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⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 10.04.2016
Du. Wirst. Vergessen. / Das Programm Bd.1
Young, Suzanne

Du. Wirst. Vergessen. / Das Programm Bd.1


ausgezeichnet

Suzanne Young schildert in ihrem Buch eine bedrückende, freudlose Zukunft. Weltweit bringen sich Jugendliche um - reihenweise, oft ohne ersichtlichen Grund. Anti-Depressive scheinen das nicht verhindern zu können, doch es gibt neue Hoffnung für verzweifelte Eltern, die um ihre Kinder fürchten: das "Programm", eine neuartige Therapie, die aus als gefährdet eingestuften Teenagern glückliche und angepasste macht. Dummerweise verlieren sie dabei einen Großteil ihrer Erinnerungen und damit auch ihrer Gefühle... Wer wiederkommt, ist ein anderer Mensch, der seine Freunde nicht mehr erkennt.

Von allen Seiten werden Kinder und Jugendliche überwacht: von den Eltern, den Lehrern, überhaupt allen Erwachsenen in ihrem Leben. Wer weint, wütend reagiert oder anderweitig negative Emotionen zeigt, riskiert, ins Programm eingewiesen zu werden, und das will keiner. Deswegen zeigen die meisten Jugendlichen ihre wahren Gefühle nicht mehr - niemandem, niemals, unter keinen Umständen. Aber gerade dieser Zwang, sich 24 Stunden am Tag zu verstellen, kein Ventil mehr zu haben für Trauer, Angst oder Zorn, treibt viele erst recht in den Selbstmord.

Ich fand diese Grundidee unglaublich faszinierend und originell. In vielen Dystopien geht es um Zensur, aber hier wird das wirklich auf die Spitze getrieben! Denn es geht ja nicht darum, bestimmte Weltanschauungen oder politische Ansichten zu verbieten, sondern um grundlegende menschliche Empfindungen, die man gar nicht abstellen kann. Dabei sind die Menschen, die die Gefühle der Jugendlichen so grausam beschneiden, häufig genau die Menschen, die sie lieben und nur das Beste für sie wollen.

Sloane war mir direkt sehr sympathisch, gerade weil sie ihre Gefühle nicht perfekt im Griff hat. Man spürt jederzeit, wie bedroht sie sich auch in den alltäglichsten Situationen fühlt. Hat jemand gesehen, dass ich Tränen im Auge hatte? Habe ich jetzt breit genug gelächelt, glücklich genug geklungen? Am Anfang der Geschichte wirkt sie eher schwach, denn sie klammert sich sehr an ihren Freund James und hofft darauf, dass er sie vor allem Bösen beschützen kann - aber das erweist sich natürlich schnell als vergebliche Hoffnung, und danach muss Sloane zeigen, dass sie selber stark, klug und entschlossen sein kann. In meinen Augen durchlebt sie im Laufe der Geschichte ein großes emotionales Wachstum, und das ist es, was für mich hauptsächlich einen guten Buchcharakter ausmacht.

James hatte es bei mir etwas schwerer. Er will zwar alle beschützen, die er liebt, aber dadurch, dass er immer stark sein und niemanden in Gefahr bringen will, wagt er auch nur selten, seine eigenen Ängste offen zu zeigen. Da er aber gerade dadurch unter enormem Druck steht, schlägt sein Verhalten oft schnell um und er kann ein richtiger Bad Boy sein. Dennoch fand ich auch ihn interessant, und er ist mir im Laufe der Geschichte ans Herz gewachsen.

Die Liebesgeschichte hat etwas sehr Rührendes, denn Sloane und James riskieren viel füreinander. Ihre Liebe steht unter keinem guten Stern, und als James mit dem Selbstmordvirus infiziert wird, scheint alles verloren - im Programm werden frühere Beziehungen und Freundschaften komplett gelöscht, um einen Neustart zu ermöglichen. Aber Sloane gibt nicht auf...

Die Geschichte ist meiner Meinung nach zwar düster und bedrückend, aber auch sehr spannend, mit vielen interessanten Wendungen. Im ersten Teil habe ich mich immer gefragt: was genau ist dieses "Programm" denn nun? Was machen sie mit den Jugendlichen? Deswegen wurde es für mich dann auch doppelt packend, als der Handlungsort sich endlich ins Herz des Programms verlegte. Ich fand die Erklärung dieser "Wunderheilung" sehr glaubhaft - so perfide wie genial. Leider könnte ich mir wirklich vorstellen, dass so etwas in der Zukunft möglich sein könnte...

