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darkola77

Bewertungen

Insgesamt 72 Bewertungen
Bewertung vom 28.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Mit Fokus, Schärfe und einer Brennweite, die den Einzelnen hervortreten lässt – Daniel Kehlmann ist mit „Lichtspiel“ großer Roman und Pageturner zugleich gelungen. Obwohl das Sujet so schwer ist. Und die Geschichte selbst dafür umso faszinierender.
Denn Hauptdarsteller seiner Erzählung ist der Österreicher G. W. Pabst, eine historische Figur und zugleich Ausgangspunkt von Kehlmanns ganz eigener „Dichtung und Wahrheit“. An den Fersen des großen Regisseurs entrollt sich dann die Zeit des Zweiten Weltkriegs, der fortschreitenden Zerstörung von Freiheit, Leben, Mensch und Menschlichkeit sowie die Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Macht zueinanderstehen. Und ob und in wieweit Wunsch oder Drang nach einem unabhängigen kulturellen Schaffen in einem System der Unterdrückung ihre Berechtigung finden.
Und in genau diesem Spannungsverhältnis befindet sich Pabst als er zurück nach Österreich kehrt, inzwischen angeschlossen an das „Großdeutsche Reich“ – und es mit seiner Familie nicht mehr vermag, die inzwischen sogenannte „Ostmark“ wieder zu verlassen. Wie geht es nun weiter mit den großen Ambitionen eines ehemals auch großen Regisseurs, der Greta Garbo ins Rampenlicht führte und doch selbst an seinem Fluchtpunkt Hollywood klein und unbedeutend zu werden drohte?
Die Antwort darauf ist für Pabst eindeutig: Die Kunst selbst will er auf den Thron heben! Ein Meisterwerk nach dem anderen schaffen. Und das Regime, das ihm das ermöglicht, unter besten Bedingungen? Bedingt seine Filme, findet sich in einer jeden Szene, in jeder Einstellung wieder und soll, wenn es nach Pabst selbst ginge, doch nur Mittelgeber sein.
Ein schier unlösbarer Konflikt, ein Patt, eine innere Zerrissenheit, der so viele Menschen und auch Künstler*innen im sogenannten Dritten Reich ausgesetzt waren. Die Folgen, die sind für jeden individuell, ganz eigen, doch kollektiv nähern sich Ethik und Moral dem Abgrund, verschwimmen die Grenzen von Recht und Unrecht, und die „Freiheit der Kunst“ sind nur mehr Worte. Leer.
Reich gefüllt und voll von Ideen, Inspirationen und einer Sprache, so präzise und klingend zugleich, ist dagegen das Meisterwerk, das Kehlmann zu schaffen vermag. Und sein „Lichtspiel“ entfaltet sich wie ein Film vor den Augen der Leser*innen, lässt Wörter und Text vor den Augen verschwimmen und leuchtende Bilder und Figuren vor einem scharfen Hintergrund entstehen. Und diese noch lange nachwirken – in Geist, Herz und Verstand seiner begeisterten Zuschauer*innen.

Bewertung vom 10.10.2023
Die Regeln des Spiels
Whitehead, Colson

Die Regeln des Spiels


sehr gut

Harlem in den 70ern ist ein heißes Pflaster! Und Schauplatz für eine aufregende Geschichte. Oder auch vieler Stränge und Erzählungen, die gleich einem großen Mosaik jede ihren ganz eigenen Reiz und Charme hat und in ihrer Fülle ein großes, leuchtendes Gesamtbild ergeben.
Verbindendes Element und Charakter des Einzelnen und Ganzen ist dabei Ray Carney, ein passionierter Möbelverkäufer und ebenso großer Liebhaber funkelnder Steine und teurer Schmuckstücke – die durch seine Hände auch gerne mal den*die Besitzer*in wechseln. Und auch eine kurze Phase der „kriminellen Abstinenz“ kann nichts daran ändern, dass er eine feste Größe in der Unterwelt Harlems ist – was für ihn und seine Lieben nicht ohne Folgen bleibt.
Doch dies ist nur Auftakt und Zentrum einer Gangsterkomödie, die in ihrer Dichte, Konzentration und Raffinesse es vermag, eine Vielzahl an Figuren, Schauplätzen und Verbrechen zu vereinen und in einen Kontext mit Bezügen zu Musik- und Filmszene und politischen und sozialpolitischen Entwicklungen ihrer Zeit zu stellen.
Hört sich abwechslungsreich an? Ist es auch. Klingt anspruchsvoll? Auch das trifft zu – und nach Lesestunden, die streckenweise nicht nur Aufmerksamkeit und Konzentration der Leser*innen einfordern, sondern auch Anstrengung und die Bereitschaft voraussetzen, sich Handlung und deren Fortgang bewusst anzueignen.
Doch zu den „Regeln des Spiels“ zählt auch die Belohnung des*der Sieger*in – und hier derjenigen, welche sich auf den Facettenreichtum der Geschichte eingelassen und so eine Welt der Kriminalität und Verstrickungen, der Blut und Gewalt betreten haben. Transportiert mit viel Witz, Komik und schwarzem Humor. Und in Form einer Lektüre, die Meisterwerk, Arbeit und Vergnügen zugleich ist.

