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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 10.04.2018
Der Reisende
Boschwitz, Ulrich Alexander

Der Reisende


ausgezeichnet

Nachhaltig beeindruckend und in jeder Weise ungewöhnlich ist der erst kürzlich als Manuskript von 1938 wiederentdeckte und nun 80 Jahre später von Peter Graf in deutscher Erstausgabe überarbeitete, im März beim Verlag Klett-Cotta erschienene Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942). Ungewöhnlich deshalb, weil Boschwitz, als Halbjude schon seit 1935 im Exil auf der Flucht, diesen eindrucksvollen Roman als 23-Jähriger schrieb. Ungewöhnlich auch, dass dieser Roman schon 1938 direkt nach den Novemberpogromen geschrieben wurde, als noch niemand den Holocaust ahnte. Ungewöhnlich schließlich die Geschichte dieses tiefgründigen Romans, der in England bereits 1939 als „The man who took trains“ veröffentlicht wurde, aber noch nie in Deutschland, obwohl sich bereits Heinrich Böll frühzeitig dafür eingesetzt hatte. Doch in den Fünfzigern wurden Themen wie Judenpogrom und Holocaust abgelehnt. So geriet der Roman in Vergessenheit. Deshalb ist es ein unschätzbarer Verdienst des Herausgebers Peter Graf, sich dieses Textes jetzt angenommen zu haben. Nachhaltig beeindruckend ist dieser Roman deshalb, da der Autor die wenigen Tage der ziellosen Flucht des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann minutiös schildert, dabei auf bedrückende Weise den Alltag und die Gefühlswelt seiner unterschiedlichen Figuren uns miterleben lässt. Während eines Nazi-Überfalls in seiner Berliner Wohnung gelingt es Otto Silbermann zu fliehen, wobei er seine arische Ehefrau zurücklässt, die bei ihrem Bruder in Küstrin Schutz findet. Silbermann steht unvermittelt auf der Straße – ohne Plan, ohne Ziel, mit wenig Geld in der Tasche. Als sich vermeintliche Freunde und Geschäftspartner von ihm abwenden, um ihr eigenes Leben, ihre eigene Karriere nicht zu gefährden oder – noch schlimmer – persönlichen Nutzen aus Silbermanns Notstand zu ziehen, und er sich ängstigt, in Hotels zu nächtigen, kauft er sich das erste Bahnticket. Eine Bahnfahrt folgt auf die andere, kreuz und quer zwischen Hamburg und München, Dortmund und Berlin. Silbermann versucht, als Bahnreisender für die Nazi-Schergen unauffindbar zu sein. Das wirklich Beeindruckende an dem Roman des 23-jährigen Autors sind die Gespräche Silbermanns mit seinen Mitreisenden, früheren Freunden und Geschäftspartnern. Er trifft auf Flüchtlinge und Nazis, auf gute wie auf schlechte Menschen. In diesen Dialogen und vor allem in Silbermanns Selbstgesprächen lässt der Autor uns die Atmosphäre im damaligen Deutschland authentisch nachempfinden. Tragisch wird Silbermanns Situation vor allem, als er in seiner Verzweiflung nicht nur den Nazis, sondern allen anderen Juden die Schuld an seinem Unglück gibt und selbst wie ein Nazi argumentiert: „Ich unterscheide mich durch nichts von anderen Menschen, aber vielleicht seid ihr [Juden] wirklich anders und ich gehöre nicht zu euch. Ja, wenn ihr nicht wärt, würde man mich nicht verfolgen. Dann könnte ich ein normaler Bürger bleiben. Weil ihr existiert, werde ich mit ausgerottet. Dabei haben wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun.“

