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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Bevor die Nacht kommt
Jaspersen, Simon

Bevor die Nacht kommt


gut

Im außergewöhnlich heißen Sommer 1920 fiebert Berlin der Reichstagswahl am 6. Juni entgegen, die zum Verlust der Mehrheit der Weimarer Koalition führen wird. In der Stadt hat es eine Reihe von Morden an jungen Frauen gegeben, die vor ihrem Tod offenbar gefangen gehalten und schwer misshandelt wurden. Eine weitere junge Frau wird nun vermisst. In der Woche vor der Wahl spitzt sich die Suche nach dem Täter zu, den die Presse sensationshungrig den „Schlitzer“ nennt. Von der Polizei wird in dieser unruhigen Epoche erwartet, dass sie das Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt und der Öffentlichkeit schnell einen Verdächtigen präsentiert.

Ermittler der Reichskriminalpolizei ist Ernst Mohrfels, der als Person erst spät im Buch Konturen annimmt. Mohrfels verlangt vom Psychiater Dr. Johann Dalus, einen polizeibekannten Verdächtigen in die Psychiatrie einzuweisen, um den Volkszorn zu beschwichtigen. Dalus hat (vermutlich als Folge seiner Tätigkeit als Feldchirurg im Ersten Weltkrieg) mit einer unbehandelten Angsterkrankung zu kämpfen. Dalus Schwester Hedwig, die er seit Jahren nicht gesehen hat, konfrontiert ihn in dieser spannenden Woche mit verdrängten Ereignissen seiner Kindheit.

Mohrfels sieht sich in seinen Ermittlungen durch den Korpsgeist der Kaisertreuen in Militär und Polizei behindert und beginnt nicht nur an seiner professionellen Beobachtungsgabe zu zweifeln, sondern auch an der Solidarität innerhalb seiner Abteilung. Während der Kriminalkommissar sich von „ganz oben“ ausgebremst fühlt, läuft den Ermittlern die Zeit davon. Sie ahnen noch nicht, dass ein Anschlag auf ein Gala-Diner geplant ist, der mitten in Berlins linksgerichtete Kulturschickeria gerichtet ist.

Die komplexe Handlung mit ihrem sehr gut recherchierten historischen Hintergrund spielt in Berlin in der Woche vor der Reichstagswahl 1920 und folgt abwechselnd Mohrfels, Dalus und verschiedenen (verdächtigen) Personen, die zunächst vom Leser noch nicht eingeordnet werden können. Auch die Perspektive eines Hundes fliesst in die Geschichte ein. Auf einer zweiten Zeitebene erlebt man beunruhigende Ereignisse des Jahres 1905 auf einem Gut in der Grenzmark in Markersdorf/Niederschlesien mit. Die verschiedenen Blickwinkel und Zeitebenen müssen von den Lesern des Krimis entwirrt und einander zugeordnet werden. Obwohl die Leser den Ermittlern stets ein paar Schritte voraus sind, bleibt der Plot durch zahlreiche falsche Fährten bis zum überraschenden Finale spannend.

Leider bieten Jaspersens Figuren wenig Gelegenheit, dem Volk aufs Maul zu schauen. Der außenstehende Erzähler mit seiner für die Zeit der Ereignisse auffallend modernen Ausdrucksweise dominiert zu stark und lässt zu wenig Raum für lebendige Dialoge. Für einen so komplexen Plot, der den detektivischen Jagdinstinkt der Leser anregt, wirkt die Sprache des Romans nicht immer präzise. Beim Rätseln, ob eine Szene so oder vielleicht doch anders gemeint sein könnte, fühlte ich mich unnötig oft im Lesefluss unterbrochen. Stolpersteine waren nicht ortstypische Ausdrücke (Krapfen für Pfannkuchen), Redensarten, die im Berlin der 20er noch unbekannt waren (mitten in der Pampa für Jottwehdeh) und für die Zeit zu salopp wirkende Modernismen (Sie müssen einen Arzt sehen, jemandem auf den Senkel gehen). Einige Details wirken für die Epoche vor 100 Jahren zu modern (China-Imbiss, fotografierender Journalist statt Fotograf, Persönlichkeitsrechte für Psychiatrie-Patienten). Letztlich ist es Geschmacksache, wie authentisch Leser der Gegenwart sich historische Krimis wünschen und wie viel Neutralisierung ein Stoff verträgt mit Blick auf mögliche Leser, die nicht zu tief in eine weit zurückliegende Epoche eintauchen wollen.