Bewertung vom 25.09.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


ausgezeichnet

Jung, frech und ungeschönt ungeschminkt – Nora Haddada gibt uns mit „Nichts in den Pflanzen“ einen Ein- und Tiefblick in die Kunstszene Deutschlands und das Hamsterrad der Kulturschaffenden und derer, die in der Startposition stehen. Das Ergebnis und der Weg dahin sind ebenso amüsant, unterhaltsam wie tief ernüchternd und ein Abgesang auf den Glauben, dass Kreativität und Genialität Nährboden und Goldgrube zugleich sind.
Ihrer Protagonistin haben Leben, Neid und Missgunst und vor allem Leistungsdruck von innen und außen da auch gleich doppelt und dreifach mitgespielt. Was daraus folgt ist nicht nur folgerichtig, sondern auch der Alptraum ein*er jedes*n Schaffenden:
Eine Schreibblockade hat Leila fest im Griff! Und der Abgabetermin ihres Drehbuchs rückt näher und näher – und ihr Freund Leon wird erfolgreicher und erfolgreicher. Eine sehr schlechte Kombination, die Leila fast zum Wahnsinn treibt und sie zu äußersten Mitteln greifen lässt, um ihr Schreiben und ihren Flow gleich dazu wiederzufinden. Doch die Nebenwirkungen all dieser Bemühungen und Einfälle, die selbst nur so vor Kreativität strotzen, sind zahlreich – ebenso wie die Negronis und Espresso Martini, die in langen Partynächten durch Leilas Kehle rinnen.
Und wie die Ratte im Labyrinth oder die unbekannte Fliegenart, die sich in Leilas Computer, Wohnung und Gedanken einnistet, sucht auch Leilas verzweifelt nach einem Ausweg aus ihrer Lage und dem fehlenden Ende ihres Kammerspiels, das sich nach einem kurzen Aufleuchten ihr einfach nicht mehr zeigen mag.
Und hier gelingt Haddada ein großer Coup, ebenso verborgen beim ersten Lesen, der sich in seiner Selbstreferenz jedoch nach und nach in den Gedanken der Leser*innen entblättert, wie das Herz einer Artischocke, nur zu erahnen unter ihrer Vielzahl an Blättern. Was bleibt sind ein Feuerwerk an Dialogen und Einfällen, ein tiefer Einblick in die Seele eines Kunstbetriebs, der einem Überlebenskampf zu gleichen scheint, und eine Geschichte, so wunderbar und verstörend zugleich. Und eine klare Leseempfehlung von meiner Seite.

