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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 318 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2024
Geschichte Japans
Krämer, Hans Martin

Geschichte Japans


sehr gut

Schon lange hatte ich mir vorgenommen, mich einmal mit der Geschichte Japans zu beschäftigen, nachdem ich in letzter Zeit mehrere Bücher japanischer Autoren gelesen hatte. Hans Martin Krämers „Geschichte Japans“ eignete sich hierfür perfekt. Sie beginnt kurz und knapp in der Steinzeit und führt auf 176 Seiten bis in die Gegenwart. Gut strukturiert und dabei unterhaltsam und flüssig zu lesen, zeigt Krämer historische Zusammenhänge auf, die zum Verständnis der modernen japanischen Kultur wichtig sind. Ergänzt wird der Text durch je eine Karte über die geografische Lage Japans in Ostasien und eine weitere über die 47 Präfekturen im modernen Japan. Vermisst habe ich allerdings den in der Kurzbeschreibung versprochenen einleitenden Abschnitt über die geografischen und klimatischen Grundlagen. Davon abgesehen jedoch eine sehr lesenswerte kompakte Einführung in Japans faszinierende Geschichte.

Bewertung vom 04.06.2024
Blutrotes Kobalt. Der Kongo und die brutale Realität hinter unserem Konsum
Kara, Siddharth

Blutrotes Kobalt. Der Kongo und die brutale Realität hinter unserem Konsum


ausgezeichnet

Lithium-Ionen-Akkus sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stecken in Smartphones, Laptops und Tablets und sind als Energiespeicher ein wesentliche Faktor der Mobilitätswende in Elektroautos und E-Bikes. Um hohe thermische Stabilität bei gleichzeitiger großer Energiedichte gewährleisten zu können, ist das Alkalimetall Kobalt ein derzeit unverzichtbarer Bestandteil dieser Akkus und derzeit der begehrteste Rohstoff der Welt. Ein Hauptlieferant für Kobalt ist die Demokratische Republik Kongo.

Der Wirtschaftswissenschaftler, Meschenrechtsaktivist und Professor an der University of Nottingham Siddarth Kara hat sich eingehend mit dem Kobaltabbau im Kongo befasst und zeigt in „Blutrotes Kobalt“ auf erschütternde Weise, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den dortigen Minen das Kobalt hauptsächlich im handwerklichen Kleinbergbau gewonnen wird. Schwerste Kinderarbeit ist an der Tagesordnung, Schutzausrüstung und angemessene Kleidung sind nicht vorhanden, die Schürfer arbeiten in Shorts und T-Shirt, in Flipflops und mit bloßen Händen in einsturzgefährdeten Gruben und Stollen, die Mädchen und Frauen waschen das Erz in verseuchten Becken, sie alle atmen giftige und radioaktive Stäube ein für einen Hungerlohn, der nicht zu Überleben reicht, und sind täglich dem Risiko tödlicher Unfälle und, im Falle der Arbeiterinnen, sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Einer der Kleinschürfer formuliert treffend: „Wir arbeiten in unseren Gräbern!“

Der Gegensatz zwischen den zutiefst erschreckenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen im handwerklichen Kleinbergbau und der schillernden, scheinbar cleanen Welt modernster Elektronik könnte nicht größer sein. Kara zeigt auf, dass die PR-Erklärungen der Großkonzerne bezüglich Nachhaltigkeit und Arbeitsbedingungen das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt werden. Kara reiste zu Recherchen selbst mehrfach in den Kongo und machte sich teils unter beträchtlicher Gefahr ein eigenes Bild von den Bedingungen vor Ort. Er zeigt auf, welche unübersichtlichen Zwischenstationen in den Lieferketten das Kobalt zurücklegt und wie viele Menschen durch systematische Erpressung, Bestechung, Betrug, Vertuschung und Ignoranz an den einzelnen Stationen kräftig mitverdienen.

