit Hilfe einer Psychoanalytikerin Schlüsse auf Capotes späte Psyche zieht. Das wirkte auf mich doch etwas unseriös.

Fazit: „Truboy“ ist sicherlich keine Biographie, hierzu fehlt auch eine gewisse objektive Distanz der Autorin, sondern eher eine Hommage an Truman Capote. Ich empfehle dieses Buch vor allem Fans von Capote, die sein Werk bereits kennen, da Roshani immer wieder aus Capotes Büchern zitiert und Querverbindungen herstellt. Insgesamt habe ich „Truboy“ sehr gerne gelesen und wurde hierdurch neugierig auf Capotes Bücher. „Kaltblütig“ liegt bereits bereit, und ich bin gespannt!