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Benutzername: 
Xirxe
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Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 869 Bewertungen
Bewertung vom 20.08.2017
Mein Leben als Hoffnungsträger
Steiner, Jens

Mein Leben als Hoffnungsträger


ausgezeichnet

Philipp, ein junger Mann Anfang 20, hat seine Lehre abgebrochen und wurde aus seiner WG geworfen - offenbar nicht gerade ein Hoffnungsträger unserer Gesellschaft. Doch Uwe, der Chef eines Recyclinghofes, sieht das anders. Er glaubt in ihm eine verwandte Seele zu erkennen und weiht ihn nach und nach in die Geheimnisse des Recycelns ein (Was ist der Unterschied zwischen Schrott und Altmetall? Altmetall ist nichteisernes Metall, Schrott hingegen eisenreich).
Philipp, der Ich-Erzähler in diesem Buch, ist eine ungewöhnliche Erscheinung in unserer Gesellschaft. Statt sich intensiv seiner Zukunftsplanung zu widmen (Karriere, Familie, Haus), lässt er das Leben geschehen und ist sein interessierter Beobachter. Es ist keine Lethargie, die ihn nicht antreibt, sondern vor allem das genaue Wissen darum, was er will und nicht will: sich und Andere unter Druck setzen. Insbesondere seine Eltern sind ihm, was den Druck betrifft, hierfür ein typisches Beispiel: „… sie (seine Mutter) denkt vielleicht, dass der Vogel es richtig macht, er zieht von Gelegenheit zu Gelegenheit, wachsam und frei, jedenfalls macht er es besser als sie, die diesen Lebensballast immerzu mit sich trägt, diese Ehe, diese Familie, dieses Haus und die tausend Verpflichtungen, weil man sich selbst oder irgendwem vor langer Zeit alles Mögliche versprochen hat …“. Oder sein Vater, der keinen Zwang auf ihn ausübt und nur das Beste für ihn will. Wobei er darunter aber etwas völlig anderes versteht als sein Sohn. „Es muss ihn (den Vater) innerlich zerreißen.“
Es mag so scheinen, als ob Philipp sich einfach durch sein Leben treiben lässt, doch er macht sich über sein Dasein und alles was dazu gehört, vermutlich mehr Gedanken als die meisten Menschen. Beispielsweise über seine Arbeit im Recyclinghof und die Leute, die dorthin kommen: "... es gibt noch jene, die vor Jahren im Ausverkauf 30 m Gartenschlauch ergattert haben, nur für den Fall. Doch der Fall ist nie eingetreten. Endlos viele Fälle treten nie ein. Ware bleibt unbenutzt liegen, Ware gerät in Vergessenheit, genau wie der Grund, weshalb sie einmal angeschafft wurde." Oder als er sich fragt „Doch wann … sind die Dinge nicht mehr die Dinge, die sie einmal waren? Irgendwann sind sie etwas Anderes geworden, aber an welchem Punkt haben sie angefangen, dieses Andere zu werden?“ … „All die Sofas, Bücherregale und Lampen waren auch einmal Hoffnungsträger, waren Teil eines Teams, … Jetzt sind sie hier gelandet, vergessen von der Welt und den Menschen, die sie loswerden wollten.“ Auch macht er sich immer wieder bewusst, wie gut es ihm geht: „Das Geräusch, das meine Stiefel auf dem Matsch machen, fasst die ganze Misere der Welt zusammen. Kein Grund, sich unglücklich zu fühlen, denke ich und schicke abermals ein Grinsen in Richtung Himmel.“ Grauenvolle Nachrichten, die sich irgendwo in der Welt während seines Lebens ereigneten, lässt er wiederholt in die Darstellung seines beschaulichen Daseins einfließen, umso ganz nebenbei die Prioritäten deutlich zu machen: „… und begreife, dass man als Ding über all das, was der Mensch erfindet, nur lachen kann: das Hoffnungsträgertum, Hühnerställe, Dessert-Cocktails, Recyclinghöfe, Kriege, die Kindheit, die Zukunft.“
Ein Mut machendes Buch für all jene, die sich wie Philipp fragen: „Warum muss man immer besser werden, warum immer noch ein Diplom erwerben, warum immer weiter dorthin streben, wo die Luft dünn ist, wo Stressjob und Haushypothek ständig die Hand an deiner Gurgel haben?“ Denn man sollte nie vergessen: „Am Anfang tut jeder, als sei er ein Unikum, am Ende sind wir alle ein einziger Brei.“

