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Benutzername: 
heinoko
Wohnort: 
Bad Krozingen

Bewertungen

Insgesamt 588 Bewertungen
Bewertung vom 07.06.2020
Die Dame in Gold / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.7
Trierweiler, Valérie

Die Dame in Gold / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.7


weniger gut

Seelenlos und uninspiriert

Als ich die Ankündigung las, hatte ich unendlich viele Bilder im Kopf: Die eindrücklichen Gemälde von Gustav Klimt, viel Gold, der besondere kreative Schwung des Jugendstils, das intensive kulturelle Leben des Wien um die Jahrhundertwende, in dem so geniale und die Zukunft bis in unsere heutige Zeit beeinflussende Intellektuelle und Künstler einander in Salons trafen und diskutierten, wie zum Beispiel Sigmund Freud, Gustav Mahler, Reiner Maria Rilke und viele weitere.

Fin de Siècle, das schillernde Wien um 1903. Im Salon des Ehepaar Bloch treffen sich allerlei interessante Menschen. Auch Gustav Klimt taucht dort auf und betört durch seine Unangepasstheit die Damenwelt. Adele Bloch, die Hausherrin des Salon, ist eine emanzipierte junge Frau, klug, aber voller Trauer um ihr totes Kind. Als sie Gustav Klimt Modell sitzt, entspinnen sich lebendige Diskussionen zwischen den beiden, die in eine hitzige und verbotene Liebe übergehen.

Was alles hätte man aus diesem Thema machen können! Wie intensiv und bilderreich, wie atmosphärisch dicht hätte man das blühende Wien um die Jahrhundertwende schildern können, wie klug und einfühlend hätte man die herausragenden Persönlichkeiten dieser Zeit darstellen können. Und wie unendlich langweilig ist dieses Buch geraten! Es liest sich wie ein eilig hingehauenes Manuskript, ein ungeliebtes Auftragswerk, dem jegliches Herzblut fehlt. Der seelenlos hingehackte Schreibstil spricht für sich. Die Fakten mögen teils gut recherchiert sein, aber der Autorin ist es leider nicht gelungen, einen inneren Film für Zeit und Geschehnisse zu entwickeln und uns in Worte verpackt zu vermitteln.

Bewertung vom 07.06.2020
Das kalte Echo / Ein Fall im Peak District Bd.1
Watkins, Roz

Das kalte Echo / Ein Fall im Peak District Bd.1


sehr gut

Überlieferter Geisterfluch begegnet nüchternen Ermittlungen

Zugegeben, es wird viel Tee getrunken in diesem Buch. Mit Zucker oder ohne, mit Milch oder ohne, immer aber mit Teebeutel. Und wenn gar nichts mehr hilft, gibt es Kaffee. Das ging mir zwischendrin schon mal auf die Nerven. Doch insgesamt gesehen hat mich das Buch durchweg gut unterhalten.

In einer Höhle mitten in einem unzugänglichen Gebiet von Peak District (es lohnt sich, diese Gegend zu googeln!) wird die Leiche eines Rechtsanwaltes aufgefunden. Gestorben durch Gift. Selbstmord liegt nahe. In der Felswand sind seine Initialen eingemeißelt, dazu ein Bild von einem Sensenmann. Allerdings schon mehr als hundert Jahre alt. DI Megan Dalton, gehandicapt mit einem Gehfehler und Höhenangst, ermittelt wegen Mord und fühlt sich gefangen in einem Spagat zwischen überliefertem Geisterfluch und rationalen Ermittlungen. Ihre ganz persönlichen Dämonen machen ihr die Arbeit auch nicht gerade leichter.