Bewertung vom 08.04.2018
Memory Wall
Doerr, Anthony

Memory Wall


ausgezeichnet

Ungewöhnlich wie ein Puzzle ist die Novelle „Memory Wall“ des amerikanischen Schriftstellers Anthony Doerr (44), die 2016 erstmals auf Deutsch, jetzt im Februar als btb-Taschenbuch erschien. In den USA kennt man sie schon seit 2010, doch erst Doerrs u.a. mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman „Alles Licht, das wir nicht sehen“ (2014) machte diesen hervorragenden Autor in Deutschland bekannt, so dass seitdem auch frühere seiner Werke übersetzt wurden. Die „Memory Wall“ ist eine Wand in dem hoch über Kapstadt gelegenen Haus der 74-jährigen Alma Konachek, an der die stark an Demenz Leidende ihre verlorenen Erinnerungen in Fotos, Notizzetteln und einer Vielzahl von Kassetten festhält. Was wäre der Mensch ohne seine Erinnerungen, fragt uns der Autor und gibt mit seiner Protagonistin die Antwort: Ein hilfloses Wesen, das sich ziellos durchs Leben bewegt, rund um die Uhr von der Fürsorge ihres schwarzen Pflegers Pheko abhängig. Nur die Erinnerungen an Vergangenes wie an ihren verstorbenen Ehemann Harold geben Almas Leben noch Sinn und Struktur. Denn zum Glück ist es – zumindest in Doerrs Novelle - Kapstädter Ärzten gelungen, verlorene Erinnerungen mittels eines futuristischen Gehirnstimulators in den verborgenen Ecken des menschlichen Gehirns abzurufen und auf Kassetten abzuspeichern, so dass Demenzkranke wie Alma diese Erinnerungen an die Jugend, an gemeinsam verlebte Ehejahre, an wichtige Momente des Lebens zuhause jederzeit nach Belieben „wie eine Droge“ konsumieren können. Doch wie oft bei Entdeckungen wird auch diese vom Autor erdachte Technik missbraucht: Ehemann Harold hatte vor Jahren außerhalb Kapstadts ein sensationelles Fossil entdeckt, versteinerte Erinnerung an urzeitliches Leben. Durch Harolds plötzlichen Tod blieb der Fundort aber unentdeckt. Nur Alma könnte ihn kennen, kann sich aber nicht mehr daran erinnern. Deshalb ist Schwarzmarkthändler Roger Tchoni auf der Suche nach dieser einen Kassette, auf Almas Erinnerung gespeichert sein könnte und bedient sich dazu des 15-jährigen Waisenjungen Luvo, der – ohne eigene Erinnerung aufgewachsen und von den Medizinern als Versuchsobjekt missbraucht – durch seine Kopfimplantate fähig ist, Almas Erinnerungsbibliothek – ein Menschenleben in Kassetten – bei nächtlichen Einbrüchen in ihr Haus zu sichten. Wie Alma sich selbst im Laufe dieser kurzen, nur 144-seitigen Novelle ihre auf Kassetten gespeicherten Erinnerungen völlig unsortiert in loser Folge abruft, so erfahren auch wir Leser die Handlung nur bruchstückweise und müssen uns die 40 kurzen Kapitel, in denen Zeit, Orte und Personen ständig wechseln, selbst zu einer chronologischen Lebensgeschichte Almas wie ein Puzzle zusammensetzen, also uns im Fortgang der Lektüre an Gelesenes wieder erinnern. Wir sind also mehr gefordert, als nur eine Handlung zu lesen. Die unsortierte, lockere Folge kurzer Szenen und meist ebenso kurzer Sätze regt den Leser zu Phantasie, zum Mitdenken und Nachdenken an. Vielleicht regt sie und sogar an, die eigenen Erinnerungen für unsere Kinder und Enkel in Fotoalben sicher abzuspeichern. Denn was bleibt sonst von uns ohne die Erinnerungen?

