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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 03.03.2018
Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie
Joyce, Rachel

Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie


ausgezeichnet

Es war einmal ein Plattenladen. So beginnt die märchenhafte Geschichte um „Mister Franks fabelhaftes Talent für Harmonie“ der britischen Schriftstellerin Rachel Joyce (56), die im Dezember beim Verlag Fischer Krüger erschien. Wie schon in ihrem Erstlingswerk „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ ist auch dieses Buch wieder eine Liebeserklärung an Außenseiter, die inmitten einer oft gnadenlosen Gesellschaft trotz eigener Schwächen ihr Leben zu meistern versuchen. Vor allem aber ist dieser Roman eine Liebeserklärung an die Musik in all ihrer Stimmungsvielfalt. Wir lernen Frank kennen, den jungen Inhaber eines kleinen Schallplattenladens in einer verkommenen Sackgasse einer vergessenen Ecke der Großstadt, der sich dem Zeitenwandel widersetzt, moderne CDs und Kassetten verachtet. Auch die Bewohner ringsum und die benachbarten Ladenbesitzer hadern mit dem Mainstream der Moderne. Da ist die schroffe Maud mit ihrem Tattoo-Studio, Pater Anthony mit seinem Devotionalienhandel und die Williams-Zwillinge vom Bestattungsinstitut. Sie bilden die kleine Gemeinschaft der Unity Street. Ihnen und vielen anderen hat Frank mit seiner besonderen Gabe schon helfen können: Er hört in seinen Kunden, welche Musik sie brauchen, um glücklich zu sein. So hilft er „dem Mann, der nur Chopin mochte“ mit dem Gesang Aretha Franklins. Frank sortiert seine Platten nicht alphabetisch, sondern nach Stimmungen. Er macht keinen Unterschied zwischen Klassik und Jazz, Pop und Punk: Gut ist, was gut tut. Doch die Harmonie in der Gemeinschaft der Unity Street wird durch Dissonanzen getrübt: Nicht nur, dass geldgierige Immobilienhaie Haus für Haus aufkaufen und sich die Bewohner der systematischen Zerstörung nicht erwehren können. Eines Tages steht eine Fremde vor Franks Schaufenster, Ilse Brauchmüller, eine junge Deutsche im grünen Mantel, mit grüner Handtasche und grünen Handschuhen. Frank verliebt sich unsterblich, ist aber völlig hilflos: Er kann nicht hören, welche Musik in ihr klingt. Joyce' neuer Roman liest sich wie Musik: Nach ruhigem Anfang, in dem uns die Figuren mit ihren eigenwilligen Macken vorgestellt werden, wird es im zweiten Satz schneller und lauter, die Immobilienhaie treten auf, erste Ladenbesitzer schließen, Ilse Brauchmann bringt die bisherige Harmonie durcheinander, Maud reagiert eifersüchtig. Dieser zweite Satz endet mit turbulentem, verstörendem Finale. Nach 20 Jahren beginnt der dritte Satz, langsam, um schließlich in Händels vielstimmigem Halleluja harmonisch zu enden. „Das Leben ist scheiße, aber es passt in eine Sonate!", hatte schon Franks Mutter gewusst. Rachel Joyce lässt uns in ihrer sehr liebevoll erzählten Geschichte an Franks wechselvollem Leben teilhaben. Ja, manchmal gleicht der Roman wirklich einem Märchen. Aber er tut wohl - wie gute Musik.

Bewertung vom 26.02.2018
Ein zufälliger Tod / Commissario Ricciardi Bd.4
De Giovanni, Maurizio