Bewertung vom 16.08.2017
Heimkehren
Gyasi, Yaa

Heimkehren


ausgezeichnet

Alex Haley beschrieb in seinem Welterfolg 'Roots' auf mehr als 700 Seiten das Leben von Kunta Kinte und seinen Nachkommen - Yaa Gyasi benötigt für die Geschichte der Halbschwestern Effia und Esi und ihren Nachfahren nur 400 Seiten, ohne dass ich beim Lesen das Gefühl hatte, nur unvollständige Ausschnitte mitgeteilt zu bekommen.
14 Kapitel hat das Buch, jedes ist einem Abkömmling einer Generation gewidmet, beginnend mit Effia und Esi, die sich nie kennenlernten. Während Effia, die die uneheliche Tochter des Hausmädchens Maame ist, das direkt nach ihrer Geburt floh, gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit einem britischen Festungsgouverneur verheiratet wird, wird Esi, Maames eheliche Tochter, ca. zur gleichen Zeit vom Stamme Effias gefangengenommen und als Sklavin verkauft. Sie und ihre Nachkommen werden in den USA leben und aufwachsen unter den erbärmlichsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann. Selbst das Verbot der Sklaverei ändert kaum etwas an den gnadenlosen Zuständen, in denen sie sich befinden.
Effias Nachfahren hingegen bleiben in Ghana, profitieren weiterhin vom Sklavenhandel oder entziehen sich ihm auf radikale Weise mit der Hoffnung, so ihr Glück zu finden.
Obwohl von jeder Person stets nur 20 bis 30 Seiten lang erzählt wird, reichen diese vollständig aus, um sich eine Vorstellung von ihrem Lebensweg und dem seiner bzw. ihrer Eltern zu machen. Geschickt werden Erinnerungen und Rückblicke in die laufende Geschichte eingeflochten, sodass ich kontinuierlich der Fortentwicklung dieser Familie folgen konnte, die bis in die heutige Zeit von der Sklaverei gekennzeichnet ist.
Dieses Buch ist beeindruckend und grandios, aber auch entsetzlich grausam, wobei ich keine Grausamkeit im blutrünstigen Sinne meine. Denn was Yaa Gyasi hier erzählt, mag eine fiktive Geschichte sein, aber das wovon sie berichtet, beruht auf realen Geschehnissen.