Kara führte Interviews mit Kleinschürfern, Vertretern von Bergbaugenossenschaften, NGOs, Regierungsvertretern und Zwischenhändlern. Insbesondere die Schilderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, der Invaliden und der Angehörigen von tödlich verunglückten, oft minderjährigen Schürfern machten mich fassungslos und lassen mich mit anderen Augen auf die akkubetriebenen Geräte blicken.

Ein erschütterndes und ungemein wichtiges Buch, das sehr zum Nachdenken anregt und hoffentlich dazu beiträgt, den Druck auf die Konzerne zu erhöhen, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Ausbeutung der Kongoles*innen zu beenden. Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 02.06.2024
Das vergessene Labyrinth / Meisterdiebe Bd.2
Arcanjo, J. J.

Das vergessene Labyrinth / Meisterdiebe Bd.2


ausgezeichnet

Der erste Band der „Schule der Meisterdiebe“ hatte meinen Sohn (10) und mich richtig begeistert, und wir konnten es kaum erwarten die Fortsetzung zu lesen. Dementsprechend stieß mein Sohn einen lauten Jubelschrei aus, als das Ebook auf meinem Tablet war, und wollte sofort loslegen. Und wir haben es in Rekordgeschwindigkeit verschlungen!

Band 2 knüpft im Wesentlichen nahtlos an den ersten Teil an, und man sollte diesen auf jeden Fall vorher gelesen haben, da er als Vorwissen vorausgesetzt wird. Der vierzehnjährige Gabriel Avery und seine Freunde Penelope, Amira und die Okoro-Zwillinge sind nun im zweiten Schuljahr in Crookhaven, wo sie zu den besten Ganoven der Welt ausgebildet werden, um ihre Fähigkeiten zukünftig wie Robin Hood für das Gute einzusetzen. Neben der alljährlichen Einbruch-Challenge der Schule wartet auf die Bande ein geheimnisvolles vergessenes unterirdisches Labyrinth auf sie, das Penelope in den Sommerferien wiederentdeckt hat und ihnen wichtige Hinweise auf die Namenlosen geben könnte.

Das Schul- und Internatsleben mit den diversen Unterrichtsstunden in Infiltration, Gaunerkunde, Täuschung und Krimnastik tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund, abgesehen von dem neuen Fach „Reklamation“, bei dem es darum geht, sich mit den Geheimnissen des Wassers, Tauchen und Schwimmen vertraut zu machen, um Schätze unter Wasser aufspüren zu können. Der Begriff „Reklamation“, der im Deutschen eigentlich nur für „Beschwerde“ verwendet wird, ist hier etwas verwirrend, insbesondere für Kinder. Um die Bezeichnung zu verstehen, muss man wissen, dass das englische „reclamation“ auch Rückgewinnung bedeutet (die Originalsprache des Buches ist Englisch). Das verzwickte Labyrinth, der knifflige Einbruch und unvorhergesehene Wendungen nehmen Gabriel und seine Freunde komplett in Anspruch und bringen sie dazu, an ihre Grenzen zu gehen.

Die fünf Hauptcharaktere sowie ihre Mitschüler*innen, Lehrkräfte und weitere Figuren haben alle ihre Schrullen, Stärken und Schwächen und sind sehr unterhaltsam, abwechslungsreich und häufig ambivalent gezeichnet. Auch der Humor kommt nicht zu kurz, insbesondere die Zwillinge Ade und Ede Okoro lockern die Handlung immer wieder durch ihre Sprüche und ihre Tollpatschigkeit auf.

Besonders toll finde ich, dass die fünf Freunde nicht nur spannende Abenteuer erleben, sondern das Buch ganz nebenbei dazu ermutigt, auf seine eigenen Stärken zu vertrauen und seine Ängste zu überwinden. Die Freunde unterstützen und ermutigen sich hierbei gegenseitig und gehen gemeinsam durch dick und dünn. Auch die Botschaft, genau hinzusehen, hinter die Fassaden der Mitmenschen zu blicken und nicht vorschnell zu urteilen, gefällt mir sehr.