Bewertung vom 06.04.2018
Schüssler und die verschwundenen Mädchen
Glass, Viktor

Schüssler und die verschwundenen Mädchen


gut

Eine unterhaltsame, zugleich historisch interessante Lektüre ist der in Augsburg und Umgebung angesiedelte Kriminalroman „Schüssler und die verschwundenen Mädchen“ von Viktor Glass (68), im April beim Pendragon-Verlag erschienen. Doch liefert der seit 15 Jahren in Augsburg lebende Autor, Verfasser mehrerer historisch-biografischer Romane, mit diesem Krimi ein auch über die regionalen Grenzen hinaus gültiges Bild des gesellschaftlichen Umbruchs am Ende des 19. Jahrhunderts. Zwanzig Jahre nach Gründung des Deutschen Reichs und der Eingliederung des bayerischen Königreiches müssen sich die Einwohner der alten Fuggerstadt auf eine neue Gesetzgebung, eine neue Währung und manche andere unliebsame Veränderung einstellen. Die Stadt wird gerade zum Zentrum der Textilindustrie und des Maschinenbaus. Der technische Fortschritt wirkt sich nachteilig auf die Arbeiterschaft aus. Wo früher Handarbeit verlangt war, ersetzen jetzt Maschinen den Menschen. Viele verlieren ihren Arbeitsplatz, allen voran weibliches Hauspersonal und Arbeiterinnen. Nicht wenige wählen in dieser aussichtslosen Situation den Freitod oder verschwinden spurlos. Auch der Soldat Augustin Hipp vermisst seine junge Verlobte Luise Habenicht und sucht Hilfe bei Privatermittler Ludwig Schüssler. Dieser macht sich, unterstützt von der resoluten Haushälterin Caroline Geiger, auf die Suche nach der Vermissten. Da auch andere Mädchen unauffindbar sind, kommt bald der Verdacht des organisierten Mädchenhandels auf. Auch die Tat eines Serienmörders ist nicht auszuschließen, als Schüssler in einer alten Keltenschanze auf menschliche Knochen stößt. Zum Glück gelingt es Schüssler aber, nach spannender Ermittlungsarbeit auch diesen Fall erfolgreich abzuschließen und nicht nur Hipp und seine Verlobten glücklich zu machen. Das Buch ist wahrlich kein reißerischer Thriller, sondern eher eine zeitgetreue Millieu-Studie. Eingebettet in die Krimi-Handlung erfährt man vieles über die Zeit der Jahrhundertwende, über den gesellschaftlichen Umbruch. Doch obwohl Fachwissen bei historischen Romanen notwendig ist, kann sich zu viel davon als Mangel erweisen, wenn Autor Viktor Glass meint, alles in nur einem kurzen Roman unterbringen zu müssen. Sogar nach Aufklärung des Falles füllt der Autor noch zwei weitere Kapitel mit historischen Fakten. „Schüssler und die verschwundenen Mädchen“ ist ein locker, stellenweise auch seicht geschriebener Krimi, allerdings mit sorgsam aufbereitetem geschichtlichen Hintergrund. Das Buch ist eine unterhaltsame, entspannende, aber auch informative Lektüre zum Feierabend - nicht nur, aber vor allem für Kenner Augsburgs und seines regionalen Umfeldes.

Bewertung vom 04.04.2018
Eine bessere Zeit
Cabré, Jaume

Eine bessere Zeit


weniger gut

Der Roman "Es war eine bessere Zeit", im März beim Insel-Verlag erschienen, war mein erstes Buch von "Weltbestseller-Autor" Jaume Cabré (71), dessen Romane, Erzählungen und Essays vielfach ausgezeichnet und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zugegeben, ich kannte diesen katalanischen Schriftsteller bisher gar nicht. Die Inhaltsangabe des Buches klang eigentlich vielversprechend. Aber ich habe dann doch den Roman auf Seite 170 abgebrochen: Statt einer Handlung werden die familiären Zusammenhänge der katalanischen Familie Gensana über sieben(?) Generationen in allen Einzelheiten erläutert. Dies ist abschnittsweise in seinem Erzähl- und Sprachstil, auch mit Humor und Ironie gespickt, eigentlich ganz gut zu lesen. Doch der Erzähler springt dabei hin und her, dass man die Personen und Generationen kaum noch auseinanderhalten kann. Und die ganze Zeit fragte ich mich: Wohin soll mich die Geschichte führen? Ich werde es nun leider niemals erfahren.

1 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.04.2018
Wiesenstein
Pleschinski, Hans