Bewertung vom 08.08.2017
Die Lieferantin
Beck, Zoë

Die Lieferantin


ausgezeichnet

London nach dem Brexit: Die Zeiten sind rauer geworden, die neuen Rechten gewinnen die Oberhand, rigorose Überwachung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gehören zum Alltag. Statt sich aufzuputschen nehmen die Menschen Drogen, um der grauen Wirklichkeit zu entfliehen. Elliot Johnson hat dafür eine perfekte Dienstleistung entwickelt: Ihre Website informiert detailliert und ansprechend über das Angebot, das über eine komfortable App bestellt werden kann. Die Lieferung kommt umgehend per Drohne, ohne dass jedoch Rückschlüsse auf den Absender gezogen werden können. Ihre Konkurrenten, drei alt eingesessene Unterweltchefs, reagieren sauer: So schnell lassen sie sich keine Marktanteile abjagen. Die Jagd auf die Neue beginnt ...
Dieses Buch ist nicht nur ein Krimi, der im Drogenmilieu spielt, sondern auch eine deutliche Abrechnung mit einer Politik, die Populismus schürt und die Schwachen zugunsten der Starken weiter schwächt. Auch wenn es ein Zukunftsszenario darstellt: Die von Zoë Beck beschriebenen Zustände sind bereits jetzt in Ansätzen erkennbar und ohne Gegensteuern wird es sich wohl weiter in diese Richtung entwickeln.
Doch zurück zum Krimi: Durch verschiedene Perspektiven erhält man Einblick in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereiche und wie diese trotz ihrer recht großen Unterschiede dennoch zusammenhängen. Ein Kneipenwirt bringt ungeplant einen Schutzgelderpresser um, worauf dessen Chefs erst einmal ein Komplott vermuten. Als Folge wird ein Drogenlieferant ermordet und durch ein einziges Wort, das bis zum Schluss nicht wirklich überzeugend bestätigt wird, gerät ein jahrelang mühsam austariertes Gleichgewicht in der Londoner Unterwelt ins Wanken. Es ist ein geniales Konstrukt, das die Autorin hier aufgebaut hat, denn irgendwie hängt Alles mit Jedem und Allem zusammen. Einiges mag vielleicht etwas zu plakativ sein (die Erklärung für Elliots Handeln oder die Verbindungen der Unterwelt mit der Politik), aber es fügt sich Alles wunderbar wie ein Puzzle zusammen und so manches Teil ist eine wirkliche Überraschung.
Auch wenn es ein bisschen viel an Gesellschaftsthemen sind, die Zoë Beck in diesem Buch anspricht (Rassismus, Überwachung, Gesundheitsversorgung, Zero-Tolerance bei Drogen - auch Nikotin, Alkohol usw.): Durch die schnellen Perspektivwechsel und die Unterschiedlichkeit der Personen wirkt der Krimi nicht überfrachtet, und ich war wirklich gefesselt von dieser spannenden Geschichte in einer Gesellschaft, die ich hoffentlich nie kennenlernen muss.

Bewertung vom 08.08.2017
Totenkalt / Detective Sergeant Logan McRae Bd.10
MacBride, Stuart

Totenkalt / Detective Sergeant Logan McRae Bd.10


sehr gut

Im winterlichen Schottland wird ein übel misshandelter Toter aufgefunden - offensichtlich ein Verbrechen im Drogenmilieu, das abschrecken soll. Oder ist der Geschäftspartner des Ermordeten dafür verantwortlich, der seit Tagen spurlos verschwunden ist? Ein Sonderermittlungsteam übernimmt den Fall, geleitet von Detective Chief Inspector Roberta Tiberius Steel, eine frühere Chefin von Sergeant Logan McRae. Auf ihren Wunsch und gegen seinen Willen wird er ihrem Team zugeteilt ...
Es ist der 10. Band um Sergeant Logan McRae, für mich war es jedoch der erste dieser Reihe. Im Großen und Ganzen bereitet es keine Schwierigkeiten mit diesem Teil einzusteigen; bei aufmerksamem Lesen werden bald die besonderen Beziehungen klar, die zwischen den Protagonisten bestehen. McRae ist der Vater der beiden Kinder seiner Chefin, wobei er vermutlich eher als Samenspender für die ostentativ bekennende Lesbe diente. Es herrscht ein derber, teilweise in die Fäkalsprache abrutschender Gesprächston zwischen den Beiden, wobei in erster Linie Steel dafür verantwortlich zeichnet; ein Charakter, bei dem ich beständig zwischen Zu- und Abneigung hin und her schwankte.
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Es ist ein Regionalkrimi bzw. -thriller. Doch während bei vielen Büchern dieser Art die Landschaft, in der sie spielen, meist nur als touristische Kulisse missbraucht wird, ist Schottland hier ein fester Bestandteil der Geschichte. Schottische Namen, Bräuche, Riten usw. werden hier wie selbstverständlich genutzt und führten zumindest bei mir gelegentlich zu kleinen Verwirrungen, da sie für deutsche Ohren doch ungewöhnlich klingen: Wee Hamish Mowat oder Cthulhu beispielsweise oder Ausdrücke wie 'Foos yer doos...' - keine Ahnung, was sie bedeuten. Aber egal, ich habe mich Schottland selten so nah gefühlt wie bei dieser Lektüre.
Die Sätze sind meist sehr knapp gehalten, es wirkt, als ob man McRae direkt beim Denken zusieht. Seine Neigung zu Selbstgesprächen mag auf den ersten Blick skurril wirken, doch wer ist davon gänzlich frei? Insbesondere dann, wenn es darum geht, schwierige Entscheidungen zu treffen bzw. sich zu Dingen aufzuraffen, die man eigentlich lieber vermeiden möchte. Und davon hat er mehr als genug. Obwohl sein Hang, sich den übelsten Situationen auszusetzen, fast schon etwas überzogen wirkte (er muss sein Freundin im Koma 'abschalten'; er wird Testamentsvollstrecker eines verstorbenen 'Mafia'bosses; er soll für die Innere Abteilung gegen eine Kollegin spionieren; wenn er nicht jemanden umbringt, wird er umgebracht bzw. korrupt), wurde mir Sergeant McRae immer sympathischer. Wohl auch deshalb, weil das Alles nicht ohne Witz passiert. Es hat schon fast etwas Slapstickhaftes an sich, wenn der Held halbtot unverschuldet schon wieder in die nächste lebensgefährliche Situation hineingerät und noch lädierter daraus hervorgeht. Auch sonst finden sich immer wieder Szenen, die mich zumindest zum Grinsen brachten: Wie der Polizeineuling Tufty seinem Chef die Zeit erklärt ('Die Zeit ist eine sekundäre Eigenschaft eines entropischen Feldes.') oder als Steel für die Mutter McRaes gehalten wird.
Der eigentliche Fall wirkte auf mich eher nebensächlich, in der Hauptsache ging es um McRae und seine Schwierigkeiten, die wirklich lebensbedrohlich sind. Die Klärung des Mordes war zwar überraschend, wirkte aber fast schon banal. Dass damit so ganz nebenbei noch mehr geklärt wurde, machte das Ganze auch nicht besser. Trotzdem: Es hat mir gefallen, weniger wegen der Lösung des Verbrechens, sondern wegen der Figuren und ihrer Verwicklungen, die erfrischend anders auf mich wirkten.