Für uns ist „Die Schule der Meisterdiebe“ eine der besten Kinderbuchreihen ab ca. 9 Jahren überhaupt. Sie kommt zudem komplett ohne Fantasy-Elemente aus, was ich angesichts der Fantasy-Flut am Buchmarkt als sehr angenehm empfinde.

Wie der erste Band besitzt auch Band zwei eine in sich abgeschlossene Kernhandlung, lässt aber genügend lose Enden und einen kleinen Cliffhanger, um ungeduldig und mit großer Vorfreude auf Band 3 (erscheint im Dezember 2024) zu warten!

Bewertung vom 30.05.2024
Die englische Scheidung
Kennedy, Margaret

Die englische Scheidung


ausgezeichnet

Alec und Betsy gehören in den 1930er Jahren der gehobenen englischen Mittelschicht an. Sie sind seit 17 Jahren verheiratet und der Ehealltag fordert seinen Tribut. Alec hat eine Affäre, Betsy ist unglücklich, hadert mit ihrem Leben und möchte sich scheiden lassen. Alles sieht nach einer einvernehmlichen Trennung aus, bis Mutter und Schwiegermutter sich einmischen, um die Ehe zu retten. Nun entwickelt sich eine Dynamik, die sich nicht mehr aufhalten lässt und ungeahnte Folgen hat…
Mit „Die englische Scheidung“ erscheint der Roman „Together and apart“ von Margaret Kennedy aus dem Jahr 1936 in deutscher Übersetzung. Er zeichnet ein interessantes und detailliertes Bild der gehobenen englischen Gesellschaft der damaligen Zeit. Die einzelnen Charaktere, allen voran Alec und Betsy, werden lebendig und ambivalent beschrieben, mit all ihren Eigenheiten, Stärken und Fehlern. Margaret Kennedys Gespür für Menschen und die Komplexität von Beziehungen hat mir besonders gut gefallen. Sie verzichtet auf klare Schuldzuweisungen an Alec oder Betsy, vielmehr spielen viele verschiedene Parameter eine Rolle, dass Beziehungen scheitern oder sich in eine bestimmte Richtung entwickeln. Mit spitzer Feder zeigt sie auf, welche Entwicklung die Einmischungen von außen in Gang setzen. Verwandte, Freunde, Bekannte und Angestellte tragen dazu bei, dass eine Lawine ins Rollen kommt, die Alec, Betsy und ihre Kinder förmlich mitreißt. Jeder kennt nur einen Teil der Wahrheit, schmückt den Rest aus, oft begleitet von einem wohligen Schauer der Sensationslust, und indem vor allem übereinander und nicht miteinander geredet wird, wird die Lage immer verfahrener.
Auch wenn sich in beinahe einhundert Jahren gesellschaftlich und im Rollenverständnis der Geschlechter glücklicherweise einiges geändert hat, ist es doch sehr faszinierend, wie vieles bis heute erstaunlich aktuell ist. Betsy und Alec befinden sich beide in einer Midlife-Crisis, haben sich auseinandergelebt, und insbesondere Betsy verzweifelt an der Diskrepanz zwischen ihren Lebensträumen als junge Frau und dem Status Quo. Auch Alecs Suche nach seiner Rolle als Mann und Vater und die Unfähigkeit der beiden Ehepartner, miteinander zu kommunizieren, sich selbst kritisch zu reflektieren und einen Konsens zu erreichen, ist heute oftmals nicht anders. Und die Kinder sitzen zwischen den Stühlen oder werden zum Spielball im Kampf um die eigenen Interessen.
Ich habe den Roman binnen kürzester Zeit verschlungen und war schon fast traurig, als er zu Ende war. Zu gerne hätte ich nochmal 200 Seiten weitergelesen, um zu erfahren, wie es mit allen weitergeht.