Der Schreibstil hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin erzeugt eine sehr dichte Atmosphäre, so dass ich direkt mitten drin war im Geschehen und Sloanes Gefühle immer gut nachvollziehen konnte.

Bewertung vom 07.04.2016
Weiße Krähe
Sedgwick, Marcus

Weiße Krähe


sehr gut

"Gothic Thriller" prangt auf dem Titelbild - aber in meinen Augen ist das Buch weniger ein Thriller als ein ungewöhnlicher, atmosphärisch dichter Schauerroman, der sich mit existentiellen Fragen beschäftigt: Wenn wir unsere letzte Reise antreten, was erwartet uns auf der anderen Seite, Himmel oder Hölle? Existiert eine höhere Macht, und falls ja, ist es ein liebender Gott oder ein gleichgültiger, vielleicht sogar rachsüchtiger? Am Ende schließt sich der Kreis und die drei Schlüsselfiguren beantworten diese Fragen für sich.

Im Grunde geht es also um den Tod, und Marcus Sedgwich verlegt seine Geschichte passenderweise in einen dem Untergang geweihten Ort: das fiktive Örtchen Winterfold, das mit jedem Sturm ein wenig mehr vom Meer verschlungen wird. So unglaublich es scheint: Winterfold beruht auf einem realen Ort, nämlich der Stadt Dunwich, die buchstäblich weggespült wurde, Haus für Haus! Auch die blutigen Experimente des Dorfpfarrers haben eine reale Grundlage, über die ich hier noch nichts verraten will, um nicht zu viel vorwegzunehmen.

In vielen Szenen spürt man sie geradezu, die Unausweichlichkeit von Winterfolds langsamen Sterben - und genauso unausweichlich entfaltet sich die Geschichte, auf zwei Zeitebenen und aus drei grundverschiedenen Blickwinkeln erzählt. Diese Erzählweise fand ich sehr originell und passend, denn sie erlaubt es dem Leser, verschiedene Ebenen der Geschehnisse zu erforschen.

Die Tagebucheinträge des Dorfpfarrers erzählen den Teil der Geschichte, der im Jahr 1789 spielt. Er denkt viel über die Hölle nach und fragt sich, was es zu bedeuten hat, dass er sich die Hölle so viel besser vorstellen kann als den Himmel... Genau das bewegt ihn dann auch dazu, sich an Experimenten des neu zugezogenen Artes zu beteiligen. So sehr mich seine Gedanken auch verstörten und abstießen, so wenig konnte ich mich ihrem Sog entziehen. Beim Lesen empfand ich eine Art leisen, schleichenden Horror.

Ferelith ist ein hochintelligentes Mädchen, das nach dem tragischen Ende seiner Kindheit schon viel zu früh auf eigenen Beinen stehen musste. Sie ist ein wankelmütiger Charakter, wirkt manchmal von einer Idee besessen oder sogar wahnsinnig, aber sie findet in ihrer Erzählung auch poetische Worte voll dunkler Schönheit. Sie macht es dem Leser nicht einfach. Ich habe mir oft den Kopf über ihr Verhalten zerbrochen, aber gerade das macht sie auch so interessant.

Der Pfarrer und Ferelith sind Suchende - sie wollen ergründen, ob es die "weiße Krähe" gibt, den Beweis eines Lebens nach dem Tode. Rebecca aber sucht nicht, sondern hat verloren, was sie glaubte, schon sicher gefunden zu haben. Ihr Vater muss sich für etwas sehr Gravierendes verantworten und hat sich daher mit seiner Tochter nach Winterfold zurückgezogen, wo er erwartet, die nötige Ruhe zu finden. Entwurzelt von diesem Umzug, im Stich gelassen von ihrem Freund, fühlt sich Rebecca zutiefst einsam und lässt sich daher auch auf die Freundschaft mit Ferelith ein, obwohl ihre Instinkte ihr von Anfang an sagen, dass diese etwas Seltsames an sich hat. Rebecca war für mich in diesem Buch der Anker, denn die beiden anderen Hauptfiguren sind oft sehr extrem, sie aber ist ein ganz normales, sympathisches Mädchen mit Wünschen und Zielen, die ich nachvollziehen konnte.

Wie schon gesagt, für mich ist das Buch eigentlich kein Thriller. Ich fand es sehr spannend, aber auf eher hintergründige, leise Art und Weise. Vor allem aber besticht das Buch durch seine eindringliche, düstere Atmosphäre. Den Schreibstil fand ich wunderbar - meist eher einfach, aber mit ausdrucksstarken Bildern. Obwohl die Handlung recht gradlinig ist und das Erzähltempo eher langsam, konnte ich das Buch einfach nicht weglegen.