Bewertung vom 24.07.2017
Swing Time
Smith, Zadie

Swing Time


weniger gut

Zwei kleine Mädchen, die die Liebe zum Tanz und zur Musik verbindet, werden die besten Freundinnen. Doch obwohl sich ihre Leben in gegenläufige Richtungen entwickeln, kreuzen sich ihre Wege immer wieder.
Berichtet wird die Geschichte der namenlosen Ich-Erzählerin, die von Beginn an in den Bann der dominanten, tanztalentierten Tracey gezogen wird. Zwar leben beide in einem eher ärmlichen Vorort Londons, doch ihr familiäres Umfeld unterscheidet sich deutlich. Während Tracey in einem sozial schwierigen Elternhaus groß wird (Mutter alleinerziehend, Vater kriminell, Bildung (außer Tanz) zweitrangig), entspricht die Familie der Ich-Erzählerin eher dem bildungsbürgerlichen Ideal. Insbesondere ihre Mutter, die aus Jamaica stammt, ist politisch interessiert und voller Wissensdurst und versucht diese Neigungen ihrer Tochter zu vermittlen, während ihr britischer Vater mehr für die emotionalen Belange zuständig ist.
Tracey macht Tanzen zu ihrem Beruf, ihre Freundin geht auf's College. Durch einen Zufall wird sie die persönliche Assistentin einer weltberühmten Sängerin und jettet fortan mit dieser durch die Welt, sodass die Freundinnen sich aus den Augen verlieren.
Tja, und mein Resümee? Ich tat mich schwer mit dieser Geschichte, die so nüchtern und sachlich erzählt wurde, als würde es sich um eine Dokumentation handeln. Nur war das Thema bei Weitem nicht so fesselnd wie man es von einer Solchen erwarten würde. Die Ich-Erzählerin ist ein eher farbloser Charakter, der sich sein Leben lang von Anderen sagen lässt, was zu tun ist: zuallererst die Mutter, dann Tracey und am Ende Aimee, die Sängerin. Auch die anderen Figuren hinterließen keinen großen Eindruck bei mir - vielleicht liegt es an der nüchternen Darstellungsweise, mit der sie beschrieben werden. Obwohl es in diesem Buch auch viel um Freundschaft geht, ist davon nur wenig zu spüren; Wärme und Nähe zu den ProtagonistInnen sind Mangelware.
Es gibt viele wichtige Themen, die in diesem Buch angesprochen werden, keine Frage: Rassendiskriminierung, Kindesmissbrauch, Verhältnis Arm-Reich undundund. Doch gemeinhin geht es nur einen Schritt in diese Richtung, das Meiste wird nur angedeutet, nichts mutet wirklich so wichtig an, dass es eine intensivere Betrachtung wert wäre. Vielleicht liegt es an dem, was die Protagonistin gegen Ende sagt: "Ich will nur für mich selbst verantwortlich sein." Dieser Satz scheint das Motto zu sein, das das ganze Buch durchzieht. So liest man diese durchaus gut geschriebene Lebensbeschreibung, die einen mit kaum einer Gefühlsregung zurücklässt und kann nur hoffen, dass der offene Schluss zu einem besseren Weiterleben der Ich-Erzählerin führt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.07.2017
Was man von hier aus sehen kann
Leky, Mariana