Mit viel Selbstironie lässt die Autorin Meg Dalton selbst von ihrer „Mission Neustart in Derbyshire“ und ihrem ersten Fall berichten. Durch die sehr anschaulichen, bildhaft vorstellbaren Beschreibungen fühlt man sich als Leser sehr schnell eingesponnen in das Umfeld von Meg. Immer ist es kalt. Oder es regnet. Oder es ist kalt und regnet. Der Kollege Craig ist ein Fiesling, wie er schlimmer nicht sein könnte. Megs Wohnung ist alles andere als ein Wohlfühlort. Und die Menschen, denen Meg begegnet, sind entweder seltsam oder lügen oder sind krank. Also irgendwie eine arg verfrorene Angelegenheit. Und doch hatte das Buch für mich seinen Reiz. Vielleicht weil sich im Verlauf der Seiten immer mehr und nachvollziehbar erklärte, weshalb Meg so ist wie sie ist. Oder weil, tröstlich für den Leser, der feinfühlige Kollege Jai immer zur rechten Zeit am rechten Ort ist. Vielleicht auch, weil ich immer wieder auflachen musste über witzige Wortscharmützel. Und mir gefielen die eingestreuten intelligenten Verknüpfungen („ein Gebäude wie ein Mondrian-Verschnitt“, „ein Hund, der über den Rand seines Körbchens floß wie Dalis Uhren“), oder auch, wie Sterbehilfe thematisiert wurde. Lange Zeit blieb ich wie Meg ziemlich orientierungslos in den Ermittlungsschritten und in den vielen nicht zueinander passenden Zeichen stecken. Doch das irrsinnig spannende, temporeiche Ende entschädigte mich schließlich voll und ganz für so manche unnütz getrunkene Tasse Tee…

Bewertung vom 04.06.2020
Tot, aber glücklich!
Kruse, Tatjana

Tot, aber glücklich!


ausgezeichnet

Genüssliche Meucheleien mit treffsicherem Wortwitz

Aus eigener leidvoller Erfahrung rate ich Ihnen dringend, Tatjana Kruses Bücher keinesfalls in Wartezimmern oder Zugabteilen zu lesen, jedenfalls nicht im Beisein fremder Leute. Außer es ist Ihnen egal, wenn man Sie sorgenvoll anschaut, wenn Sie aus dem Nichts heraus laut prustend auflachen oder vor sich hin giggeln, schmunzelnd den Kopf schütteln oder andere für die Umwelt sehr bedenklich wirkende Reaktionen zeigen. Denn der kriminellen humorigen Ideenvielfalt einer Tatjana Kruse kann man sich einfach nicht entziehen.

In den „kriminell komischen Storys“ wird gemordet auf Teufel komm raus, und zwar genau von den Menschen, die eigentlich viel zu nett, viel zu unscheinbar, viel zu normal sind, um Böses zu tun. Doch die Autorin entlarvt sie alle. Insbesondere Frauen gilt ihre besondere Aufmerksamkeit. Unfassbar, wie viele schräge Vögel sich in Tatjana Kruses Welt tummeln. Neben dem Ägypten-Fan Trödel-Traugott oder dem Geschäftsführer, der sich der Abfallbeseitigung von zweibeinigen faulen Äpfeln verschrieben hat, oder dem ausschließlich marmeladenbrotessenden Exzentriker aus Bebenhausen findet sich auch der Leiter der Abteilung Wasserstandsvorhersagen gemäß Seeaufgabengesetz § 1 Abs. 9, oder Doris, Mitglied im Freundeskreis der Marienbibliothek und nicht zuletzt Frau Möller, die kein Englisch kann und sich auf Bustour in englischer Sprache befindet, ebenso wie Marlis Möhrle, die mit einer großen Gobelintasche reist und an einer Ziege strickt.

Von Mini-Thriller bis Mini-Satire – Tatjana Kruse wühlt sich genüsslich mit treffsicherem Wortwitz durch alle Genres und haut uns zuletzt noch die unerwartete Pointe um die Ohren. Ich sehe sie direkt vor mir, wie sie da irgendwo sitzt und mit unbandigem Spaß an ihren wunderbaren, unerschöpflichen, abstrusen, schrägen und urkomischen Ideen strickt, während ich als ihre ergebene und geschulte Leserin ins Grübeln komme, ob ich der Nachbarin, die ihre 20 Paar Gummischlappen im Hausflur lüftet, nicht auch…

Bewertung vom 01.06.2020
DUNKEL / HULDA Trilogie Bd.1
Jonasson, Ragnar

DUNKEL / HULDA Trilogie Bd.1


sehr gut

Überraschende Wendungen, unfassbares Ende

Dass der vorliegende Thriller als einer der besten 100 Krimis und Thriller seit 1945 ausgezeichnet wurde, ließ meine Erwartungen auf ein Höchstmaß anwachsen mit nachfolgender, fast zwangsläufiger Enttäuschung. So absurd kann Werbung wirken: Ohne diese Vorschusslorbeeren und meine dadurch hochgeschraubten Hoffnungen hätte mir das Buch durchaus besser gefallen.