Bewertung vom 04.04.2016
Witch Hunter Bd.1
Boecker, Virginia

Witch Hunter Bd.1


sehr gut

Die verwinkelten Städte und Dörfer, die Kleidung der Menschen, die Kluft zwischen Adel und Bürgerlichen, die Angst vor Magie, die Scheiterhaufen… Bunte, anschauliche Details lassen einen Hauch unserer tatsächlichen Vergangenheit zur Zeit der Hexenverfolgung erahnen, aber darüber hinaus erzählt das Buch eine spannende Fantasygeschichte, die sicher nicht nur junge Leser begeistern wird. Viel Neues hat die Grundgeschichte vielleicht nicht zu bieten, aber sie ist solide umgesetzt und liest sich sehr unterhaltsam.

In dieser Welt ist Magie etwas ganz Reales, das lange Zeit nicht nur als normal, sondern auch als gut und erstrebenswert angesehen wurde. Aber dann brach die Pest aus und wütete verheerend unter den Menschen, und es hieß, Magier hätten diese Krankheit erschaffen. Danach wurde Magie strikt verboten, und seitdem kann einen das kleinste Fehlverhalten auf den Scheiterhaufen bringen. Der zweitmächtigste Mann im Land ist direkt nach dem König der Inquisitor Blackwell, dem die Hexenjäger unterstehen - zumeist sehr junge Menschen, zum Teil Waisen, die schon als Teenager mit der harten Ausbildung begonnen haben.

Elizabeth, die Protagonistin, verlor mit neun Jahren ihre Eltern an die Pest und wurde kurz danach von dem nur zwei Jahre älteren, ebenfalls verwaisten Caleb gefunden. Die zwei Kinder zogen gemeinsam los, fanden Arbeit in der Stadt, ersetzten sich gegenseitig die Familie… Schließlich wurde Caleb als Hexenjäger rekrutiert und überredete Elizabeth, die zu dem Zeitpunkt noch ein Kind war, ihm zu folgen und die Ausbildung ebenfalls anzutreten. Zu Beginn der Geschichte ist Elizabeth sechzehn Jahre alt, hat aber schon zwei Jahre im aktiven Dienst hinter sich und gilt als hochtalentiert, diszipliniert und gefährlich.

Am Anfang tat ich mich etwas schwer mit Elizabeth. Sie erschien mir für ihr Alter schon sehr abgebrüht und skrupellos: sie weiß genau, was mit den Hexen und Zauberern passiert, die sie jagt und abliefert, und dennoch kann sie nach einer Verhaftung noch unbefangen lachen. Im Laufe der Geschichte gewann ich aber den Eindruck, dass sie im Prinzip selber ein Opfer der Inquisition ist. Durch den frühen Verlust ihrer Eltern war sie als Kind sehr empfänglich für die Anti-Magier-Propaganda, und das wurde von Blackwell schamlos ausgenutzt, um sie geradezu für seine Zwecke abzurichten.

Mir hat gut gefallen, dass sie im Laufe der Geschichte eine echte Wandlung durchmacht. Zwar dauert es ein bisschen, bis sie endlich anfängt, die Dinge zu hinterfragen, aber eigentlich ist das nur realistisch! Eine jahrelange Dressur auf eine bestimmte Weltanschauung lässt sich eben nicht über Nacht ungeschehen machen. Mehr und mehr kristallisiert sie sich heraus als starke, aber dennoch verletzliche junge Frau, die zu echter Reue fähig ist.

Auch die anderen Charaktere fand ich gut ausgearbeitet, glaubhaft, lebendig und unverwechselbar.

Und natürlich gibt es auch eine Liebesgeschichte. Zu viel möchte ich darüber nicht verraten, nur soviel: die junge Liebe wird noch ganz zart und zaghaft beschrieben, war aber gerade dadurch für mich sehr berührend und romantisch.

Die Geschichte hat viel an Spannung und Action zu bieten, und auch in den ruhigeren Passagen fand ich sie nie langweilig. Ein, zwei Entwicklungen habe ich mir zwar schon vorher gedacht, aber dennoch fand ich die Auflösung am Schluss nicht gänzlich vorhersehbar. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass auf den Konflikt zwischen Caleb und Elizabeth näher eingegangen wird.

Der lebendige, ausdrucksstarke Schreibstil hat mir sehr gut gefallen; er verbindet wunderbar das Historische mit dem Fantastischen. Die Autorin beschreibt alles ausführlich genug, dass man jede Szene vor sich sehen, hören und manchmal auch riechen kann, aber dennoch in raschem Tempo, locker und mitreißend.