Was man von hier aus sehen kann


ausgezeichnet

Dieses Buch ist wie eine Wundertüte, voller geheimnisvoller Dinge und Überraschungen, mit denen niemand rechnet. Denn eigentlich erzählt es die Geschichten der Menschen eines kleinen Dorfes im Westerwald, das von außen betrachtet wohl eher öde und langweilig wirkt. Doch die Menschen und deren Leben sind alles andere als öde und langweilig. Da ist Selma, die Großmutter der Erzählerin Luise, die Rudi Carrell ungeheuer ähnlich sieht und gelegentlich von einem Okapi auf einer Wiese träumt, woraufhin innerhalb der nächsten 24 Stunden jemand stirbt. Der Optiker, der eine ganze Wohngemeinschaft von Stimmen in sich beherbergt und unsterblich in Selma verliebt ist, ihr es aber nie gesteht. Dafür schreibt er ihr Liebesbriefe, die aber immer nach spätestens dem zweiten Satz enden und die er nie abschickt. Elsbeth, die abergläubische Schwägerin von Selma, die gegen Alles ein Heilmittel weiß und hat: Gicht, ausbleibende Liebe und ausbleibenden Kindersegen, unausgebliebene Hämorrhoiden und quer liegende Kälber. Und natürlich Luise, die Ich-Erzählerin, die bereits ihr ganzes Leben zwischen und mit diesen und noch mehr Menschen verbringt und in diesem Buch davon berichtet.
Nun könnte man meinen, was gibt es da schon groß zu berichten, aus einem kleinen Dorf im Westerwald, was vermutlich auch Luises Vater so sieht (sein Lieblingssatz: "Ihr müsst dringend mal ein bisschen mehr Welt hereinlassen."), denn er verschwindet eines Tages um zu reisen. Doch hier gibt es Alles, was es auch in der großen weiten Welt gibt: es wird gelebt, geliebt und gestorben, Glück und Drama, Freude und Leid. Und Mariana Leky lässt Luise so wunderbar liebevoll, heiter und bildhaft von dieser kleinen Welt in der großen erzählen, dass ich am liebsten sofort aufgebrochen wäre, um all diese Menschen kennenzulernen. Wunderschöne Sätze folgen einer nach dem andern und ich schwelgte so richtig in dieser herrlichen Sprache: "Er sah ihn (den Hund) nur selten, das vereinfachte die Liebe, denn Abwesende können sich nicht danebenbenehmen."; "Es schien, als habe er (der Hund) mehrere Leben, die er alle hintereinander weglebte, ohne zwischendurch zu sterben."; "Marlies' Tante hatte sich umgebracht, im Alter von 92 Jahren hatte sie sich in der Küche erhängt, wofür Marlies kein Verständnis hatte, denn mit 92, fand sie, lohne das Aufhängen ja kaum noch."
Ein Buch über das Leben, die Liebe und den Tod - wunderschön!