Bewertung vom 15.09.2023
Das dritte Licht
Keegan, Claire

Das dritte Licht


ausgezeichnet

Es fehlt – an Zuneigung, Aufmerksamkeit und auch Geld. Die Verhältnisse, in welchen die junge Ich-Erzählerin im Irland des vergangenen Jahrhunderts aufwächst, sind von Mangel gezeichnet. Das Mädchen und ihre Geschwister erscheinen weitestgehend sich selbst überlassen zu sein, Talente, Fähigkeiten und Bedürfnisse finden keine Nahrung, um zu wachsen und erblühen.
Doch für einen Sommer ist alles anders. Das Mädchen wird zu ihrer Tante und ihrem Onkel nach Wexford geschickt, zur Entlastung der erschöpften, hochschwangeren Mutter und aus den Augen des Vaters, der vor allem mit seinen eigenen Leben beschäftigt zu sein scheint.
Und dann, im tiefsten Nirgendwo, öffnet sich die Tür zu einem Paradies: Die Verwandten kümmern sich liebevoll um das Kind und geben ihm all das im Überfluss, was bisher so schmerzlich gefehlt hat und dringend notwendig war. Die kleine Nichte blüht unter der Aufmerksamkeit und tiefen Hingabe der Kinsellas auf und macht in nur wenigen Wochen eine bemerkenswerte Entwicklung durch. Doch ein Sommer kann nicht ewig wehren.
Claire Keegan gelingt es mit nur wenigen Worten und auf nicht einmal 100 Seiten eine Atmosphäre zu schaffen, welche die Leser*innen tief in das ländliche Irland seiner Zeit und das Herzen eines Kindes zieht, das mit seiner Neugierde, Lebensfreude und Suche nach Schutz und Liebe eine Vielzahl an Gefühlen anzusprechen vermag. Die Sprache selbst, poetisch und sorgsam gewählt, ist reduziert und zugleich reich an Bildern und Symbolen und von einer Intensität, die sie bis in die Tiefe von Handlung und Figuren vordringen lässt.
Das Büchlein nach diesem eindringlichen Leseerlebnis wieder aus der Hand zu legen, fiel nicht leicht – zu sehr habe ich mitgelitten mit der kleinen Protagonistin und bin mit ihr gemeinsam durch die reiche grüne Landschaft und die Zeit eines unbeschwerten Sommers geschritten. Was bleibt, ist das Wissen um ein Werk von hoher literarischer Qualität und die Hoffnung für Kinder wie das kleine Mädchen, die so viel mehr verdienen als ihnen gegeben wird.

Bewertung vom 14.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


sehr gut

Digital Detox, Offline statt Online, seine eigenen Gewohnheiten durchbrechen – Mila ist bereit, aus der digitalen Welt herauszutreten. Schritt für Schritt. Erst ganz langsam, dann immer schneller.
Ihre Motive scheinen hierbei von Furcht und Angst getrieben: Von fremden Menschen, der Community, dem gesichtslosen Mob gecancelt, gemobbt zu werden, ist ein Schreckgespenst, dem Mila auf jeden Fall entkommen will. Und mit allen Mitteln und auf sämtlichen Wegen: Denn was mit dem Verzicht auf Social Media beginnt, nimmt zunehmend an Fahrt auf und erhält seine ganz eigene Dynamik.
Immer entschlossener, zunehmend wahllos löscht, blockt und bereinigt Mila ihr altes Leben bis ihr Ziel erreicht zu sein scheint: Die Google-Suche ihres eigenen Namens führt zu keinem Ergebnis. Doch ein Ende ist für Mila noch lange nicht erreicht, sie scheint die Stoppschilder zu übersehen. Den Ausschalter nicht mehr zu finden. Und damit geht der Rückzug aus der digitalen Welt Hand in Hand mit dem Verlust von Freundschaften und sozialen Beziehungen in der „real world“, mit einem Abschotten, Vereinsamen und schließlich der totalen Isolation.
Glück, Zufriedenheit oder innere Ruhe kann Mila durch ihren radikalen Schnitt jedoch nicht erlangen. Ganz im Gegenteil: Mehr denn je ist sie ist getrieben von Phobien und der Panik, durch Elektrosmog und Datenübertragung krank zu werden, schier alles wird zur Gefahr und Bedrohung. Die Flucht vor der Zivilisation erscheint als einziger Ausweg, doch wo beginnt Wahn und endet die Wirklichkeit?
Jenifer Becker schildert eindrucksvoll und erschreckend realistisch, wie sehr unsere tägliche Leben durch Internet und Digitalisierung bereits miteinander vernetzt, verbunden und verflochten sind. Eine radikale Abkehr scheint kaum mehr möglich – und nur unter der Prämisse, Verluste auch in der realen Welt zu erleiden bis hin zu einer totalen Handlungsunfähigkeit in dieser. Ein Dilemma? Der Roman lässt mich nachdenklich zurück.