Bewertung vom 30.05.2024
Frühling 1940
Scheck, Raffael

Frühling 1940


ausgezeichnet

Nur etwas mehr als 20 Jahre nach den verheerenden Schlachten des Ersten Weltkrieges stehen sich während des Westfeldzugs im Mai und Juni 1940 die Armeen der Alliierten und Deutschlands gegenüber. Weltkriegsveteranen unter den Soldaten und Zivilisten werden mit ihren Erinnerungen konfrontiert, Söhne kämpfen an Orten, an denen ihre Väter gefallen sind. Vielfach sind die Kriegsschauplätze identisch, alte Schützengräben, Befehlsstände und Kriegerdenkmäler erinnern an die damaligen Schlachten, beim Ausheben neuer Stellungen stoßen die Soldaten auf alte Ausrüstung und sogar tote Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg.
Raffael Scheck hat eine Vielzahl an Tagebucheinträgen, Feldpostbriefen und anderen Zeitdokumenten von Frontsoldaten, Politikern, Internierten und Zivilisten (auch Schülern und Schülerinnen!) aus Belgien, Frankreich, Großbritannien und Deutschland ausgewertet und diesem Buch zugrunde gelegt. Hierdurch entsteht ein hochinteressantes, differenziertes und facettenreiches Bild des Westfeldzuges aus verschiedensten Blickwinkeln.
Meine Kenntnisse über den Westfeldzug beschränkten sich bisher im Wesentlichen auf Abiturwissen, und durch dieses Buch sind mir viele Dinge erst richtig klar geworden. So wusste ich bisher nicht, welche Spannungen und Ressentiments innerhalb der alliierten Streitkräfte vorherrschten, und dass in der französische Armee sogenannte „Senegalschützen“, also Soldaten aus den französischen Kolonien in Afrika, kämpften. Diese waren bei Gefangennahme durch die Deutschen in besonderem Maße gefährdet, schwer misshandelt oder erschossen zu werden.
Raffael Scheck gelingt es, die Zeitzeugnisse in einen fundiert recherchierten Kontext zu setzen und mit hilfreichem Hintergrundwissen zu verbinden. So entsteht ein einmaliges Werk, das neben den historischen Eckpunkten des Westfeldzuges vor allem die menschliche Perspektive zeigt. Trotz der schwierigen Thematik liest sich das Buch sehr flüssig.
Scheck setzt in seinem Buch grundlegendes Wissen über die militärischen Aspekte des Ersten Weltkriegs und des Westfeldzug voraus, und gelegentlich musste ich hier zunächst etwas nachlesen (etwa die „Maginot-Line“ und die „Dyle-Linie“ oder Details der Ardennenoffensive). Mein einziger kleiner Kritikpunkt betrifft die im Buch abgedruckte Karte. Zumindest im Ebook enthält diese keine Legende. Einige erläuternde Worte hätten dem Verständnis der eingezeichneten Kürzel und Linien sehr geholfen.
Fazit: Ein äußerst lesenwertes und hochinteressantes Buch, das einen sehr ausführlichen und ausgewogenen Blick auf den Westfeldzug wirft, dessen Ausgang entscheidend für den weiteren Kriegsverlauf war.

Bewertung vom 28.05.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

In „Solito“ beschreibt der Autor Javier Zamora seine eigene Fluchtgeschichte, die ihn als Neunjährigen ohne familiäre Begleitung von El Salvador in die USA zu seinen Eltern geführt hat.
Javiers Erlebnisse haben mich berührt, erschüttert und sehr nachdenklich gestimmt. Ich habe selbst einen Sohn in diesem Alter, und es ist einfach unglaublich, welche gefährlichen und körperlich sowie emotional fordernden Erfahrungen er bereits als Kind machen musste. Javier Zamora schreibt eindrücklich, emotional, lebendig und sehr detailliert. Teilweise war ich sehr überrascht, wie genau Javier sich bis heute an kleinste Dinge der 25 Jahre zurückliegenden Flucht erinnert. Er verwendet viele spanische Vokabeln und Redewendungen, und da ich des Spanischen nicht mächtig bin, war ich sehr froh, dass das Ebook diese komfortabel mit den passenden Stellen im Glossar verlinkt. In der Printausgabe könnte das ständige manuelle Nachschlagen durchaus störend sein – hier also ein klarer Punkt fürs Ebook.
Auch wenn jede Migrationsgeschichte einzigartig ist, so sensibilisiert „Solito“ für das Leid, den Mut und die Strapazen, die Geflüchtete weltweit auf sich nehmen. Ein absolut beeindruckendes und lesenswertes Buch!