Hulda Hermannsdóttir ist altgediente, erfahrene Kommissarin bei der Polizei in Reykjavik. Ihre Arbeit ist ihr Leben. Von jetzt auf gleich wird ihr jedoch nahegelegt, in den Ruhestand zu gehen. Lediglich einen cold case ihrer Wahl könne sie noch für wenige Tage bearbeiten. Sie stürzt sich in die Ermittlungsarbeit eines Falles, der seinerzeit auffällig schlampig bearbeitet worden war.

Sehr lesefreundlich ist dieses Buch, was zum einen an den kurzen Kapiteln liegt, zum anderen aber auch an der großen Schrift und an der relativ einfachen, klaren Sprache. Mit anderen Worten, dieses Buch ist blitzschnell ausgelesen. Auch lässt die wendungsreiche Geschichte dem Leser keine Verschnaufpause. Um wessen Leben es in Rückblicken ging, verstand ich erst nach einer ganzen Weile, ebenso blieben mir die kursiven Einschübe lange unklar. Das entsetzliche Ende der Geschichte lässt den Leser fassungslos zurück.
Zunehmend mehr erfährt man im Verlauf des Buches über Hulda Hermannsdóttir selbst, über ihre Vorgeschichte, über all das, was sie so hart gegen sich selbst werden ließ. Ihre Einsamkeit ist auf jeder Buchseite deutlich spürbar. Irgendwann wurden mir die langen, sich ständig wiederholenden Selbstreflexionen allerdings zuviel. Und ich hätte mir lebendigere Darstellung der handelnden Personen gewünscht, sie blieben für mich plakative Karikaturen ihrer selbst.
Fazit: Ein blitzschnell zu lesender, wendungsreicher Thriller mit einigen Schwächen, jedoch einem den Atem raubenden, überraschenden Ende.

Bewertung vom 31.05.2020
Der Turm aus Licht
Fritz, Astrid

Der Turm aus Licht


ausgezeichnet

Dieser grandiose Roman ist eine Meisterleistung

Eine Meisterleistung war nicht nur die 60 Jahre währende Errichtung des „schönsten Turms auf Erden“ des Freiburger Münsters. Sondern eine Meisterleistung ist auch Astrid Fritz mit diesem groß angelegten historischen Roman gelungen. Einfach grandios! Am Sonntag nach Pfingsten im Jahr 1330 wird das Freiburger Münster vollendet. An Pfingsten im Jahr 2020 lese ich die letzten Seiten des über 800 Seiten starken Romans und bin berührt und begeistert gleichermaßen.

Wir verfolgen über die Jahre von 1270 bis 1330 die überaus wechselvolle Geschichte der Fertigstellung des Freiburger Münsters, insbesondere die bauliche Umsetzung des Entwurfs eines hohen, lichtdurchfluteten, dennoch fragil-leicht wirkenden Turmes, des „schönsten Turmes auf Erden“. Dieser Bau gilt heute als eines der Meisterwerke der Gotik. Wir erleben rund um die Bauhütte Liebe, Macht, Ränke, Dummheit, Intrigen, Verrat, Gewalt, Krankheit, Tod, aber auch Zuversicht, meisterliche Handwerkskunst und den unbedingten Willen, das Münster „UnserliebenFrauen“ zu einem die Jahrhunderte überdauernden Wahrzeichen des Glaubens in Freiburg zu gestalten.