Ein zufälliger Tod / Commissario Ricciardi Bd.4


sehr gut

Als „historische Kriminalromane der besonderen Art“ darf man wohl Mauricio de Giovannis Reihe um seinen einsamen Commissario Ricciardi im Neapel der 1930er Jahre zur Zeit des italienischen Faschismus bezeichnen. Seit bald zehn Jahren wird sie in chronologisch unregelmäßiger Folge in deutscher Erstausgabe veröffentlicht. Im Dezember erschien nun beim Goldmann-Verlag mit „Ein zufälliger Tod“ der vierte Fall, der bereits vor acht Jahren unter dem Titel „Il giorno dei morti“ in Italien ein Bestseller war. Mauricio de Giovanni (60) gilt aktuell als einer der erfolgreichsten Kriminalautoren seines Landes, dessen Bücher mehrfach ausgezeichnet wurden und in zahlreiche Sprachen übersetzt werden. Ricciardis vierter Fall, „Ein zufälliger Tod“, spielt im regnerischen Oktober 1931. Der Waisenjunge Matteo ist durch Rattengift gestorben. Alles sieht nach einem unglücklichen Unfall aus, da der ausgehungerte Straßenjunge den vergifteten Köder wohl irrtümlich gegessen haben. Die Polizeibehörde ist an der Verfolgung dieses scheinbar geklärten Falles nicht interessiert, zumal der Besuch Mussolinis in Neapel ansteht und die Stadt einen ordentlichen, verbrechensfreien Eindruck machen soll. Doch Commissario Ricciardi, der die Gabe des „zweiten Gesichts“ hat, vermutet mehr hinter dem Tod des Straßenjungen. Er nimmt sich ein paar Tage Urlaub und ermittelt auf eigene Verantwortung, unterstützt von seinem treuen Brigadiere Maione. Natürlich ist dieser Roman vordergründig ein historischer Krimi, doch steckt weit mehr dahinter. Er schildert die Zeit des politischen Umbruchs in Italien, die beginnende politische Unsicherheit in der Bevölkerung, seine Meinung nicht mehr offen äußern zu dürfen. Wir erleben den Beginn des diktatorischen Überwachungsstaates und die unsichtbare Herrschaft des allmächtigen und allgegenwärtigen Geheimdienstes. Das Kernthema dieses Romans ist aber die facettenreiche Schilderung der verschiedenen Arten und Ausformungen von Liebe, die der Autor am Beispiel seiner Figuren eindrücklich beschreibt. Da gibt es die zärtlich-romantische Liebe, die mütterliche Liebe, die Selbstverliebtheit, die enttäuschte Liebe und die zerstörerische Liebe. Es gibt aber auch die vorgetäuschte Liebe, die Liebe zum Geld und zur Macht. Und es gibt die Verkehrung der Liebe – den Hass. Wer in Giovannis Roman „Ein zufälliger Tod“ nur einen knallharten Krimi erwartet, wird enttäuscht werden. Denn in so manchem Kapitel geht es überhaupt nicht um den Mordfall, sondern wir erfahren viel über den Charakter, das Denken, Fühlen und Leben der handelnden Figuren. Commissario Ricciardis Ermittlungen bilden vielmehr eine Art roter Faden. Wer sich als Leser dessen bewusst ist, wird an Mauricio de Giovannis Roman vor allem seine Poesie schätzen (Dank an Übersetzerin Judith Schwaab!). In diesem Wissen spielt dann auch die allzu überraschende Aufklärung des Kriminalfalles eine eher untergeordnete Rolle.