Bewertung vom 02.09.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht! Das gilt für die sich selbst als Clara bezeichnende Erzählerin des neuen Romans von Friedemann Karig nicht, denn sie hat die Lüge zur Perfektion erhoben. Und ihre Geschichten hat Clara so mit der Wahrheit verwoben, das sie sich von dieser kaum noch extrahieren lassen – weder von ihr selbst, noch vom Schicksal.
Denn alles, was Clara erzählt, wird wahr. Zumindest drängt sich ihr diese Befürchtung nach und nach auf, erschreckt sie und bringt ihre Welt ins Wanken – eine Welt, die bereits auf Lug und Betrug aufgebaut ist. Als Astrologin einer Telefonhotline vermag Clara es, die geheimsten Sehnsüchte, Ängste und Träume ihrer Kund*innen aufzuspüren und sie mit dem zu füttern, wonach sie gieren: die Hoffnung auf ein besseres Leben und eine Gerechtigkeit, die abschließend belohnt und bestraft.
Eingerichtet und geborgen in einem Kokon von Geschichten und Prophezeiungen geschieht es dann: Claras Vorhersagen treten ein! Immer wieder. Und auf eine schier unglaubliche Weise. Sie scheinen der Schlüssel zum Paradies zu sein, zu einem Geldsegen, der Sorgen vergessen lässt und Clara all die Türen öffnet, die ihr bisher verschlossen waren.
Diesen Garten der Möglichkeiten erkennt auch Siri, Claras ehemalige Kundin und nun goldschwer und steinreich. Gemeinsam machen sich sich auf, um das Schicksal zu verstehen und es zu ihrem Vorteil zu nutzen.
So glauben wir als Leser*innen zumindest – und so scheint es zu sein. Vermutlich. Vielleicht. Oder? Denn eine weitere Erzähleben bringt sowohl Verstehen als auch neue Zweifel, Spannung und einen weiteren Handlungsstrang. Denn wir erleben die Geschehnisse in einer Rückschau, vorgetragen einer Beraterin in einer teuren Privatklinik. Kann sie Licht ins Dunkel bringen und das Unerklärliche aufklären?
Friedemann Karigs „Die Lügnerin“ führt die Leser*innen auf Wege und Fährten, die zu Irrwegen werden und schließlich Verstehen, Erleuchtung und die große Täuschung nebeneinanderstellen. Die Schritte dahin sind ebenso geistreich wie unterhaltsam, voll Witz und mit zunehmender Spannung. Und ich müsste lügen, würde ich sagen, dass ich die Lektüre nicht sehr genossen habe.

Bewertung vom 19.08.2023
Cleopatra und Frankenstein
Mellors, Coco

Cleopatra und Frankenstein


ausgezeichnet

Don’t judge a book by its cover! Und so, wie man auch Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen sollte, habe ich mir fest vorgenommen, dem intensiven Blick aus den grünen Augen auf dem Cover zu widerstehen. Und den Hype und die fulminanten Rezensionen beiseite zu wischen und mir mein eigenes Urteil über „Cleopatra und Frankenstein“ zu bilden.
Und den Weg dahin zu genießen.
Dies habe ich dann auch getan, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel. Und bin dabei tief eingetaucht in die Geschichte um Cleo und Frank, die von einer klassischen Liebesgeschichte mit fortschreitender Handlung zunehmend entfernt zu sein scheint. Doch gibt es überhaupt die eine Geschichte über große Gefühle, Nähe, Für- und Miteinandersein?
Liebe ist es denn auch, was Cleo und Frank füreinander empfinden, und aus Liebe heiraten die beiden nach nur wenigen Monaten Beziehung. Wie auch aufgrund der Aufenthaltserlaubnis, die Cleo so dringend benötigt. Und genau hier scheint der Kern dessen zu liegen, was sich im Weiteren entwickelt: ein verspätetes Kennenlernen von sich als Paar und des*der jeweils anderen, der Prozess und Versuch, aus zwei einzelnen, gegensätzlichen Personen ein Gemeinsames zu schaffen. Und sich dabei selbst nicht zu verlieren.
Gerade Letzteres ist eine steile Klippe für Cleo, selbst noch auf der Suche nach der eigenen Identität und Ausdrucksformen für sich als Mensch und Künstlerin. Frank dagegen ist ihr auf dem Weg der Selbstfindung und -entwicklung bereits viele Jahre voraus, jedoch nicht weniger verletzt und gebrochen als Cleo es ist. Und ihr damit weder eine Stütze noch der starke Partner, der ihr in einer Sinn- und Schaffenskrise beizustehen vermag.
Hört sich nach Schwere und Traurigkeit an? Ist es – auch. Aber bei weitem nicht nur. Vielmehr ist die Geschichte ein wunderbares Lesevergnügen, nicht zuletzt aufgrund des Reichtums an schillernden Figuren in Cleos und Franks Umfeld. Und aufgrund des Schreibstils einer Autorin, die mit Witz, Originalität und Lebendigkeit eine Geschichte geschaffen hat, die mitreißt und begeistert. Und die einen Sog verursacht. Und eine Lawine losgetreten hat.