Astrid Fritz ist es auf meisterhafte Weise gelungen, die Geschichte dieses Kirchenbaus mit Leben und mit Gefühlen zu füllen. Aufgrund des zwei Generationen langen geschilderten Zeitraumes ziehen viele Menschen am Leser vorüber, die in der einen oder anderen Weise eine besondere Rolle spielten. Und jedem einzelnen dieser Menschen verleiht Astrid Fritz Ausdruck seiner ganz individuellen Persönlichkeit, weit, weit weg von klischeehaften „Mittelalter-Spielen“. Der Spagat zwischen fiktiv-romanhafter, lebendiger und spannender Erzählung einerseits und akribisch-fachkundiger Recherche und Wiedergabe historisch Überliefertem ist der Autorin grandios gelungen. Denn die 800 Seiten lesen sich leicht, das Buch ist unterhaltsam, fesselnd, atmosphärisch dicht, und Wissenswertes wird fast nebenbei kurzweilig in die Handlung verwoben. Überhaupt ist es eine bewundernswerte Leistung der Autorin, wie sie detailgenaue Beschreibungen einzelner Bauschritte in der zu jener Zeit gebräuchlichen Techniken auch für den Laien nachvollziehbar wiedergibt. Die sehr schöne, sorgfältige, der Zeit angepasste Sprache, in der der Roman geschrieben ist, ist ein zusätzlicher Genuss. Sehr hilfreich für den Leser sind ein mehrere Seiten umfassendes Personenverzeichnis zu Beginn und ein ebenso umfangreiches Glossar am Schluss des Buches. Rundum ein grandioser historischer Roman!

Bewertung vom 25.05.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


ausgezeichnet

Ein Roman wie eine Matroschka

Die außerordentliche Musikalität des Hubert von Goisern ist mir genau vor einem Vierteljahrhundert aufgefallen. Kein Wunder, dass ich in seinem Romandebüt nun alles wiederfinde, was schon damals meine „Heiligtümer“ waren. Die Koloraturkunst von Edita Gruberova zum Beispiel, Dvoraks Sinfonie Aus der neuen Welt oder André Heller, dessen Liederlyrik ich so sehr liebte. So vieles und noch viel mehr steckt in diesem Roman, jenseits der eigentlichen Handlung.

Maria und Herwig sind fast dreißig Jahre verheiratet. Sie haben sich in jeweils ihrem eigenen Leben arrangiert, ohne spürbares Interesse aneinander. Als Maria jedoch von einem Tag auf den anderen ohne jegliche Erklärung verschwindet und unauffindbar bleibt, kommt Bewegung in Herwig. Es beginnt eine Reise quer durch Europa bis nach Griechenland, hin zu flüchtigen Begegnungen mit Menschen, mit flüchtigen Gedanken über sich selbst und das Leben und flüchtigen Gefühlen der Sehnsucht und Erfüllung.

Dieser Roman ist reich und vielschichtig wie eine Matroschka. Manchmal verliert sich der Autor regelrecht im Erzählen von Geschichten, die weitere Geschichten enthalten, im Berichten von vergangenen Leben von vergangenen Menschen. Manchmal treibt der Erzähler mit seinen Geschichten so weit ab vom chronologischen roten Faden, als wäre Maria schon längst verloren gegangen. Und wenige Seiten später landet der Autor wieder im zeitgerechten Erzählstrang, und Marie übernimmt wieder weiter ihre Rolle, nüchtern, kühl, wissbegierig, mit tief versteckten Sehnsüchten. Man muss sich als Leser genauso treiben lassen wie der Autor, dann entwickelt das Buch seinen ganz besonderen Reiz. Wurde schon einmal so differenziert die Inbetriebnahme eines Plattenspielers beschrieben und das geradezu zeremonielle Hören einer Vinylplatte mit seinem mystischen Zauber des Klanges? Wurde schon einmal so atmosphärisch dicht, so sehnsuchtsvoll in seiner lichtdurchfluteten Einfachheit das ursprüngliche touristenferne Griechenland beschrieben? Und wo findet man eine Heiligengeschichte genauso neben politischen Stellungnahmen und spitzen Randbemerkungen? Ein kluges, ein vielschichtig durchkomponiertes, ein poetisches Buch. Ein Buch zum Wiederlesen.