Wiesenstein


sehr gut

Fünf Jahre nach seinem viel gelobten Roman „Königsallee“ um Nobelpreisträger Thomas Mann widmet sich Hans Pleschinski (61) nun in seiner auch für literaturwissenschaftlich Unerfahrene absolut lesenswerten Romanbiografie „Wiesenstein“, im März beim Verlag C. H. Beck erschienen, dem Leben und Wirken des Dramatikers und Lyrikers Gerhart Hauptmann (1862-1946). Während die vordergründige Romanhandlung nur Hauptmanns letzte Lebensmonate zwischen März 1945 und Juni 1946 in seiner geliebten Jugendstilvilla Wiesenstein, „der mystischen Schutzhülle meiner Seele“, im niederschlesischen Agnetendorf umfasst - also die dramatischen Wochen zwischen letzten Kriegstagen, russischer Besetzung, polnischer Rache und der Vertreibung aller Deutschen -, lässt Pleschinski in Gesprächen des Hauspersonals, in Rezitationen aus Hauptmanns Werken, in Tischgesprächen des Dichters oder in dessen Erinnerungen nicht nur das Leben des 83-Jährigen bis in dessen Kindheit als Hotelierssohn in Bad Salzbrunn vor unseren Augen ablaufen. Der Autor zeigt uns vor allem das kulturelle Vermächtnis des in seiner literarischen Vielfalt wie auch politisch schwer einzuordnenden Nobelpreisträgers. Gewiss, manche Passage hätte Pleschinski vielleicht kürzer fassen können. Dennoch bleibt der Roman auch für literaturwissenschaftliche Laien interessant und spannend zu lesen. Der Autor wertet nicht, lässt auch nichts aus. Er verdeutlicht, dass nicht nur Macht, sondern auch Ruhm korrumpiert: Hauptmann wurde zeitlebens, ungeachtet der Widersprüchlichkeit seiner Werke, von Öffentlichkeit und Machthabern wenn nicht verehrt, dann doch geehrt. Schon zu Kaisers Zeiten erhielt er 1912 den Literaturnobelpreis, wurde zum Nationaldichter erhoben. Förderte der Schriftsteller bei Ausbruch des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs in seinem Werk die Kriegseuphorie, wandelte er sich nach ersten Verlusten plötzlich zum Pazifisten. Von den Nazis wurde der Volksdichter gebraucht, auch missbraucht. Selbst die russischen Besatzer wissen nach Kriegsende, sein Loblied zu singen. Zuletzt erscheint der ostzonale Kulturwissenschaftler Johannes R. Becher in der Villa Wiesenstein und will unter Verweis auf Hauptmanns Vorkriegsdrama „Die Finsternisse“, in dem er die immerwährende Verfolgung des jüdischen Volkes beklagt hatte, den schon Todgeweihten noch für das neue Deutschland gewinnen. Jeder findet also in der Vielfalt der Werke Hauptmanns für sich mindestens eines, das dem aktuell angesagten Zeitgeist entspricht und alle unpassenden zu vernachlässigen ermöglicht. Pleschinski zeigt die Widersprüche Hauptmanns: Zum 80. Geburtstag nahm dieser 1942 die Ehrungen der Nazis entgegen. Er bewirtete in der Villa Wiesenstein in Kriegszeiten den in Polen als Generalgouverneur eingesetzten Hans Frank ebenso wie später russische Kommandanten. Hauptmann wandelte als gefeierter Nationaldichter zwischen den Welten. Er selbst, den Hitler in die „Liste der Gottbegnadeten“ aufgenommen hatte, hielt sich im Rückblick für überparteilich, nennt sich in Pleschinskis Buch selbst einen „Kompromissler“, gesteht kurz vor seinem Tod aber dann doch mit Blick auf seinen langjährigen Rivalen um die Publikumsgunst, den frühzeitig emigrierten Thomas Mann: „Wer nur zuschaut, ist deswegen noch lange nicht unschuldig.“ Pleschinskis Roman „Wiesenstein“ ist ein wunderbares Buch, das jeder Freund deutscher Literatur lesen sollte.