Lesern, die von einem historischen Berlin-Krimi nicht erwarten, dass darin authentisch "dem Volk aufs Maul geschaut" wird, bietet sich hier ein komplexer, spannender Plot mit zahlreichen Verwicklungen.

Bewertung vom 04.01.2017
Fuck you Leben!
Pratt, Non

Fuck you Leben!


sehr gut

Hannah scheint ein ausgekochtes M***stück zu sein. Die Fünfzehnjährige trifft sich nicht etwa aus Neugier mit Jungen oder weil sie verliebt ist, sondern um die angeblichen intimen Details möglichst sofort in sozialen Netzwerken auszutratschen. Auch die Jungen scheinen im Gegenzug hauptsächlich daran interessiert zu sein, Mädchen als Schlampen darzustellen. In diesem Biotop aus Mobbing und Cybermobbing, in dem jeder jeden anderen für einen Lügner halten muss, entdeckt Hannah, dass sie schwanger ist. So wie die Verhältnisse in Hannahs Clique sind, kann man sich unschwer die Häme ausmalen, die sie erwarten wird. Aaron, der Neue in Hannahs Schule, scheint zunächst für Hannah der einzig normale Gesprächspartner zu sein, der nicht schon ein fertiges Urteil über sie in der Schublade bereithält. Hannah lebt mit ihrer Mutter, Patchwork-Vater Robert und einer jüngeren Stiefschwester. Ihre Mutter arbeitet als Krankenschwester in der Gynäkologie - die direkten Kolleginnen der Mutter in der Klinik wären theoretisch Hannahs Ansprechpartnerinnen gewesen, falls sie sich um Verhütungsmittel hätte kümmern wollen. Theoretisch. Eine peinliche Situation, wenn die eigene Mutter in der Familie die Rolle der Expertin für Verhütung und Teenager-Schwangerschaften einnimmt.

Die Geschichte wird abwechselnd von Hannah und Aaron in der Ichform erzählt und umfasst die neun Monate, seit Hannah und Aaron sich kennenlernten. So wird deutlich, welchen Kenntnisstand die beiden Jugendlichen aktuell haben. Aaron, der sehr plötzlich die Schule gewechselt hat, umweht ein düsteres Geheimnis aus seiner Vergangenheit, dem man als Leser erst allmählich auf die Spur kommt. Der Vorfall kann nicht allein ein Jugendstreich gewesen sein; denn mit Aarons Schulwechsel hat zugleich auch sein Vater seine Lehrerstelle gewechselt. Von den Eltern wird Aaron zuhause wie ein Kranker behandelt und kontrolliert. Aarons Vater macht sehr deutlich, dass er Hannah für keinen guten Umgang für seinen Sohn hält. Als ob Aaron in seiner Situation als Neuer an der Schule eine Wahl hätte.

Mit zwei Icherzählern, die jeder erst das Vertrauen der anderen Person gewinnen müssen, hält der Plot des Jugendromans spannende Fragen bereit: Welches Geheimnis verbirgt Aaron, wird Hannah das Kind bekommen, wird geklärt, wer der Vater des Babys ist, und wünsche ich mir als Leser wirklich ein Ende der Geschichte mit Aaron als verständnisvollem platonischen Freund für Hannah? Hannahs ungeplante Schwangerschaft ist nur eines von vielen Problemen, die die Handlung aufnimmt. Hannahs Familiensituation, die Rolle ihres Stiefvaters, die Personen, denen Hannah und Aaron sich anvertrauen können, Giftspritze Katie, die das gesamte soziale Leben der Schule in ihrem Sinne zu manipulieren scheint – die Entwicklung der Figuren fand ich fesselnd und habe mich dabei ertappt, vorschnell über einige der Protagonisten zu urteilen.

Hannah macht es ihren Mitmenschen nicht gerade einfach – auch den Lesern nicht. Wer von einem Jugendroman nicht erwartet, dass die Hauptfigur so liebenswert zu sein hat, dass man sich problemlos mit ihr identifizieren kann, findet hier eine vielschichte Handlung, die auch erwachsenen Lesern Stoff zum Nachdenken bietet. Die Entscheidung für ein Kind ist nicht das Ende der Probleme in einer ungeplanten Schwangerschaft, sondern erst der Beginn. Deswegen finde ich das Ende der Geschichte unbefriedigend - aber man kann nicht alles haben.