Bewertung vom 30.03.2016
Selbstporträt mit Bienenschwarm
Wagner, Jan

Selbstporträt mit Bienenschwarm


ausgezeichnet

Zugegeben: ich bespreche dieses Hörbuch als selbsterklärter Lyrik-Laie. Ja, ich lese viel - aber für gewöhnlich Belletristik. Mein Mann ist derjenige, auf dessen Nachttisch sich die Gedichtbände stapeln, und meine Kenntnis der Poesie beschränkt sich mehr oder weniger auf das, was er mir erzählt.

Selbstverständlich hatte er mir (schon vor meiner Begegnung mit diesem Hörbuch) von Jan Wagner, dem vielfach ausgezeichneten Lyriker erzählt. Auf dessen Wikipedia-Seite hat die Rubrik "Auszeichnungen" übrigens 30 Einträge, darunter zum Beispiel der Anna-Seghers-Preis (2004), der Ernst-Meister-Preis für Lyrik (2005), der Wilhelm-Lehmann-Preis (2009), der Friedrich-Hölderlin-Preis (2011) und zuletzt der Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik (2015) für seinen Band "Regentonnenvariationen", von dem sich viele Gedichte auch auf den CDs dieses Hörbuchs wiederfinden.

Das Hörbuch zog natürlich auf Wunsch meines Mannes hier ein, kurz nachdem das Buch Anfang Februar seinen Ehrenplatz ganz oben auf dem wackligen Nachttischstapel fand. Am Anfang hörte ich, ich muss es gestehen, nur mit einem Ohr zu, wenn er die CDs laufen ließ, aber es dauerte nicht lange, bis mich Jan Wagners Lyrik völlig gefangen nahm.

Deswegen möchte ich mich in meiner Rezension nicht nur an die Connaisseure der Lyrik wenden, sondern ausdrücklich auch an Leser wie mich, die bisher eher Kostverächter waren, was Gedichte betrifft! Mich hat Jan Wagner mit seinen Gedichten mühelos überzeugt, dass Lyrik nicht nur zum Nachdenken anregen, sondern auch Spaß machen kann (und darf).

Viele seiner Gedichte sind kurze, prägnante Momentaufnahmen, auf das Wesentliche reduziert und verdichtet, während andere kleine Geschichten erzählen, die das Außergewöhnliche zeigen - und das Gewöhnliche aus außergewöhnlichen Blickwinkeln. Ich habe öfter gelacht, manchmal gestutzt, gelegentlich die Stirn gerunzelt, aber immer einen Nachhall in mir verspürt. Viele Gedichte erzählen ihre Geschichten mit feinem Humor und Wortwitz, der meines Erachtens nie platt oder abgedroschen wird, während andere leichthin Themen wie Tod und Vergänglichkeit ansprechen.

Man kann den Satz "Jan Wagners Gedichte sind..." nicht mit einem Wort beenden, denn sie sind vieles: witzig, feinsinnig, elegant, hintergründig, überraschend, pointiert... Er spielt virtuos mit der Sprache, mit Wortklang und Rhytmus - aber auch mit den Erwartungen des Lesers bzw Hörers.

Da finden sich Haiku (Kurzgedichte japanischer Form) wie dieses

"bleib, sprach das dunkel,
und dein gesicht löst sich auf
wie ein stück zucker."
(aus "Regentonnenvariationen")

genauso wie augenzwinkernde Wortakrobatik:

"trägt sein gebirge übern paß,
bepackt mit seide, einem sack
voll reis, gerät auf schmalstem grat,
nicht aus dem tritt, dem takt; vorbei
am flugzeugwrack, der yetispur,
in seinem stall himalaya,
vor weißgezackten gipfeln: yak."
(Auszug aus "lamento mit yak")

Autoren sind nicht unbedingt automatisch die besten Sprecher für Vertonungen ihrer Bücher, aber Jan Wagner liest mit einer sehr angenehmen Sprechstimme und Sprachmelodie. Auch das Tempo ist meiner Meinung nach genau richtig: Zeit genug, das Gehörte sacken zu lassen, aber nicht schleppend.

Fazit:
Dürfen Gedichte unterhaltsam sein? Absolut! Die Gedichte von Jan Wagner kann man ganz feierlich im ruhigen Lesezimmer hören und danach wirken lassen, sich aber auch zwischendurch im Auto auf dem Weg zum Bäcker vorlesen lassen (und das ganz wunderbar). Sie fordern zum Mitdenken und Hinterfragen auf, auch zum Schmunzeln, immer aber zum genauen Hinschauen.