Bewertung vom 23.05.2024
Die kurze Stunde der Frauen
Gebhardt, Miriam

Die kurze Stunde der Frauen


weniger gut

Anhand der Kurzbeschreibung hatte ich eine tiefgehende, stichhaltig begründete und differenzierte Analyse der Lebensrealität der Frauen in der Nachkriegszeit und deren Auswirkungen auf das Geschlechterverständnis erwartet. Leider wurde ich enttäuscht. Miriam Gebhardt räumt zwar mit dem Mythos der Trümmerfrauen auf (dies ist allerdings nicht neu), bleibt aber analytisch doch sehr an der Oberfläche. Es fehlt ein stringenter roter Faden, und vieles wiederholt sich in den Kapiteln, zum Teil sogar wortwörtlich. Dem wichtigen Aspekt der Schuldfrage bzw. dem Unschuldsmythos der deutschen Frauen widmet sie leider nur ein kurzes Kapitel. Hier hatte ich mir eine deutlich ausführlichere Auseinandersetzung erhofft. Auch mit Miriam Gebhardts Herangehensweise konnte ich mich nicht anfreunden. Besonders stört mich, dass sie von der aktuellen Warte der Emanzipation heraus urteilend auf die Frauen der Nachkriegszeit blickt. Dies klingt teilweise herablassend und geht für mich an der damaligen Lebensrealität der normalen Bevölkerung unmittelbar nach Kriegsende vorbei: „Der Lohn der Frauen war nicht die Karriere, nicht einmal die gleiche Bezahlung, wenn sie arbeiten gingen, sondern die Würdigung als Überlebenskünstlerinnen. Sie ließen sich davon überzeugen, dass sie beim Einkochen, beim Feilschen auf dem Schwarzmarkt und bei ihren viele km langen Märschen mit schweren Rucksäcken Bedeutendes leisteten.“ Ich kann mir nicht vorstellen, dass etwa im Hungerwinter 1946/47 potentielle Karrieremöglichkeiten für die durchschnittliche Frau maßgeblich waren, und ich sehe ihre Leistung, die Familie unter widrigsten Umständen durchzubringen, durchaus als bedeutend an.
Einige Stellen klingen doch sehr bemüht feministisch, beispielweise wenn die Autorin den Umstand, dass zum Trümmerräumen Frauen vor allem dann zwangsverpflichtet wurden, wenn sie in der NSDAP oder anderen NS-Organisationen politisch aktiv waren, kommentiert mit: „Als müssten sie sich, weil sie sich vermeintlich männlich verhalten hatten, auch männlich im Ertragen der Sühnemaßnahme zeigen.“
Als wirklich ärgerlich empfinde ich, dass Gebhardt zur Unterstützung ihrer Thesen häufig einseitig argumentiert und dabei relativierende Fakten unter den Tisch fallen lässt. So schreibt sie: „Die jungen Frauen müssen die neuen Frauenpflichten, die das NS-Regime verordnet - wie den Reichsarbeitsdienst, den Sanitätsdienst oder Haushaltsausbildungen - in ihre Laufbahn einbauen.