Bewertung vom 04.01.2017
Kellerkind / Kommissar Waechter Bd.1
Neubauer, Nicole

Kellerkind / Kommissar Waechter Bd.1


sehr gut

Die Ermordung der Rechtsanwältin Rose Benninghoff ist nicht zu übersehen; denn das Blut tropft buchstäblich durch die Decke in die darunterliegende Wohnung. Die Tote hat bei aller Zurückhaltung ein unstetes Leben geführt und ist stets mit leichtem Gepäck weitergezogen, ehe sie an einem Ort Wurzeln schlagen konnte. Merkwürdig nur, dass sie eine kurze Beziehung zu einem Berufskollegen einging, der einen halbwüchsigen Sohn hat. Dieser Sohn wird in verwahrlostem Zustand und offenbar schwer misshandelt in Roses Wohnhaus angetroffen. Roses beruflicher Kontakt zu Laurent Baptist und ihre private Beziehung zu Vater und Sohn rücken Laurent und Olivier Baptist als wichtigste Zeugen und zugleich als Tatverdächtige ins Visier der ermittelnden Mordkommission. Doch nach mehreren Tagen kühlt die Hauptspur bereits wieder ab, ohne dass Hannes Brandl und sein Team mit ihren Recherchen vorangekommen sind. Ausgebremst werden die Ermittlungen u. a., weil noch immer ungeklärt ist, ob Olivier sich „nur“ vom Reptil seiner Ängste verfolgt fühlt oder evtl. die Diagnose einer psychischen Erkrankung vorliegt. An der familiären Wagenburg, die Vater und Sohn gegen den Rest der Welt aufgebaut haben, scheinen sich die Ermittler zunächst die Zähne auszubeißen. Die Situation als verfahren zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahres.

Nicole Neubauer hat mit einem im positiven Sinne eigenen Stil für ihren Erstling eigenwillige Charaktere geschaffen. Auch wenn ich sehr gerne lese, wie Neubauer schreibt, hat mich der Plot nicht überzeugt. Trotz persönlicher Details aus dem Leben einzelner Ermittler konnte ich nur schwer eine Beziehung zu ihnen entwickeln. Zu lange war mir unklar, ob diese Details noch Einfluss auf die Handlung haben würden. Während mir die eher sparsame Art des Humors in „Kellerkind“ sehr zusagt, fand ich die Verwendung von Dopplungen (zwei Väter von Pubertierenden, zwei Übergewichtige, usw. usf.) zu intensiv, um auf mich zu wirken. Vermutlich habe ich von einem mit üppigem Werbeaufwand und mit dem Rückenwind eines bekannten Autorinnennetzwerkes vermarkteten Roman einfach erwartet, er würde perfekt sein.

Bewertung vom 04.01.2017
Das stille Land
Drury, Tom

Das stille Land


gut

Tom Drury ist eine Entdeckung - aber es muss nicht mit diesem Buch sein
Pierre Hunter hat einfach ein besonderes Talent, sich kopfüber ins Unglück zu stürzen. Bereits als Schüler setzt er sich heldenhaft für seine Freundin ein, die wegen einer zirpenden Lampe vor ihrem Krankenhausfenster nicht schlafen kann. Pierre sorgt dafür, dass genau diese Lampe ausfällt. Nachdem die Lampe repariert worden ist, rückt Pierre unbeirrt wieder als Beschützer von Rebeccas ungestörtem Schlaf an. Mit einem so entschlossenen Kämpfer gegen die Widrigkeiten des Alltags könnte es böse enden. Nach dem abrupten Ende einer sorgenfreien, behüteten Kindheit und damit auch dem Ende seiner Beziehung zu Rebecca treffen wir Pierre als Barmann an. Als würde man als Leser Pierre auf Schlittschuhen auf einer Eisfläche durch ein Eislabyrinth folgen, tauchen Abzweigungen in seinem Leben auf, von denen anfangs noch schwer einzuschätzen ist, wohin sie führen. Pierre trifft eine Reihe von Menschen, agiert für kurze Zeit jeweils zusammen mit einem davon, um dann weiterzuziehen und auf seinem Weg weitere Figuren zu treffen. Diese Begegnungen lassen Pierre aus dem geordneten Leben kippen, katapultieren ihn aber auch aus der Sicherheit der Realität wie auf eine Bühne und in ein Theaterstück hinein. Die gespannte Erwartung, wie Drury seinen Helden aus diesem Labyrinth wohl herausführen wird und ob der Autor einen Bogen zurück zum Beginn der Handlung schlagen kann, hält den Leser der Geschichte bei der Stange. Drury lässt einen im Ungewissen, ob die Figur, die gerade auftritt, weiter Bedeutung für die Handlung haben oder sang- und klanglos wieder abtreten wird. Sicherlich wird mancher Leser am Ende nicht herausgefunden haben, was er von der ganzen Sache halten soll, so wie Linda im Buch. Man könnte in diesem Roman den Schmetterlingseffekt entdecken, winzigste Auslöser für gewaltige Wirkungen – oder einfach Anteil am Schicksal der Figuren nehmen.