Bewertung vom 26.03.2018
Der dunkle Mann / Oxen Bd.2
Jensen, Jens Henrik

Der dunkle Mann / Oxen Bd.2


ausgezeichnet

Weiter geht die Hetzjagd auf Niels Oxen, den mit der höchsten Tapferkeitsmedaille Dänemarks ausgezeichneten früheren Elitesoldaten und nach Einsätzen gegen die Taliban und im Bosnien-Krieg schwer traumatisierten Kriegsveteran. Im März erschien im dtv-Verlag endlich „Oxen – Der dunkle Mann“, der zweite Band der hervorragenden Politthriller-Trilogie des dänischen Bestseller-Autors Jens Henrik Jensen (54). Hatte sich Oxen nach Aufklärung mysteriöser Serienmorde (Band 1: „Oxen – Das erste Opfer“, Sept. 2017) gerade wieder ein Jahr lang in den Wäldern bei einem alten Fischzüchter unter falscher Identität verstecken können, wird er nach systematischer Suche der Geheimdienstagentin Margrethe Franck nach Monaten doch aufgespürt. Franck und ihr Chef Axel Mossmann brauchen Oxens Hilfe, denn sie wollen die Hintermänner dieser Morde, die selbsternannten „Erben“ des mittelalterlichen Danehof, endlich enttarnen und ausschalten. Dieser Geheimbund sieht sich als der wahre Regent Dänemarks und scheint Regierung und Wirtschaft für seine Zwecke zu korrumpieren und zu manipulieren. Als Oxen fälschlich des Mordes am Fischzüchter verdächtigt wird, jagen ihn Polizei, Geheimdienst und – aus anderem Grund – die Killer des Danehof quer durchs Land. Ständig auf der Flucht gelingt es ihm gemeinsam mit Franck und Mossmann aber dennoch, nach etlichen Irrungen und Wirrungen dem Danehof näher zu kommen – und wird in eine lebensbedrohliche Falle gelockt. Wie schon der erste Band besticht auch „Oxen – Der dunkle Mann“ mit seinen ungewöhnlichen Charakteren – dem traumatisierten Ex-Soldaten Niels Oxen, der beinamputierten Agentin Margrethe Frank und dem anfangs recht zwielichtigen Geheimdienstchef Axel Mossmann, der zunächst mit dem Danehof zu paktieren schien und dem wir erst gegen Ende dieses zweiten Bandes zu vertrauen lernen. Aber dürfen wir dem Autor Jens Henrik Jensen trauen? Immer wieder lockt er uns auf Fährten, die sich später als gefährliche, für einzelne Protagonisten sogar tödliche Irrwege erweisen.Sicher ist die aufwändig inszenierte Handlung leichter zu verfolgen, wenn man den ersten Band schon kennt. Aber auch Neueinsteigern werden die Zusammenhänge Schritt für Schritt verständlich. Auch dies ist ungewöhnlich: Der Autor führt Erstleser nicht gleich zu Beginn des Buches kompakt in die Vorgeschichte ein, sondern immer nur häppchenweise, so wie es gerade in der aktuellen Handlung förderlich ist – mal sind es Erinnerungsbrocken Oxens, mal ein Gespräch Francks mit ihrem Freund oder auch Einblicke in Oxens Personalakte. Die Oxen-Trilogie, die - mit dem Danish Crime Award ausgezeichnet - inzwischen ein Dutzend Länder gekauft haben, erschien im dänischen Original von 2012 bis 2016. Seit Herbst 2017 veröffentlicht der dtv-Verlag endlich die drei Bände im Halbjahres-Turnus. Eine ausgezeichnete Entscheidung des Verlags! Den Vergleich mit Bestsellern bekannterer [skandinavischer] Thriller-Autoren braucht Jens Henrik Jensen keinesfalls zu scheuen. Gerade die Mischung von knallhartem Krimi in Verbindung mit Kritik an Gesellschaft, Wirtschaftssystem und Politik hebt die Oxen-Trilogie auf ungewöhnliche Weise von anderen ab. Jetzt wird es Zeit für den dritten Band „Gefrorene Flammen“, der im August bei dtv erscheinen soll und endlich das Geheimnis um die Führer des mysteriösen und mörderischen Danehof lüftet.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.03.2018
Der Schlüssel des Salomon / Tomás Noronha Bd.2
Dos Santos, José R.

Der Schlüssel des Salomon / Tomás Noronha Bd.2


weniger gut

Mein Urteil zum Roman "Der Schlüssel des Salomon" ist zeigeteilt: Zum einen handelt es sich um einen ziemlich trivialen Krimi, der allein schon in seiner einfachen Sprachform in die untere Schublade der Trivialliteratur gehört. Zum anderen - und das ist der interessantere Teil - geht es um die Erklärung naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, über die man sich selten Gedanken macht, als Laie auch in ihrer Komplexität kaum verstehen kann, hier aber in einfachen Worten erläutert bekommt. Störend ist die Verbindung dieser beiden Handlungsstränge: Während zum Beispiel die CIA den Protagonisten verfolgt, um ihn zu töten, erklärt dieser seiner Freundin in aller Seelenruhe und in allen Einzelheiten naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Diese Kombination erscheint zunehmend albern und unglaubwürdig und zieht den Roman ins Banale. Nun gut, wenn man anspruchslose Unterhaltung zum Feierabend sucht, mag dieser Roman genügen. Ansonsten kann man auf ihn gern verzichten, ohne etwas versäumt zu haben.