Bewertung vom 20.02.2018
Die Frau von gegenüber
Schenk, Herrad

Die Frau von gegenüber


sehr gut

Ein Roman voller Lebenserfahrung ist Herrad Schenks (70) aktueller Roman „Die Frau von gegenüber“, der im November als Taschenbuch im Insel-Verlag erschien. Mit großer Einfühlungsgabe und Intensität analysiert die Sozialwissenschaftlerin und Sachbuchautorin in durchaus lockerem, deshalb leicht lesbarem Stil die Beziehungen und Abhängigkeiten ihrer Protagonisten innerhalb der Familien und Freundeskreise. Da gibt es einerseits Rüdiger Wolters, der seit dem Tod seiner Frau und seiner Emeritierung ohne Aufgabe und Verantwortung mit seinem Leben nichts mehr anzufangen weiß. Auch der Kontakt zu seinem Sohn und dessen Familie gestaltet sich schwierig und wird immer schwächer. Einsam in seiner Etagenwohnung beobachtet er nun das Leben unter sich auf der Straße und in den Wohnungen im Haus gegenüber. Dort lebt Rentnerin Irene Voigt, der es erst nach dem Tod ihres Mannes wieder gelungen ist, ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben zu führen. Nicht dass sie sich als vom Ehemann umsorgte Ehefrau unglücklich gefühlt hätte, nur hatte sie sich zeitlebens untergeordnet. Erst jetzt im Alter entdeckt sie ihr eigenes Ich wieder neu, hat sich einen neuen Kreis von Freundinnen aufgebaut und beginnt, ihre Freiheit zu genießen - wenn nur nicht die erwachsenen Kinder sie mit ihren Eheproblemen belasten würden. Doch nicht Irene Voigt ist die im Titel gemeinte „Frau von gegenüber“, wie man anfangs meinen könnte, sondern erst später die etwa 40-jährige, unverheiratete Frau mit Sohn und Baby, die in die Wohnung unter Irene Voigt einzieht und das Leben der beiden Alten unerwartet verändert. Das Interessante an diesem Roman ist die nur auf zwei Wohnungen begrenzte Handlung, die man sich auch als Kammerspiel auf einer Theaterbühne vorstellen kann. Dennoch gelingt es Herrad Schenk eine Dramatik und Spannung zu erzeugen, die sich – gleich der im Buch beschriebenen Wetterlage – nach einem viel zu heißen und lähmenden Sommer endlich in einem ungewöhnlich starken und klärenden Gewitter entlädt. Der mit nur 235 Seiten recht kurze Roman gibt einen treffenden Einblick in das Generationen trennende, aber auch generationenübergreifende Leben unserer Gesellschaft, in die unterschiedlichen Lebensanschauungen und -auffassungen dreier Generationen, erwachsen aus eigenem Charakter, aus Erziehung, gesellschaftlichen Zwängen und Lebensumständen. „Die Frau von gegenüber“ ist ungemein lebensnah geschrieben, so dass man nicht nur vermuten darf, dass die 70-jährige Autorin Selbsterlebtes im Roman verarbeitet hat, sondern dass sich auch der eine oder andere Leser gelegentlich ertappt fühlen dürfte.

Bewertung vom 14.02.2018
Hologrammatica
Hillenbrand, Tom

Hologrammatica


ausgezeichnet

Viele Leser kennen den Schriftsteller Tom Hillenbrand (46) vielleicht nur durch seine humorvollen Krimis um den Luxemburger Koch Xavier Kieffer, der außerhalb seines Sterne-Restaurants Verbrecher jagt und mysteriöse Rätsel löst. In eine völlig andere Welt entführt uns Hillenbrand mit seinen Wissenschaftskrimis um die Allmacht künstlicher Intelligenz. Nach „Drohnenland“ (2014) erschien im Februar sein zweiter SciFi-Krimi „Hologrammatica“, der den Leser wirklich bis zur letzten Seite zu packen versteht. Nicht etwa in weit entfernter Zukunft in unbekannter Galaxie, sondern in erschreckend nächster Zukunft spielt „Hologrammatica“ mitten in Europa. Es ist das Jahr 2088, statt der EU gibt es EURUS mit der Hauptstadt Sankt Petersburg, ein Umschlagplatz für die Siedlertrecks nach Sibirien. Denn die Erderwärmung ist weit fortgeschritten, das Eis an den Polen geschmolzen, Miami und andere Küstenstädte sowie Inseln wie die Malediven sind unter Wasser. Die Erdbevölkerung ist durch eine Pandemie halbiert, der Alltag nur mehr Schein als Sein, denn die Menschen leben in einer durch Holonets vorgetäuschten Welt, in der das wahre, schmutzige Bild von Straßen und Häusern durch Hologramme verschönt wird. Menschliche Gehirne können gescannt und in fremden Körpern hochgeladen werden, so dass man in der Öffentlichkeit in seinem Wunschkörper auftreten kann. Alles scheint in dieser hochtechnisierten Welt möglich. Nur die Suche nach der Unsterblichkeit des Menschen blieb bisher ohne Ergebnis. Kann künstliche Intelligenz dieses Problem der Menschheit lösen? Wollen wir Menschen aber dafür die Kontrolle an uns überlegene elektronische Superhirne abgeben. Im Roman begleiten wir den aus Bengalen stammenden Londoner Galahad Singh, als Quästor eine Art Privatdetektiv, auf der Suche nach der vermissten Computerexpertin Juliette Perotte. Trotz aller Spannung und beängstigenden Visionen bleibt Hillenbrand auch in diesem Roman dem aus seinen kulinarischen Krimis bekannten Sinn für Humor treu. In dieser hochcomputerisierten Scheinwelt präsentiert er uns ausgerechnet den so unvollkommenen Protagonisten, der statt eines digitalen Hirns noch immer seine menschlichen grauen Zellen nutzt. Überhaupt ist in dieser scheinbar so perfekten Welt, in der man mit Überschallgeschwindigkeit fliegt und mit einem Spacelift zu einem Asteroiden-Gürtel übersetzen kann, nicht alles perfekt: Der Automatenkaffee im Büro schmeckt immer noch miserabel. „Hologrammatica“ ist kein typischer Sci-Fi-Roman, sondern eher ein spannender Krimi, der in allzu naher Zukunft spielt, weshalb er auch von SciFi-Verweigerern gelesen werden darf. Aber irgendwie verunsichert der Roman doch, irgendwie fühlt man sich an George Orwells „1984“ erinnert, der ja auch 1948 in seinem Klassiker eine allzu nahe Zukunft beschrieb: Könnte nicht doch vieles bald Wirklichkeit sein – und die eigenen Enkel könnten es noch erleben? Gerade diese zeitliche Nähe ist faszinierend. Es mag ja sein, dass nicht alle Phantasien des Autors wahr werden, manche auch zugunsten der Spannungskurve überzeichnet sein mögen. Aber die eine oder andere Idee könnte doch vielleicht wirklich ….