Tom Drurys Stärke ist die liebevolle Beschreibung alltäglichen Lebens in der Provinz. Um sich von „Das stille Land“ fesseln zu lassen, muss man Plots mit sehr vielen Figuren mögen. Tom Drury ist es auf jeden Fall wert, als Autor entdeckt zu werden, aber es muss nicht dringend mit diesem Buch sein, Die Traumjäger eignen sich dazu ebenso gut.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Garten der Abendnebel
Eng, Tan Twan

Der Garten der Abendnebel


ausgezeichnet

Teoh Yun Ling, chinesisch-stämmige Richterin in Kuala Lumpur (Malaysia) wird in den Ruhestand verabschiedet. Ihr letzer Gang führt die alleinstehende Frau zur Teeplantage der Familie Pretorius in den Cameron Highlands. Vierzig Jahre vorher hatte Yun Ling hier ihre Erlebnisse in einem Arbeitslager der Japaner zu verarbeiten versucht. Der heutige Besitzer der Plantage, Frederik Pretorius, ist der Neffe des Gründers Magnus, der Anfang des Jahrhunderts aus Südafrika in die britsche Kolonie kam, um seine Erlebnisse aus dem Burenkrieg gegen die Engländer hinter sich zu lassen. Frederik und Yun Ling merkt man ihr Alter an; es fällt beiden sichtbar schwer, den traditionellen Sitz auf dem Fußboden einzunehmen. Yun Ling läuft die Zeit davon, sie leidet an einer degenerativen Nervenerkrankung, die in kurzer Zeit zum Verlust des Gedächtnisses, der Sprache und ihrer Lesefähgikeit führen wird. Mit ihrer Argumentationsfähigkeit wird Yun Ling auch ihre berufliche Identität verlieren. Mit der Krankheit hat sie sich abgefunden, alle Diagnosen sind gestellt.

Als einzige Überlebende eines japanischen Arbeitslagers, von dem niemals Spuren gefunden werden konnten, will die pensionierte Richterin für die Nachwelt ihre Erinnerungen aufschreiben. Verbindungsstück in die Vergangenheit ist der japanische Garten, den der Japaner Aritomo anlegte. Yun Ling wollte Aritomo in den Fünfziger Jahren beauftragen, einen Garten zur Erinnerung an ihre im Lager umgekommene Schwester Yun Hong anzulegen. Aritomo, ehemaliger Gärtner des japanischen Kaisers, zeichnete niemals Entwürfe auf und gab seine Anweisungen nur mündlich weiter. Er bot Yun Ling damals an, bei ihm in die Lehre zu gehen und den Garten selbst anzulegen. Als Lehrling muss Yun Ling ihrem Meister Aritomo ihren Respekt durch tiefe Verbeugungen bezeugen. Wie stark ihr an ihrem Projekt liegt, wird deutlich, wenn man ihren Gedanken an das Verbeugen vor den verhassten japanischen Besatzern im Lager folgt.

Die ehemalige Richterin strahlt einen erstaunlichen Frieden mit sich selbst aus. Um zu erfahren, was ihr selbst in der Gefangenschaft wiederfahren ist und wie ihre Schwester ums Leben kam, muss man sich als Leser ihrem Lebenstempo anpassen. Yun Ling erzählt die Ereignisse der Gegenwart im Präsens und in der Ichform. Ihren Sprüngen in die Vergangenheit ist nicht immer leicht zu folgen. Nachdem das Geheimnis der Schwestern aus der Lagerhaft enthüllt ist, entfaltet sich eine weitere Ebene des Buches. Aritomo, der nach dem Krieg nie wieder nach Japan zurückkehrte, verschwand Jahre später in Malaysia unter ungeklärten Umständen. Wenn der Gartenkünstler beabsichtigt hatte, durch seinen Garten zu anderen zu sprechen, kann nur Yun Ling sein Werkzeug sein, um folgenden Generationen sein Erbe zu erklären. Schlüssel zur Vergangenheit ist Tominago, ein Japaner, zu dem die beiden ungewöhnlich verschlossenen Menschen während des Krieges Kontakt hatten.