Bewertung vom 02.07.2017
Wellen
Keyserling, Eduard von

Wellen


sehr gut

Vor über 100 Jahren ist dieses Buch das erste Mal erschienen, aber in vielem liest es sich auch wie ein Bild unserer Zeit und wirkt hochaktuell.
Generalin Palikow hat für ihre Familie einen Sommerurlaub organisiert - und selbstverständlich sind alle gekommen: ihre Tochter Bella mit ihrem Ehemann Baron Buttlär, deren Kinder Lolo, Nini und Wedig ebenso wie Lolos Bräutigam Hilmar. Ein Haus direkt am Meer wurde gemietet, nur wenige kleine Fischerhäuser befinden sich in der Umgebung. Doch in einem davon logiert das Ehepaar Grill, das 'berühmtberüchtigt' ist. Denn Doralice Grill, eine wunderschöne junge Frau, war zuvor mit dem Grafen Köhne verheiratet und verließ ihn für den Maler Grill - welch ein Skandal! Insbesondere Bella ist darüber verstimmt, eine solche Person in unmittelbarer Nachbarschaft zu wissen, was nicht zuletzt daran liegt, dass sie um die Schwäche ihres Ehemannes Bescheid weiß - schöne Frauen.
Etwas altertümlich klingt die Sprache, aber Eduard von Keyserling beschreibt sehr bildhaft und ausdrucksvoll den Strand mit der ihn umgebenden Landschaft sowie die daran angrenzende See; seine Begeisterung über die Schönheit der Natur und die Kraft des Meeres waren für mich durch seine Worte hindurch regelrecht spürbar. Doch noch bestechender empfand ich seine Darstellung der Personen, die in ihrer Gesamtheit beinahe schon eine Welt für sich darstellten: Auf der einen Seite die adlige Familie, deren jüngere Generationen gegen die Einhaltung der überkommenen Konventionen, für die die Generalin steht, rebellieren. Und auf der anderen Seite der Maler Grill sowie die Fischer, die scheinbar ohne Zwänge ihr Leben leben dürfen wie sie wollen. Dazwischen steht Doralice, die es zwar wagte, die Welt dieser Zwänge zu verlassen, sich aber trotzdem immer wieder nach dem Komfort dieses Lebens sehnt und sich in ihrer neuen Welt noch immer nicht heimisch fühlt. Sie ist eine Ausgestossene ebenso wie der Geheimrat Knospelius (der ebenfalls dort in einem Fischerhaus residiert), der zwar eine geachtete Stelle in der Reichsbank innehat, aber aufgrund seiner Missbildung dennoch nicht dazu gehört.
Es ist überdeutlich, dass von Keyserling diesem ländlichen Adel nicht viel Sympathie entgegenbrachte, was vermutlich aus ähnlichen Erfahrungen resultierte wie sie der Geheimrat erfahren musste. Vieles ist mit einer derart spitzen Feder geschrieben, dass das Buch bei seinem ersten Erscheinen in bestimmten Kreisen vermutlich nicht gelesen wurde. Oder falls doch, nur, um sich aufzuregen ;-) Beispielsweise die Beschreibung von Bella: 'Aufgebraucht von Mutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rechtes bewußt, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äußeres zu geben.' Oder als die Generalin ihrer Tochter das Wesen der Männer erklärt: 'Es ist immer dieselbe Geschichte, wenn ihr heiratet, wollt ihr hübsche Männer haben, aber ein hübscher Mann konserviert sich länger als unserein, der bringt keine Kinder zur Welt, der schont sich mehr ...' und 'Die Ehe, meine Liebe, ..., ist vielleicht sehr heilig, aber unsere Männer sind es nicht.' Es gibt viele solcher kleiner Bösartigkeiten, sehr zur Freude der heute Lesenden, vermute ich. Darüber hinaus hatte der Autor ebenso einen überaus guten Blick für diverse andere gesellschaftliche Probleme, die auch heute noch aktuell sind.
Ein schönes, witziges und nachdenklich machendes Buch, das in Manchem wohl seiner Zeit voraus war.