Bewertung vom 11.03.2018
Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens
Bottini, Oliver

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens


ausgezeichnet

Alles beginnt 2011 mit einer Massenkarambolage auf der A19 in Mecklenburg mit elf Todesopfern und endet drei Jahre später mit einem Showdown und drei Toten nahe Temeswar in Rumänien. Dennoch ist der mit dem Deutschen Krimipreis 2018 ausgezeichnete Roman „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ kein typischer Krimi. Der im November im Dumont-Verlag erschienene Roman von Oliver Bottini (47), der als einer der bedeutendsten Krimiautoren Deutschlands gelobt wird und mit inzwischen fünfmaliger Auszeichnung auf den Deutschen Krimipreis abonniert zu sein scheint, ist eher eine spannende, gleichsam berührende, vor allem beklemmende Mischung aus Politthriller, Gesellschaftsroman und Krimi. Es geht um die negativen Auswirkungen großflächig betriebener Landwirtschaft, um Globalisierung, um die Auswüchse des Kapitalismus: Sowohl im Osten Deutschlands als auch in Rumänien gehört der einfache Mensch wieder zu den Verlierern. Der Autor versteht es ausgezeichnet, den Wechsel sowohl vom kommunistischen System der DDR als auch dem diktatorischen Ceaușescu-Regime Rumäniens in ein demokratische Staatssystem zu analysieren. Das Ergebnis seiner Analyse ist niederschmetternd: „Da hatten sie für die Demokratie gekämpft und den glitzernden Kapitalismus bekommen – und gaben sich damit zufrieden“, zieht der rumänische Kriminalkommissar Ioan Cozma resigniert sein Fazit. Denn im Grunde hat sich hier wie dort kaum etwas geändert: In Rumänien wie in Ostdeutschland sitzen die alten Funktionäre und Eliten noch immer an den Hebeln der Macht oder sie wurden durch Großkonzerne ersetzt. "Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens" zeigt die Dramatik der Globalisierung, den Ausverkauf des eigenen Landes an internationale Agrarkonzerne und die sich daraus ergebenden Folgen. Bottini schildert eindringlich den Überlebenskampf des "kleinen Mannes" in Ostdeutschland und Rumänien nach der Wende, erzählt von Trauer und Leid und von Menschen, die trotz erlittener Tragödien und aller Ohnmacht immer noch den Mut aufbringen, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Bottinis Roman scheint durchgängig von Hoffnungslosigkeit und Trauer geprägt: Maik Winter verliert bei der Massenkarambolage auf der A19 die Ehefrau und beide Kinder, er bleibt allein zurück und versucht, in Rumänien bei seinem Jugendfreund Jörg Marthen sich ein neues Leben aufzubauen. Landwirt Marthen, dessen Familie im mecklenburgischen Prenzlin nach der Wende durch betrügerische Machenschaften ein zweites Mal um ihr Eigentum gebracht wurde, hat sich in Westrumänien sein Neu-Prenzlin aufgebaut. Doch andere wollen das Land und lassen seine Tochter Lisa ermorden, um Marthen gefügig zu machen oder aus Rumänien zu vertreiben. Letztlich verkauft Marthen seine rumänischen Ländereien an einen arabischen Großkonzern und baut sich in Mecklenburg eine neue Existenz auf. Bei aller Hoffnungslosigkeit schimmert erst am Ende des Romans doch noch der Glaube an Gutes und an Menschlichkeit durch. „Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens“ ist ein Roman mit starker Nachhaltigkeit: Auch wenn das letzte Kapitel längst gelesen ist, lässt einen das Buch noch lange nicht los ….