Tan Twan Engs zweiter Roman (auf der Shortlist des Man Booker Prize 2012) beeindruckt durch seine ungewöhnlichen Hauptfiguren, sowie den Kontrast zwischen Kriegsgreueln der Vergangenheit und der klaren Sprache eines japanischen Gartens. Für mich verkörpert die Figur der Yun Ling über kulturelle Grenzen hinaus die Einsicht, dass traumatische Erlebnisse, die man hilflos mit ansehen muss, nachhaltiger belasten als Dinge, die einem selbst geschehen. Ein bewegender Roman voller Melancholie.

Bewertung vom 04.01.2017
Von Geist und Geistern
Mantel, Hilary

Von Geist und Geistern


ausgezeichnet

Als 2010 Hilary Mantels Biografie Tomas Cromwells in Deutschland erschien, erlangten damit auch ihre Werke aus den fünfundzwanzig Jahren schriftstellerischer Tätigkeit zuvor neue Aufmerksamkeit. Schriftstellerbiografien befriedigen die Neugier von Lesern, welches Kind ein Autor gewesen ist und ob sich dessen Begabung bereits in der Kindheit gezeigt hat.

Hilary Mantel und ihr Mann Gerald McEwen vollziehen im Jahr 2000 einen radikalen Schnitt, als sie gleichzeitig ihr Wohnhaus und ihr Cottage in Norfolk verkaufen. Im Cottage lebt für die englische Autorin noch der Geist ihres Stiefvaters Jack, den sie seit ihrem siebten Lebensjahr kennt. Mantel nahm den Namen des Mannes an, mit dem ihre Mutter seit den 60ern zusammenlebte, obwohl sie offiziell noch mit dem Vater ihrer drei Kinder verheiratet war. Damals ein skandalöser Umstand, über den andere Menschen sich erregten und den die Familie auch durch Umziehen nicht mildern konnte. Die kleine Hilary ist ihrem Großvater eng verbunden, der ihr Geschichten erzählt. Hilary stellte sich damals vor, Schule wäre eine Option, gegen die ein Kind sich entscheiden könnte, falls es ihm dort nicht gefällt und es lieber wie bisher vom Großvater lernen möchte. Wer über häufig wechselnde Lehrer und die Lehrmethoden jener Zeit liest, wird sich wundern, dass Kinder unter diesen Umständen überhaupt Lesen und Schreiben lernten. Aus einem mageren Kind, das oft krank ist und sich selbst für schwach hält, wird eine junge Frau, die an rätselhaften Beschwerden leidet. Hilary Mantels 20 Jahre währende Krankengeschichte wird überschattet von einem großen WENN. Wenn sie ein paar Jahre später gelebt hätte, wäre ihre schwere Endometriose anders behandelbar gewesen und sie hätte vielleicht trotzdem ein Kind bekommen können … Wenn ihre Ärzte gewusst hätten, was in der Fachliteratur längst bekannt war, hätte ihr Leiden erheblich abgekürzt werden können … Doch Mantel lebt zu einer Zeit, in der unklare Beschwerden mit Psychopharmaka behandelt werden und Mediziner Frauen auffordern, doch bitte ihren ungesunden Ehrgeiz abzulegen, um gesund zu werden. Die pharmakologischen Experimente jener Zeit können Betroffene vermutlich nur mit schwärzestem Sarkasmus ertragen, wie Mantel ihn im Rückblick auf ihr Leben zeigt.

Mantels im Original 2003 erschiene Biografie wirkt wie das verschlungene barocke Stoffmuster eines Wandteppichs. Darin ist ein phantasievolles kleines Mädchen zu entdecken, das zuerst Schaffner, dann fahrender Ritter werden möchte und das eine Weile glaubt, mit dem Älterwerden würde sie irgendwann von selbst ein Junge. Wir lernen eine sprachbegabte Schülerin kennen, deren glückliche Kindheit und deren Spontaneität mit der Einschulung abrupt endet und die nach dem Schulabschluss zunächst Strafverteidigerin werden will. Mantels Auseinandersetzung mit den Geistern ihres Lebens ist eine hinreißende Lektüre – treffender als Susan Sontag kann ich es nicht ausdrücken.