“ Hier suggeriert der Begriff „Frauenpflichten“ eine einseitige Belastung der Frauen, doch der Reichsarbeitsdienst ab 1935 galt für beide Geschlechter – er war für junge Männer verpflichtend und für Frauen bis 1939 freiwillig. An anderer Stelle heißt es: „Das Schicksal der oft vaterlos aufgewachsenen Frauen und der Kriegerwitwen, die meistens auf eine tragische Art und Weise miteinander verstrickt waren, stand den Babyboomern als Menetekel vor Augen. (…) Vor diesem Hintergrund – der Weitergabe von Einstellungen zwischen den Generationen – ist meines Erachtens die weltweit unvergleichlich hohe weibliche Teilzeitquote in Deutschland, sprich: die zögerliche Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben, noch immer eine Folgeerscheinung der Nachkriegszeit.“ Hier bleibt unerwähnt, dass in Europa die weibliche Teilzeitquote heute in Österreich, den Niederlanden und der Schweiz deutlich höher ist als hierzulande. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der Neutralität der Schweiz im Zweiten Weltkrieg durchaus relevant, da es der These des Buches zuwiderzulaufen scheint. Ferner spielen für die „Beliebtheit“ der Teilzeitarbeit bei Frauen neben traditionellen Normen noch weitere Faktoren eine Rolle, etwa die konkrete Ausgestaltung des Arbeitsrechts, der Sozialversicherung und die Möglichkeiten der Kinderbetreuung. Auch die Stundenzahl, die unter Vollzeit verstanden wird, variiert innerhalb Europas stark.
Ebenfalls deutliche Unstimmigkeiten weisen die Fallbeispiele im Buch auf. In Kapitel 5 bezieht sich Gebhardt auf ein Klassenbuch von Abiturientinnen aus dem Jahr 1932: Im Abschnitt „Hoch abgesprungen …“ schreibt sie zunächst, dass Ilse mit dem Tod ihres Mannes im Krieg fertigwerden musste. Später in „Verkäuferinnen“ steht jedoch, dass sich Ilse und ihr Mann nach dem Krieg aufgrund der langen Trennung auseinandergelebt hatten und sich dann trennten. Auch das Fallbeispiel um Bernhardine S. in Kapitel 9 weist bezüglich Alters- und Jahresangaben gleich drei Widersprüche auf. Diese Schludrigkeiten lassen bei mir Zweifel an der Sorgfalt der Quellenarbeit aufkommen. Ebenfalls sehr ärgerlich ist, dass in vielen Fallbeispielen die Quelle nicht wörtlich zitiert, sondern bereits zusammengefasst und interpretiert wiedergegeben wird. So kann ich mir als Leser*in kein eigenes Bild machen.
Insgesamt bleibt das Buch weit hinter meinen Erwartungen zurück. Aufgrund zahlreicher Unstimmigkeiten und vieler schwammiger und eher oberflächlicher Aussagen kann ich das Buch leider nicht empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.05.2024
Im Kaiserreich
Hoyer, Katja