Bewertung vom 28.03.2016
Die Träne des Fressers
Marus, Nathan C.

Die Träne des Fressers


sehr gut

Zu sagen, dieses Buch ist komplex, ist in etwa so, als würde man sagen: Oh, in Mordor ist es ein klein bisschen ungemütlich. Voldemort ist kein so netter Typ. Die Hölle könnte eine Klimaanlage vertragen. Dieses Buch ist wahnsinnig komplex, mit einer verwickelten Handlung und einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Charaktere, die fast alle mehr sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Dauernd passiert etwas Neues, Allianzen verschieben sich, Charaktere tun etwas gänzlich Unerwartetes... Alles ist möglich, die Realität nimmt sich gelegentlich eine Auszeit. Da kann einem schon mal der Kopf schwirren, so dass ich für das Buch länger gebraucht habe, als ich normalerweise für 464 Seiten brauchen würde! (Ok, das könnte auch daran liegen, dass die Schrift sehr klein ist, so dass es mit etwas größerer Schrift vielleicht eher 600 Seiten wären...)

Das soll aber nicht heißen, dass es sich gezogen oder mir keinen Spaß gemacht hätte - in meinen Augen lohnt es sich, sich ein bisschen anzustrengen, um den Überblick nicht zu verlieren, denn "Die Träne des Fressers" ist einer der originellsten Fantasyromane, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Er sprengt ab und an in meinen Augen auch die Genregrenzen und liest sich eher wie Science Fantasy als klassische High Fantasy, was mir gut gefiel.

Wenn ich die Charaktere alle einzeln und so ausführlich beschreiben würde, wie sie es verdienen, säßen wir morgen noch hier, aber so viel: sie sind alle sehr komplex beschrieben, wobei sich auch solche, die auf den ersten Blick NUR böse oder NUR gut erscheinen, als wesentlich vielschichtiger entpuppen. Viele davon sind mir sehr ans Herz gewachsen - und bei denen, die ich gehasst habe, habe ich es geliebt, sie zu hassen. (Bis auf Cerce, die habe ich einfach nur gehasst, denn sie ist wirklich, wirklich gruselig... Aber das soll sie wohl auch sein!)

Natürlich gibt es die Klassiker der Fantasy, wie Elfen und Zwerge, aber das Buch hat auch eine Vielzahl anderer Wesen zu bieten. Mein persönlicher Liebling war die kleine Feuerfee, die man wirklich, wirklich nicht ärgern sollte. Zuckersüß in einem Moment, flammendes Inferno im nächsten.

Auch, wenn ich manchmal das Gefühl hatte, gleich raucht mir der Kopf, fand ich das Buch doch immer spannend, und es gibt jede Menge Action! Die Kampfszenen fand ich sehr gut geschrieben. Auch blutig und sogar richtig eklig wird es ab und an, da war ich manchmal ganz froh, dass ich das Ganze nicht als Film sehe... Aber ich fand es nicht zu übertrieben, und wem es zu eklig wird, kann diese Szenen notfalls auch ganz gut überfliegen.

Der Schreibstil ist sehr ausdrucksstark, mit lebendigen Bildern voller Atmosphäre. Viele Szenen sind dramatisch und intensiv, was aber immer wieder von einem großartigen Rollenspieler-Humor durchbrochen wird, der mich oft zum Schmunzeln oder sogar zum Lachen gebracht hat.

Es gibt mehr als eine augenzwinkernde Hommage an Rollen- oder Computerspiele - so manifestiert sich die Magie einer Rüstung zum Beispiel so:

Was für mich leider ein großes Manko war: das Buch strotzt ganz extrem vor Kommafehlern, und es gibt auch den ein oder anderen Tempusfehler, Wortwiederholungen und Sätze mit merkwürdiger Wortstellung. Mich reißt sowas immer aus dem Lesefluss, und hätte mir das Buch inhaltlich nicht so gut gefallen, hätte ich es wahrscheinlich sogar abgebrochen.

Aber auch inhaltlich hätten in meinen Augen manche Dinge noch etwas überarbeitet oder gestrafft werden können. So wird Zenza'ide eigentlich als überragende Kämpferin beschrieben, lässt sich aber von einem unbewaffneten Menschen fast widerstandslos zusammenschlagen, um wenig später (immer noch schwerverletzt!) eine ganze Gruppe Bewaffneter mit einem kleinen Ausweichmanöver und einem Schubs so einzuschüchtern, dass sie das Feld räumen.