Bewertung vom 23.05.2020
Sühne / Lene Jensen & Michael Sander Bd.5
Jacobsen, Steffen

Sühne / Lene Jensen & Michael Sander Bd.5


ausgezeichnet

Klug in Szene gesetzter Thriller

Eine Zufallsentdeckung war für mich diese Neuerscheinung. Der Autor war mir bislang unbekannt gewesen, ich war überrascht, wie viele Titel der ziemlich finster dreinblickende Autor, von Beruf Chirurg, bereits geschrieben hatte. Vielleicht ist das vorliegende Buch nicht unbedingt ein reißerischer Thriller. Er hat auch viele ruhige Elemente, fast wie in einem Krimi, aber dennoch niemals langweilig, immer durchsetzt von unterschwelliger Spannung, die sich zum Ende hin noch erheblich steigert. Wohltuend übrigens die sehr augen- und lesefreundliche Schriftgröße!

Frank Linden, Besitzer eines Pharmaunternehmens, ist todkrank. Er möchte vor seinem Tod noch hochbrisante Informationen veröffentlichen und heuert dazu einen Journalisten an. Doch als Linden dem Journalisten das Material übergeben will, werden beide hinterrücks erschossen. Michael Sander, Freund des Journalisten, gelangt in den Besitz des Geheimmaterials und beginnt auf eigene Faust nachzuforschen. Seine Frau, Kommissarin Lene Jensen, soll ganz offiziell die Morde an Linden und dem Journalisten aufklären und stößt dabei im Umfeld des Pharmaunternehmens auf Ungeheuerliches im Bereich der Insulin-Mafia. Doch nicht nur sie, auch Michael Sander gerät in tödliche Gefahr.

Steffen Jacobsen schreibt mit wohltuend viel Fachwissen. Das spürt man in allen Sequenzen, in denen es um Details zur Entwicklung von wirksamen Medikamenten geht. Und er schreibt mit großem politischem Engagement, was speziell in den tagebuchartigen Einträgen von Thomas Schmitz aus Äthiopien sehr eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Und Steffen Jacobsen erzählt gekonnt kurzweilig, temporeich die spannende Handlung vorantreibend. Aus verschiedenen Blickwinkeln, aus verschiedenen Puzzleteilen setzen sich mehr und mehr die erschreckenden Machenschaften der Pharma-Industrie zusammen. Mich hat der virtuose Schreibstil des Autors fasziniert, wie er zum Beispiel die malerische Schilderung eines Ambientes vornimmt, schön, geschmackvoll, um dann völlig unerwartet in dieses wohltuende Bild weitere Bilder hineinzuschmuggeln, grausame Bilder, verstörende… Zwar konnte ich nicht jedes Verhalten der Protagonisten nachvollziehen, insbesondere nicht das viele Schweigen, das viele Unausgesprochene in der Beziehung zwischen Lene und Michael, aber dennoch hatte ich insgesamt viel Sympathie für die beiden und bangte entsprechend voller Spannung um ihr Überleben. Mir gefiel besonders, dass viel Raum eingeräumt wird den psychologisch vielschichtigen Interaktionen der Menschen untereinander, belauernd, anziehend, misstrauisch, hasserfüllt, hingerissen, kämpferisch und nur selten wahrhaftig, echt. Ein Autor mit viel Feingefühl, wie mir scheint. Eine echte Entdeckung auf jeden Fall.

Bewertung vom 22.05.2020
City of Girls
Gilbert, Elizabeth

City of Girls


gut

Zu viele geschwätzige Oberflächlichkeiten

Vermutlich gefällt Vielen dieses Buch. Vermutlich bin ich schlichtweg zu alt, um an diesem Buch Gefallen zu finden. Je länger ich las, desto mehr ging mir das Buch auf die Nerven. Worum geht es?