Bewertung vom 04.01.2017
Das Ende von Eddy
Louis, Édouard

Das Ende von Eddy


ausgezeichnet

In Eddys Dorf in Nordfrankreich ist man sich einig, was ein echter Kerl ist. Kräftig gebaut, trinkfest; und natürlich schlägt so einer im Suff auch mal kräftig zu. Damit muss man leben. Die Ehefrauen der gestandenen Mannsbilder unterwerfen sich der ausgeübten Gewalt, kopieren sogar die Sprache ihrer Männer und spielen deren Gewalttätigkeit herunter. Männer arbeiten hier in der Fabrik, Frauen als Kassiererin im Supermarkt ' solange die Knochen es aushalten. Eddy ist anders als sein Vater und seine Brüder, schmächtig, mit einer hohen Stimme und kein Fußballspieler. Da ein echter Kerl männliche Söhne erwartet, ist Eddy für seinen Vater eine riesige Enttäuschung. Wer sich für Schlagersängerinnen interessiert und am liebsten mit Mädchen spielt, hat in der Schule nichts zu lachen. Eddy wird ausgegrenzt, misshandelt und schließlich öffentlich bloßgestellt. Inzwischen ist sein Vater arbeitsunfähig und damit auf der sozialen Hackordnung ganz unten angekommen. Wer in den letzten Tagen des Monats hungert und friert, bis es wieder Geld gibt, richtet sich daran auf, dass andere noch tiefer stehen als er selbst. Die Dorfbewohner hetzen über Einwanderer, Homosexuelle und Menschen, die nicht arbeiten.

Für Eddy ist das Dorf zum Gefängnis geworden. Sein Vater hat die Familie mit seiner Hetze gegen Minderheiten und Leute, die sich für etwas Besseres halten, so isoliert, dass Eddy keine Ahnung hat von Schulen in anderen Städten, Internaten und Stipendien für begabte Schüler wie ihn. Doch es gibt einen Fluchtweg aus der Enge des Dorfes. Spätestens als Erwachsener erkennt Eddy, dass sein Vater Schule, Bildung, Ärztliche Behandlung, alles Fremde ablehnen musste aus Angst seine Position als Mann und seinen Sohn zu verlieren. Auch hätte er sich dann eingestehen müssen, dass Fabriken, über denen ein langer Schornstein tront, Symbole einer untergehenden Epoche sind und er mit dieser Epoche untergegangen ist.

Auch Sprache kann als Werkzeug für Diskriminierung dienen. Durch eine sorgsame Übersetzung, (die Ausdrücken des französischen Originals Raum lässt und eine Erklärung des Übersetzers zu Eddys Familiennamen 'Bellegeule' voranstellt), wird die Aufmerksamkeit dafür geweckt, wie ausgegrenzt werden kann, wer sich der herrschenden Mehrheit nicht unterwerfen will. Eddys Ausgrenzung steht stellvertretend für jede Ausgrenzung. Ob er tatsächlich homosexuell oder sein Heimatort homophob ist, finde ich dabei nicht wichtig.

Eddy Bellegueules Schicksal erschüttert, weil der Autor und sein Protagonist erst nach 1990 geboren sind. Das geschilderte Ausmaß des Unwissens noch in der Gegenwart ist nur schwer vorstellbar. In einer Zeit, in der in Frankreichs Vorstädten Bibliotheken als Vorposten des verhassten Staates in Brand gesteckt werden, wirft Édouard Louis Roman die Frage danach auf, ob und wie ein Bildungssystem für die Teilhabe aller Kinder aus allen Bevölkerungsschichten sorgen kann.

Bewertung vom 04.01.2017
Fünfzehn kopflose Tage
Cousins, Dave

Fünfzehn kopflose Tage


sehr gut

Der Mutter von Laurence und Jay ist alles zu viel geworden, sie ist verschwunden und hat ihre Kinder allein zurückgelassen. Seit dem Tod ihres Mannes leidet sie an Depressionen und hat begonnen zu trinken. Für die Kinder war die Situation zu Hause am schlimmsten, wenn kein Geld da war und die Mutter keinen Alkohol kaufen konnte. Laurence musste sogar schon morgens vor der Schule auf der Putzstelle der Mutter für sie einspringen, wenn sie nicht aus dem Bett kam. Laurence erzählt in Ichform, wie er aus Angst vor dem Jugendamt 15 Tage lang versuchte, seinen sechsjährigen Bruder zu betreuen, damit nur niemandem auffällt, dass die Kinder sich selbst überlassen sind. Zusätzlich zu der Belastung, vor Jay und der Außenwelt die Fassade zu bewahren, verfolgt der Fünfzehnjährige die bizarre Idee, bei einem Radioquiz in mehreren Runden eine All-Inclusive-Reise zu gewinnen und seine Mutter damit zur Rückkehr zu bewegen. Bisher wissen jedoch weder Laurence noch die beiden Arbeitgeber der Mutter, wo sie ist.