Bewertung vom 09.03.2018
Die letzte wahre Geschichte
Anam, Tahmina

Die letzte wahre Geschichte


sehr gut

Eine gefühlvolle Liebesgeschichte, die sich zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Kulturkreisen USA und Bangladesh bewegt, ist der im Februar im Insel-Verlag erschienene Roman „Die letzte wahre Geschichte“ der in Bangladesh geborenen und heute in London lebenden Autorin Tahmima Anam (42). Dieser – nach „Zeit der Verheißungen“ und „Mein fremder Bruder“ – dritte Roman der mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin beschreibt die Suche nach der eigenen Identität, um dem Leben eine Richtung und einen Sinn geben zu können. Die junge Paläontologin Zubaida aus Bangladesh verliebt sich in Harvard in den Amerikaner Elijah, heiratet jedoch aus Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie und den familiären Traditionen ihren Jugendfreund Rashid. So lebt Zubaida zunächst ein völlig fremdbestimmtes Leben, an dem sie völlig zugrunde zu gehen droht. Erst im späteren Verlauf der Handlung trifft sie Elijah wieder. Endlich besinnt sie sich auf sich selbst und beginnt, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Schließlich muss sie erfahren, als Baby adoptiert worden zu sein, weshalb sie sich auf die Suche nach ihren wahren Wurzeln, ihrer wahren Identität macht. „Die letzte wahre Geschichte“ lässt die Autorin ihre Protagonistin in Ich-Form erzählen – wohl nicht zuletzt deshalb, weil Tahmima Anam, die in Dhaka geboren, aber in Paris, New York und Bangkok aufgewachsen ist und an der Harvard University studiert hat, in diesem Roman zweifellos autobiographische Erfahrungen und Erlebnisse eingearbeitet hat. An manchen Stellen verliert sie sich vielleicht gerade deshalb allzu sehr in – zumindest für deutsche Leser – eher unbedeutende Kleinigkeiten, wodurch ihr Roman gelegentlich etwas langatmig wirkt. Andererseits ist dieser Gegensatz und Widerstreit zweier Kulturen überaus gefühlvoll, verständnisvoll und sehr tiefgehend geschildert, so dass der Leser viel über das Leben in Bangladesh, dessen Zweiteilung in eine wohlhabende Oberschicht und eine in armen, wenn nicht gar elenden Verhältnissen lebende Unterschicht erfährt. Alles in allem ist „Die letzte wahre Geschichte“ ein interessanter, durchaus lesenswerter Roman – wenn man als deutscher Leser bereits ist, sich dieser fremden Kulturlandschaft im ärmsten Land unserer Welt zu öffnen.

Bewertung vom 04.03.2018
Strafe
Schirach, Ferdinand von

Strafe


ausgezeichnet

Es scheint völlig gleichgültig zu sein, in welcher literarischen Form der deutsche Schriftsteller Ferdinand von Schirach (54) seine juristischen und philosophischen Gedanken zu Papier bringt: Es werden immer Bestseller! Nach den beiden Romanen „Der Fall Collini“ (2011) und „Tabu“ (2013), seinem Essay-Band „Die Würde ist unantastbar“ sowie seinem viel beachteten Theaterstück „Terror“ (2015) kam nun endlich wieder nach „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) ein dritter Band mit Kurzgeschichten „Strafe“ im Februar beim Luchterhand-Verlag heraus. Gerade einmal 190 Seiten stark, in großer Typographie, in wenigen Stunden leicht zu lesen, haben diese zwölf Erzählungen in ihrer Tiefgründigkeit mehr Aussagekraft als mancher dicke Roman. In bewährter Erzählweise, in kurzen Sätzen, ohne ein schmückendes Wort zuviel, geht es in „Strafe“ um die Frage, was eigentlich Wahrheit bedeutet, und um die Persönlichkeitsbildung der unterschiedlichen Figuren – oder um uns selbst: Wie wurden wir, wer wir sind? Wie in den zwei Vorgängerbänden gibt es bei Schirach auch in „Strafe“ keine guten und keine bösen Menschen. Oft sind die vermeintlichen Täter schicksalsbedingt eher Opfer, wie Schirach in seiner früheren Laufbahn als Strafverteidiger wohl wiederholt hat feststellen müssen. Es sind gerade diese philosophischen Gedanken um die Lebenswege seiner doch so normal-menschlichen Protagonisten, die Schirachs Bücher von den Werken anderer Autoren maßgeblich unterscheiden. Man spürt in seinen Erzählungen, wie der Jurist seine Figuren für ihre Handlungen bis hin zu Mord und Totschlag niemals verurteilt, sondern mit ihnen fühlt, ihr Handeln wenn nicht entschuldigt, so zumindest verstehen kann. Er erzählt in diesen zwölf Geschichten von Einsamkeit und Fremdheit, vom Streben nach dem kleinen Stückchen Glück, das sich doch jeder von uns im Leben wünscht, und über das klägliche Scheitern dabei. Auch in Schirachs drittem Erzählband geht es also nicht um die geschilderten Kriminalfälle - manchmal sind es nicht einmal solche. Sondern es geht in den zwölf Geschichten um uns, die Menschen und ihre Schicksale, ihre Sehnsüchte und Leiden. Sicher wird auch „Strafe“ im Buchhandel wieder zu einem Mega-Bestseller hochgepriesen. Doch unabhängig davon: Liebhaber guter Literatur sollten sich diesen Erzählband keinesfalls entgehen lassen. Wer noch kein Schirach-Fan ist, dürfte durch diese Lektüre einer werden.