Bewertung vom 27.06.2017
Teufelskälte / Kommissar Tommy Bergmann Bd.2
Sveen, Gard

Teufelskälte / Kommissar Tommy Bergmann Bd.2


gut

16 Jahre nach dem Mord an einem 15jährigen Mädchen, der der Auftakt zu einer ganzen Serie von grausamen Tötungen junger Frauen war, geschieht wieder eine solche Tat. Doch der Täter sitzt sicher verwahrt in einer psychiatrischen Klinik, sodass die alten Fälle, insbesondere der erste, wieder neu aufgerollt werden. Wurde der Falsche verurteilt? Oder hatte der Mörder einen Komplizen? Oder ein Nachahmungstäter? Bei der Suche nach neuen Indizien stößt Kommissar Bergmann auf Spuren, die in seine eigene Vergangenheit führen ...
Dieser Krimithriller gestaltet sich trotz der offenbar brutalen Verbrechen bemerkenswert unblutig. Zwar wird immer wieder deutlich darauf hingewiesen, wie grausam der Täter vorgeht, doch es bleibt der eigenen Phantasie vorbehalten, sich das vorzustellen (was manchmal ja schlimmer sein kann als die 'besten' Beschreibungen ;-)). Im Gegensatz dazu ist die Beschreibung des 'Innenlebens' des ermittelnden Kommissars Bergmann und seiner Mitarbeiterin Bech recht ausführlich gehalten, für meinen Geschmack etwas zu ausführlich. Beide haben unabhängig voneinander Ängste die sich ähneln, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Immer wieder treten diese massiv in den Vordergrund und werden so umfassend beschrieben, dass ich zeitweilig richtiggehend genervt davon war. Natürlich ist es spannender, wenn die Protagonisten ihre eigenen Probleme haben; aber kann man das nicht subtiler schreiben?
Der Fall selbst entwickelt sich zu einem Puzzlespiel mit unüberschaubar vielen Teilen. Glaubt man endlich halbwegs einen Überblick bekommen zu haben, kommen neue verwirrende Details hinzu. Ich habe selten einen Krimi gelesen, der mich mit fortschreitender Seitenzahl eher mehr verwirrte, als ich dass ich der Lösung näher kam. Erst im letzten Fünftel begannen sich dann die Nebel zu lichten, die in einem verblüffenden Ergebnis aufgingen. Was aber wirklich fies ist (und das ist jetzt eher positiv gemeint ;-)), ist das offene Ende. Geschickt gemacht, denn natürlich will man wissen, was hinter dem mysteriösen Gedicht von Gustaf Fröding steckt (und noch ein bisschen mehr). Und kauft sich deshalb den dritten Band ;-)
Alles in allem ein spannender, aber etwas ausufernder Krimithriller, dem meiner Meinung nach eine kleine Straffung gut getan hätte.