Die Probleme der Jungen bleiben nicht lange unentdeckt, einem von Laurence Lehrern fällt auf, dass der Junge immer müde ist; und ein Blick auf seine Schuluniform wird mit Sicherheit verraten, dass in der Familie schon länger keine Wäsche mehr gewaschen wurde. Doch Laurence Angst vor der Sozialarbeiterin mit dem Klemmbrett macht es ihm unmöglich, Erwachsenen zu trauen und ihre Hilfe anzunehmen. Ein Lichtblick in seiner Situation ist die Begegnung in der Schulbibliothek mit Mina, die einen klaren Standpunkt vertritt: die Mutter der Jungen ist krank und kann ihren Alltag nicht mehr bewältigen. Mit Minas Hilfe nimmt Laurence die Spur seiner Mutter auf. Gleich mehrere Fragen sorgen für Spannung: Was ist inzwischen mit der Mutter passiert? Wird Laurence die erträumte Reise gewinnen? Kann er die aufmerksame Nachbarin abwimmeln, die darauf dringt, endlich selbst mit seiner Mutter zu sprechen? Wie wird sich seine Beziehung zu Mina entwickeln?

Dave Cousins schildert in Form einer spannenden Abenteuergeschichte die klassische Situation einer Familie, die in einer Notsituation aus Angst vor dem Jugendamt mit allen Kräften versucht, die Fassade zu wahren. Die Depression der Mutter ist Auslöser des Konflikts, spielt während Laurences Abenteuer jedoch eher eine Nebenrolle. Durch Mina erfährt Laurence die Unterstützung einer Gleichaltrigen, eine wichtige Erfahrung für einen Jugendlichen, der von Erwachsenen noch keine Hilfe annehmen kann.

Bewertung vom 04.01.2017
Was blüht denn da? Der Fotoband
Spohn, Margot

Was blüht denn da? Der Fotoband


sehr gut

Die Neuausgabe des Kosmos-Pflanzenführers entspricht im Format und Umfang (446 Seiten) der Ausgabe Was blüht denn da? von 2010 und wurde durch Nutzpflanzen und essbare Pflanzen ergänzt. Das bewährte Prinzip wurde beibehalten, die Abbildungen nach Farbe der Blüte zu ordnen. Die Zeichnungen zu den beschriebenen Pflanzen stehen samt deutscher und lateinischer Bezeichnung und Beschreibung auf jeder Doppelseite links, die ergänzenden Fotos auf der rechten Buchseite. Im Anhang sind auch die grundsätzlichen Merkmale der enthaltenen Pflanzen anhand von Zeichnungen und Fotos erklärt.

--> Gewicht: circa 800 Gramm

Wahlweise gibt es einen umfangreicheren Pflanzenführer mit gezeichneten Abbildungen, geordnet nach dem selben Prinzip (496 Seiten, 870 Pflanzen, mehr als 2.000 Farbzeichnungen) Was blüht denn da? und mit der Möglichkeit, für den gezahlten Preis auch das e-book herunterzuladen.

Das Handwerkliche
Der Pflanzenführer wird als fadengeheftete Klappenbroschur angeboten. D. h. selbst wenn man im ständigen Gebrauch den Umschlag verschleißen würde, hält ein fadengehefteter Buchblock sehr lange und kann problemlos wieder in den Umschlag geleimt werden, falls er sich daraus lösen sollte. Wer mit dem Buch im Gepäck regelmäßig Exkursionen durchführt oder den Pflanzenführer ständig im Handschuhfach dabei hat, kann den äußeren Buchumschlag entweder mit hochwertiger Folie (Neschen oder EKZ) schützen oder sich aus Taschenstoff eine Reißverschlusshülle nähen, die nicht nur wie eine normale Buchhülle das Cover schützt, sondern das gesamte Buch. In Ländern, in denen 'Birding' und naturkundliche Wanderungen zur Tradition gehören, gibt es solche widerstandsfähigen Schutzhüllen für die 'Field Guides' im Outdoor-Handel zu kaufen; in Deutschland gibt es sie meist nur für Gebet- und Gesetzbücher.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Irmina
Yelin, Barbara