Bewertung vom 28.07.2023
Die einsame Stadt
Laing, Olivia

Die einsame Stadt


sehr gut

Was ist Einsamkeit? Olivia erfährt dies hautnah – am eigenen Leib und Psyche, als sie sich auf den Weg nach New York zu ihrem Freund macht. Und die Beziehung noch vor dem Start in ein gemeinsames Leben in die Brüche geht.
Was folgt, ist eine intensive Auseinandersetzung mit einem Gefühl, das viele von uns fürchten. Und doch so häufig durchleben und durchleiden. Im Zuge der Auf- und Verarbeitung begibt sich Olivia auf eine Spurensuche danach, wie New Yorker Künstler*innen ihre Stunden, Lebensabschnitte oder gar ihre gesamte Existenz in Einsamkeit verbracht haben. Und wie sich dieser Zustand auf ihr Schaffen und Werk ausgewirkt hat.
Die Biographien, die Laing vor diesem Hintergrund den Leser*innen ausrollt, sind nicht nur überaus interessant und ergiebig, sondern auch ein wilder Ritt durch die vergangenen Jahrzehnte der Kunstszene einer Stadt, die Quelle des Schaffens, Schöpfens, Gebärens ist. Und das in Teilen unter Qual und Schmerzen.
Und eben diese vermittelt Laing in eindringlicher und bedrückender Genauigkeit in ihrer Kontextualisierung: der Ausbruch der Aids-Pandemie, die hiermit einhergehende Stigmatisierung der Betroffenen und gesamter Bevölkerungsgruppen sowie das menschenverachtende Reden und Handeln der Regierung Reagans. Gelitten und gestorben wurde ausgegrenzt von der Gesellschaft, der Unmoral und der eigenen Schuldhaftigkeit bezichtigt, in Isolation, unter Schmerzen. In Einsamkeit.
Bereits im Jahre 2016 ist „The Lonely City“ erschienen und damit noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Die Möglichkeit, Aussagen bezüglich der Ausbreitung des HI-Virus, den hiermit verbundenen Ängsten, Ausgrenzungen, Quarantänen in einen aktuellen Kontext zu stellen und diesbezüglich in ihrer Gültigkeit und einem möglichen Nicht-Begreifen-Können zu überprüfen, bestand somit nicht. Umso mehr hätte ich mir gewünscht, dass vor den erschreckenden Erfahrungen der vergangenen Jahre der Text vor seinem Erscheinen im Deutschen redaktionelle Anmerkungen bzw. Überarbeitungen erfahren hätte.
Und doch: Ich bin sehr bereichert aus dieser für mich überraschenden und eher ungewöhnlichen Lektüre hervorgegangen. Denn wer sich einen fiktionalen Text erhofft, wird bei „Die einsame Stadt“ nicht fündig werden. Wer sich allerdings dem Leben und Schaffen der bedeutendsten bildenden Künstler*innen der Moderne öffnen und die Auseinandersetzung mit einem der wohl grundlegendsten Gefühle der Menschheit nicht scheuen möchte, sollte sich von Laing durch die Straßen und Schluchten New Yorks führen lassen.