New York, Vierziger Jahre. Der Krieg grollt nur ganz in der Ferne. Vivian, 19, wird von ihrer begüterten Familie aus der Provinz zu ihrer exzentrischen Tante Peg nach New York geschickt. Diese leitet ein heruntergekommenes Theater, und Vivian lernt ein völlig anderes Leben kennen im täglichen Umgang mit den Revuegirls. In Bars herumhängen, Alkohol im Übermaß, zwischendrin mal eine Entjungferung, Musicals, Gangster und Sex, wann immer es sich bietet. Bis ein verhängnisvoller Fehler Vivians Welt auf den Kopf stellt. Halt findet Vivian schließlich an ihrer Freundin Marjorie, mit der zusammen sie ein feines Schneideratelier eröffnet und Brautkleider näht. Abends geht es weiter mit Spaß und Partys.

Vivian berichtet als alte Frau in Ich-Form rückblickend aus ihrer Lebensgeschichte, und zwar einem jüngeren Gegenüber, dessen Identität erst zum Schluss offenbart wird . Insofern ist die Geschichte geschickt eingebettet zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sie ist auch durchaus spritzig und humorvoll erzählt, keine Frage, mit oftmals bildhaften Beschreibungen, zum Beispiel wenn vornehme Damen geschildert werden mit „Profilen wie italienische Windspiele“. Aber sonst? Oberflächlichkeiten und Nichtigkeiten in Hülle und Fülle, Glamour und Chaos, Sucht nach Vergnügen, nirgendwo ein Funken von Ernsthaftigkeit, dazu eine extrem naive Protagonistin, und dies alles in einer unendlich geschwätzigen Erzählweise breit getreten. Mir ist einfach nicht klar geworden, warum dieses Buch ein „gefeierter Bestseller“ sein soll. Tut mir leid.

Bewertung vom 15.05.2020
Sommer ist trotzdem
Dekko, Espen

Sommer ist trotzdem


ausgezeichnet

Opa-Umarmung hilft gegen Zitterpelz

Innerlichen und äußerlichen Zitterpelz (Gänsehaut) macht dieses Buch dem Leser, so tief bewegend ist es, so ergreifend, so traurig, aber auch so liebevoll, so tröstlich. Ein ernstes Kinderbuch, wie ich es in dieser Intensität noch nie gelesen habe, eine Erzählung, die Herzschmerzen macht und sie auch wieder heilt. Lange, lange nachwirkend.

Das Mädchen ohne Namen verbringt wie jedes Jahr Sommerwochen bei Oma und Opa im Haus am Meer. Eigentlich wie immer und doch ganz anders. Denn es ist der erste Sommer ohne Papa, der gestorben ist. Das Mädchen erlebt diese Sommerwochen zwischen Ferienfreude in vertrauter Geborgenheit und nicht fassbaren Gedanken und in sich gekehrtem Schweigen. Viel Trauriges geschieht. Und sie begegnet ihrer eigenen unglaublichen Stärke.

Unfassbar gut geschrieben ist die Geschichte. Die kurzen, vordergründig einfachen Sätze, im Präsens geschrieben aus Sicht des Mädchens, wirken auf seltsame Weise so eindrücklich, dass man sich ihnen nicht entziehen kann. Manchmal ist der Sprachduktus so schlicht, dass man glaubt, das Mädchen sei jünger als 11. Doch das ist eines der wichtigsten Geheimnisse dieses Buches bzw. des Autors: In einfachen Worten, mit viel Feingefühl fühlen, denken, beobachten, spüren. Ein weiteres Geheimnis ist die Fülle an bildhaften Sätzen, die umschreiben, was das Mädchen nicht ausdrücken kann. „Jemand hat den Himmel aufgeräumt.“ Der Autor hat es meisterhaft verstanden, sich in die Welt des 10-jährigen Mädchens hineinzudenken und aus dieser Perspektive heraus zu erzählen. Großartig zum Beispiel die Schilderung aus Kindersicht, wie Kinder die nonverbalen Botschaften der Erwachsenen wahrnehmen. Sehr, sehr bewegend ist zu lesen, wie das Kind Sterben und Tod des Vaters erlebt und was wortlose Opa-Umarmungen auslösen. Ein ergreifendes und tröstliches, ein sensibles Kinderbuch mit viel leiser Weisheit. „Niemand muss die ganze Zeit stark sein. Manchmal müssen wir einfach so sein wie wir sind.“ Ganz, ganz wunderbar!