Irmina


ausgezeichnet

So unbeschwert wie in der oberen Hälfte des Buchcovers wird Irmina nicht wieder unterwegs sein: Howard radelt mit ihr durch Oxford, um ihr stolz seine Universitätsstadt zu zeigen. Im Jahr 1934 lebt Irmina von Behdinger als Austauschschülerin in London und besucht dort eine Wirtschaftsschule, um Fremdsprachen-Sekretärin zu werden. Howard stammt von der Insel Barbados und hat sich unter erheblichen Anstrengungen ein Stipendium für ein Jurastudium in England erkämpft. Beide sind Außenseiter in England, Irmina als disziplinierte Deutsche (das „Nazifräulein“) und Howard aufgrund seiner Hautfarbe. Die keimende Beziehung zwischen beiden findet ein jähes Ende, als Irmina aufgrund der politischen Verhältnisse plötzlich ohne Unterkunft und ohne Geld aus Deutschland in England sitzt – und sich zur Rückkehr nach Deutschland entscheidet. Mit meinem Wissen der Gegenwart, dass sie sich besser irgendwie in England durchgeschlagen hätte als zurückzukehren, wirkt Irminas überstürzte Rückkehr auf Leser der Graphic Novel enttäuschend. Aus Irminas Sicht stellen sich die Dinge ganz anders dar. Sie ist zu der Zeit noch nicht volljährig und hatte als Frau bürgerlicher Herkunft vermutlich noch nie zuvor eine Entscheidung dieser Tragweite allein zu treffen. Zurück in Deutschland kann Irmina zwar als Fremdsprachensekretärin im Kriegsministerium ihren Lebensunterhalt verdienen, mit ihrem Gehalt jedoch vermutlich keine großen Sprünge machen. Anders als im Klappentext angekündigt sehe ich Irmina nicht als ehrgeizig, sondern höchstens als pflichtbewusst und fleißig, als durchschnittliche Frau ihrer Generation. Bereits in England war Irmina hauptsächlich mit dem eigenen Überleben beschäftigt und hat sich erst durch den Einfluss ihrer Gönnerin, bei der sie kostenfrei lebt, gezwungenermaßen mit den Tagesereignissen beschäftigt. Vier Jahre später sieht sich Irmina mit dem erstarkenden Nationalsozialismus und der Judenverfolgung konfrontiert und geht schließlich eine Vernunftehe mit dem SS-Offizier Gregor Meinrich ein. Der Briefkontakt zu Howard reißt ab. Nach Jahrzehnten, kurz vor ihrer Pensionierung, erhält Irmina überraschend einen Brief aus Barbados.

Barbara Yelin erzählt, angeregt durch den Nachlass ihrer Großmutter, als Graphic Novel die fiktive Geschichte einer jungen Deutschen während des Nationalsozialismus. Irmina träumt zwar davon, aus der vorgezeichneten Rolle als Ehefrau und Mutter auszubrechen, schreckt aber im entscheidenden Moment stets vor der Entscheidung für einen alternativen Lebensweg zurück. Zwischen Irminas Selbsteinschätzung und der Wertung anderer, die Irminas Ausbildung in London und ihr Eintreten für den diskriminierten Howard mutig finden, klafft nach meiner Ansicht ein gewaltiger Graben. Die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger findet für Irmina außerhalb ihrer pesönlichen Lebenswelt statt, obwohl sie durch die Erlebnisse mit dem farbigen Howard dafür sensibilisiert sein sollte. Eine Verbindung zwischen Gregors Dienstgrad und den nicht zu übersehenden Ereignissen in ihrer Straße stellt Irmina nicht her. In dieser Geschichte ist nicht zu übersehen, dass die Juden-Verfolgung keine Maßnahme einer Minderheit war, sondern von der Bevölkerung geduldet wurde und deren Bereicherung an jüdischem Besitz diente. Irmina steht als Figur stellvertretend für Mitläufer, die meinen, an bestehenden Verhältnissen nichts ändern zu können, und kann sicher Verständnis für diese ganz normalen Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus wecken.

Mit dominierenden Schwarz- und Grautönen und wenigen roten Tupfen durch die Flaggen der Nationalsozialisten wirkt Irminas Leben so düster wie ein Novembertag in London. Besonders beeindruckend wirken auf mich die vielen Alltagsdetails und doppelseitige Straßenszenen, in die Busse und Pferdekutschen Dynamik bringen. Yelins Graphic Novel erzeugt sehr direkte Emotionen durch den Kontrast zwischen dem, was ich mir für Irmina gewünscht hätte und was ihr Leben letztendlich für sie bereithielt.