Bewertung vom 19.06.2017
Eden / Eden Archer & Frank Bennett Bd.2
Fox, Candice

Eden / Eden Archer & Frank Bennett Bd.2


sehr gut

Beinahe nahtlos macht 'Eden' dort weiter, wo 'Hades' endete: Nach der erfolgreichen Jagd auf den Serienmörder Jason, der kurz zuvor auch Frank Bennetts Geliebte ermordet hatte, ist Frank in ein tiefes Loch gestürzt, das er mit Alkohol und Tabletten zu füllen versucht. Eden, seine Partnerin, reißt ihn gnadenlos heraus, denn ein, nein, eigentlich zwei neue Fälle stehen an. Zum einen benötigt Hades, der Vater von Eden, die inoffizielle Hilfe von Frank. Zum anderen sind drei junge Mädchen verschwunden, die alle kurz zuvor auf der Farm von Jackie waren. Eden wird dort undercover eingeschleust und von einer Minute auf die andere ist Franks volle Aufmerksamkeit notwendig.
Wie auch beim ersten Teil gibt es mehrere Erzählstränge. Während aus Edens Sicht der Fortgang ihrer Undercover-Ermittlungen geschildert wird, ermittelt Frank neben der Überwachung von Edens Einsatz auch für Hades, der wissen möchte, was aus seiner Jugendliebe Sunday geworden ist. Denn deren Neffe ist davon überzeugt, dass Hades für den Tod seiner Tante verantwortlich ist und will Antworten. Antworten, was wirklich passiert ist. Im dritten Erzählstrang wird Hades Lebensweg geschildert bis zum Zeitpunkt von Sundays Verschwinden.
Die Spannung ist dieses Mal deutlich verhaltener, obwohl die zu klärenden Fälle im Gegensatz zum ersten Band tatsächlich erst kurz vor dem Ende mit wirklichen Überraschungen aufwarten können. Vielleicht weil es keine weiteren Verbrechen gibt bzw. das Ganze weit in der Vergangenheit liegt, entwickelt sich die Geschichte mehr zu einem Psychogramm des Ermittlers sowie einer Gruppe von Personen, die fern am Rande der Gesellschaft leben. Insbesondere Letzteres liest sich schrecklich, wenn sich Menschen schlimmer als Tiere verhalten: wie sie im Dreck hausen, bis zur Besinnungslosigkeit besaufen und zudröhnen, aus Freude Menschen und Tiere quälen und vielleicht noch Schlimmeres.
‚Eden‘ ist zwar weniger spannend als Band 1, aber dennoch fesselnd. Band 3 werde ich also auch noch lesen ;-)

Bewertung vom 19.06.2017
Vom Ende an
Hunter, Megan

Vom Ende an


ausgezeichnet

Während draußen England in den Fluten versinkt, bringt die namenlose Ich-Erzählerin ihr Kind zu Welt. Es herrscht Panik, die Krankenhäuser sind überfüllt und schon nach kurzer Zeit müssen Mutter und Kind das Krankenhaus verlassen. Gemeinsam mit dem Vater brechen sie auf zu den Schwiegereltern, die in höheren Lagen leben. Doch der Friede ist nur von kurzer Dauer. Die Auswirkungen der Katastrophe hinterlassen auch bei ihnen Spuren und zwar so schlimme, dass sie weiterziehen müssen.
Wer jetzt glaubt, eine Endzeit-Dystopie vor sich zu haben, hat sich getäuscht. Das ganze Buch (besser Büchlein, es hat gerade mal 157 Seiten. Und wenn man die Leeren abzieht, bleiben noch 127.) wird von der 'geriatrischen Erstgebärenden', wie sie sich selbst bezeichnet, aus deren Sicht erzählt. Allerdings nicht im herkömmlichen Erzählstil, der sich chronologisch durch die Zeit bewegt und gegebenenfalls noch Erinnerungen zulässt. Stattdessen sind es einzelne Sätze, die das Wichtigste widergeben: was ihr widerfährt, sowohl in der Gegenwart, Vergangenheit oder Wünsche und Träume, wobei ihr Kind klar im Mittelpunkt steht. Schlägt man das Buch auf, wirkt es wie eine Art Tagebuch, das jedoch weitestgehend emotionslos geschrieben wurde. Als ob sie zwischen sich und dem Erzählten die größtmögliche Distanz bringen will; selbst Personen werden nur mit Buchstaben statt mit Namen benannt. Doch trotz dieser scheinbar eher kargen Darstellungsweise war ich mir ihrer Situation stets vollkommen bewusst, denn die Autorin hat eine unglaublich bildreiche Sprache mit wunderbaren Neologismen (beispielsweise schmetterlingsflügelzarte Tritte). Vielleicht gerade deshalb berührten mich ihre Sätze so stark, dass ich die Liebe und die Furcht, die sie für und um ihr Kind und ihren Mann empfindet, fast schon zu spüren vermeinte.
Es ist ein wirklich überraschendes Büchlein, das trotz seines eher leidenschaftslosen Tonfalls jede Menge Gefühle zu wecken versteht, die mich die Lektüre nicht so schnell wieder vergessen lassen. Vielleicht auch, weil die eigenen Emotionen intensiver sind als die angelesenen ;-)