Im Kaiserreich


ausgezeichnet

Nachdem ich letztes Jahr bereits Katja Hoyers kontrovers diskutiertes Buch „Diesseits der Mauer“ gelesen hatte, war ich nun sehr gespannt auf „Im Kaiserreich“. Ich hatte schon länger beabsichtigt, mich mit dieser Zeit näher auseinanderzusetzen, die auf vielfältige Weise prägend für das folgende 20. Jahrhundert war. Während viele historische Sachbücher sehr trocken geschrieben sind, lesen sich Hoyers Werke sehr erfrischend, anschaulich und lebendig, stellenweise beinahe locker. Hier spürt man den angelsächsischen Einfluss der in Großbritannien lebenden Autorin. Das Buch legt vor allem Wert darauf, die großen Zusammenhänge deutlich zu machen. An manchen Stellen habe ich die ein oder andere Ergänzung vermisst, doch insgesamt hat mir der Ansatz des Buches sehr gut gefallen. Gerade für Leser und Leserinnen, die (wie ich) ihre Kenntnisse der Kaiserzeit auffrischen möchten, eignet sich dieses Buch hervorragend.

Bewertung vom 16.05.2024
ADAC Roadtrips - Bodensee, Allgäu und Oberschwaben

ADAC Roadtrips - Bodensee, Allgäu und Oberschwaben


ausgezeichnet

Die ADAC Roadtrips für den Bodensee, das Allgäu und Oberschwaben decken einen Bereich ab, im dem ich sehr gerne Tagesausflüge und Urlaube unternehme, da er unweit meines Wohnortes liegt. Der Reiseführer beginnt mit einleitenden Worten zu geographischen, kulturellen und kulinarischen Besonderheiten der Region sowie einem kurzen jahreszeitlichen Überblick. Einige Etappen der fünf beschriebenen Routen kenne und schätze ich bereits, andere sind mir noch neu, und ich werde sie sicher demnächst einmal ausprobieren. Durch die Umsteige-Punkte zwischen den einzelnen Routen ergeben sich schöne Variationsmöglichkeiten. Sehenswürdigkeiten, kulinarische Empfehlungen und Erlebnis-Tipps sind kurz und prägnant beschrieben und werden durch ansprechende Bilder ergänzt, weitere Informationen sind über die enthaltenen QR-Codes leicht abrufbar. Die Routenführung ist ebenfalls per QR-Code verfügbar und kann wahlweise über die ADAC Trips App genutzt oder per GPX-Koordinaten auf das eigene Navigationsgerät geladen werden. Im ebook wäre eine direkte Verlinkung wünschenswert gewesen. Für alle Auto- und Motorradfahrer ein interessanter und übersichtlicher Reiseführer, der einen Überblick über die wichtigsten Ausflugsziele verschafft. Er eignet sich gleichermaßen für Urlauber in der Region wie für Durchreisende, die bereits die Fahrt zum Urlaubsort zu einem schönen und abwechslungsreichen Erlebnis machen möchten.

Bewertung vom 15.05.2024
Im Tal
Goerz, Tommie

Im Tal


ausgezeichnet

Toni Rosser wächst Anfang des 20. Jahrhunderts allein mit seinem Vater auf einem Einödhof in einem abgelegenen Bergtal in der Fränkischen Schweiz auf. Sein Vater ist unberechenbar und wird von allen gemieden, er trinkt und hat für seinen Sohn nur Verachtung und Schläge übrig. Toni hat Angst vor ihm, er stottert, ist einsam und unsicher in Gegenwart anderer.
Die Erzählung beginnt mit dem Tod Toni Rossers 1968 und schildert aus auktorialer Perspektive Tonis Lebensgeschichte. Der Schreibstil ist klar und direkt, mit kurzen, einfachen und dennoch starken, berührenden Sätzen, die Tonis Innenleben sehr eindrücklich darstellen. Von Anfang konnte ich mich sehr gut in Toni einfühlen, seine Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe spüren, und ich hätte den kleinen Toni am liebsten immer wieder in den Arm genommen. Die Dämonen des gewalttätigen Vaters verfolgen ihn und lassen ihn keine Ruhe finden. Da Toni nie menschliche Nähe und Wärme kennengelernt hat, ist es ihm nicht möglich, seine emotionalen Bedürfnisse und Gefühle zu zeigen. Nach außen wirkt er wie ein komischer, gefühlsreduzierter Kauz, doch in seinem Inneren sieht es völlig anders aus. Niemand ahnt, welche Empfindsamkeit sich hinter seiner unbeholfenen und wortkargen Art verbirgt.
Toni ist ein Getriebener, der durch sein Leben und die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts stolpert, der rastlos ist und nie wirklich ankommt, den es fortzieht aus dem Tal und der dennoch nicht davon loskommt.
Meisterhaft zeigt Tommie Goerz, wie sich Kindheitstraumata über Generationen auswirken. Die Unfähigkeit zu echter zwischenmenschlicher Nähe ist im Roman allgegenwärtig, auch die Dorfgemeinschaft versagt darin, Toni Rosser in ihre Mitte aufzunehmen. Als Sohn seines Vaters ist er von Kindheit an ein Ausgestoßener. Nur die Frauen des Nachbargehöfts begegnen ihm mit Wohlwollen, bleiben dabei jedoch auch unbeholfen.
Einmal angefangen, hat mich dieses Buch nicht mehr losgelassen und ich habe es binnen eines Tages verschlungen. Tonis Geschichte hat mich tief berührt, und sie ist auch eine Mahnung, genauer hinzusehen und hinter die Fassaden zu blicken. Dieses Buch ist für mich definitiv eine der Entdeckungen dieses Frühjahrs und ich kann es nur wärmstens weiterempfehlen!