Bewertung vom 18.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


ausgezeichnet

Aberwitzig, todtraurig, dreist und schamlos – Alex‘ Leben gleicht einer Achterbahn. An Gefühlen. An Höhen und Tiefen. Und der Geschwindigkeit, mit der es von einem Extrem ins andere ausschlägt.
Was allerdings gleichbleibend ist: Alex will nie wieder arm sein. Nicht mittellos und auch nicht Mittelmaß. Alex will hoch hinaus. Luxus und das unbeschwerte Leben der oberen Zehntausend. Und das ganz schnell und ohne selbst einer müßigen Tätigkeit nachzugehen. Allerdings mit vollem Einsatz, denn Alex ist Geliebte, Freundin, Schmuckstück und Begleitung.
Mit dieser Strategie hat sie es an die Seite von Simon und zu einem Sommer in den Hamptons gebracht. Alles scheint perfekt, Alex am Ziel angekommen und bereit, dafür alles zu geben und sich selbst aufzugeben. Doch dann wendet sich das Blatt, und die Fallhöhe ist tief – ebenso wie die Verzweiflung und die geradezu absurde Hoffnung und der Plan, ihren vormaligen Platz wieder einzunehmen.
Was dann folgt, ist für den*die Leser*in eine wunderbare Unterhaltung, ein fesselndes Leseerlebnis und der Einblick in einer Welt, die für gewöhnliche Augen im Allgemeinen verschlossen ist. Für Alex selbst ist es jedoch die reine Verzweiflung und der Kampf gegen den Untergang, die sie von Tür zur Tür und von Zufallsbekanntschaft zu Verabredung treiben und sie dabei doch immer tiefer sinken lassen.
Und auch die Spur der Zerstörung, die sie bei ihrem Ringen um das Überleben auf der Sonnenseite hinterlässt, ist gewaltig. Die Taschen voll Gold sind es zwar nicht, die Alex in fremder Leute Häusern füllt, doch das eine oder andere Schmuckstück wechselt den*die Besitzer*in, und manchmal sind es auch die Herzen, die brechen.
Mein Herz hat Alex ebenso im Sturm erobert – auch wenn sie ihr tragikomischer Streifzug durch Betten und Leben in einem durchaus zweifelhaften Licht erscheinen lässt, der Kritik all derjenigen ausgesetzt, die persönlichen Stolz und Unabhängigkeit über das angenehme, wenn auch nicht sorgenfreie Leben einer Maitresse stellen. Und doch habe ich bei jedem ihrer Schritte mitgefiebert, ihr bei jedem neuen Auftakt Glück, Geld und Gelingen gewünscht und mir persönlich, dass dieses wunderbare Buch noch lange nicht endet.

Bewertung vom 15.07.2023
Das Summen. Die Ereignisse am Sequoia Crescent
Tannahill, Jordan

Das Summen. Die Ereignisse am Sequoia Crescent


ausgezeichnet

Ein Rätsel, Geheimnis, Mysterium – zu all dem entwickelt sich für Claire das Summen, das plötzlich in ihr Leben tritt. Sie verfolgt, belastet, verstört. Und es schließlich vermag, ihre gesamte Welt zu erschüttern und Gewohntes und Bekanntes in Frage zu stellen.
Denn das, was erst so einfach und unbedeutend daherkommt, entwickelt eine enorme Spreng- und Zerstörungskraft. Und diese reicht weit über Claires hinaus. Hinein in das Leben von Kyle, einem jungen Mann und Schüler Claires an das örtlichen Highschool, und weiterer Betroffener in der direkte Nachbarschaft. All dies nährt die Vermutung, dass es sich bei dem Summen um ein Phänomen unbekannten Ausmaßes handelt – und mit scheinbar nicht zu lokalisierender Ursache, wie Claire und Kyle bei ihren gemeinsamen Recherchen erfahren müssen.
Und was dann folgt, ist ebenfalls nicht vorhersehbar und alles andere als gewöhnlich. Denn das Summen setzt Prozesse und Kräfte in Gang, die sich in jeder Hinsicht der Kontrolle des*r jeweils einzelnen entziehen: sei es mit Blick auf das soziale Gefüge der Betroffenen selbst und ihres direkten Umfelds, sei es von scheinbar weltumspannender oder gar allumfassender Natur.
Und da sind sie dann – die Anklänge an Themen, die unsere Gesellschaften in vergleichbarer Form in den vergangenen Jahren geprägt und bewegt haben: gezielte Desinformation, Fakenews und Pseudowissenschaften, die gerade in Zeiten der Pandemie die Menschen zu spalten vermochten und in Teilen auf abtrünnige und gefährliche Pfade geführt haben. Die Auswirkungen spüren wir bis heute, vermutlich noch für lange Zeit, und sie vermögen weiterhin, Gemeinschaften zu destabilisieren.
Doch damit nicht genug: Auch die Geschlechterfrage findet sich in der Erzählung wieder, erhält einen ganz eigenen Exkurs und Bedeutung in der Entwicklung der Handlung. „Die entfesselte Weiblichkeit“ und die Furcht der patriarchalen Gesellschaft vor dieser treibt scheinbar nicht nur Claires soziale Isolation voran, sondern durchzieht die westliche Geschichte wie ein roter Faden – weit über die Gegenwart hinaus.
Auch das Leseerlebnis ist für mich nicht mit der letzten Zeile abgeschlossen, sonst klingt in mir nach, setzt sich in meinen Gedanken fort. Denn so überraschend das Summen in Claires Leben tritt, so hält auch der Roman so viel Unerwartetes und Wunderbares für mich bereit. Ist für mich eine wahre Überraschungsbox. Eine Reise ins Unbekannte. Und eine große Leseempfehlung.