Bewertung vom 10.02.2018
Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind
Jonasson, Jonas

Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind


sehr gut

Herrlich skurril und komisch ist auch der dritte Roman „Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind“ (2016) des schwedischen Bestseller-Autors Jonas Jonasson (56), der im September 2017 beim Penguin-Verlag als Taschenbuchausgabe erschien. Nach dem unvergleichlichen Erfolg seines auch verfilmten Erstlingswerks „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ (2011) und dessen Folgeband „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ (2013) ist dies nun Jonassons dritter Roman in ähnlicher Erzählweise. Und wie bei allen Serien besteht auch hier die Gefahr der Routine und Gleichförmigkeit und beim Leser die Gefahr der Langeweile. Doch dem Schweden ist es tatsächlich noch einmal gelungen, auch mit diesem dritten Buch wieder zu begeistern. Vielleicht war auch der große zeitliche Abstand zu den Vorbänden ein Vorteil. Allein schon die Handlung und Jonassons anfangs dumm erscheinende, dann doch gewitzte Protagonisten lassen schmunzeln, sofern man nicht alles allzu ernst und wörtlich nimmt. Natürlich ist es im wörtlichen Sinne überhaupt nicht komisch, wenn Johanna, die gottlose und ständig fluchende Pfarrerin, und Per, der mit Gott und der Welt unzufriedene Rezeptionist eines zu einer Billigpension umgewandelten Billigbordells, gemeinsam mit dem brutalen Mörder Anders eine Knochenbrecher GmbH gründen, um mit Auftragsmorden reich zu werden. Doch Jonassons Figuren sind derart skurril und überzeichnet, andererseits so liebevoll beschrieben, dass man ihnen nicht wirklich böse sein kann. Im Gegenteil: Gerade im zweiten Teil des Romans, wenn alle drei, nachdem Mörder Anders zum Entsetzen seiner Geschäftspartner aus purem Zufall ein gottesfürchtiger Mann geworden ist, blitzschnell aus ihrer geschäftlichen Not eine „Tugend“ machen und ihre eigene Kirchengemeinde gründen, wird aus humiriger Fiktion fast traurige Realität, der Witz des Autors wandelt sich in Sarkasmus: Kennen wir doch alle jene Sekten unserer Welt, die tatsächlich nichts anderes im Schilde führen, als ihren Anhängern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wie wollen wir es da dem vom Schicksal benachteiligten Pärchen Johanna und Per verübeln, dasselbe zu versuchen, um auch ein kleines Stück vom Glückskuchen abzubekommen? Man gönnt ihnen fast den Erfolg, wenn ihre Mitmenschen doch so dumm sind. Vordergründig mit Witz, aber hintergründig voller Sarkasmus verspottet der schwedische Autor so manche Fehlentwicklung unserer Gesellschaft, kritisiert unseren überzogenen Bürokratismus und überzeichnet menschliche Eigenarten, die uns so vertraut sind, bis ins Lächerliche. Andererseits erscheinen Jonassons Figuren aber doch so liebenswert, dass man weder dem Autor noch seinen Charakteren böse sein kann - selbst wenn sie morden. „Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind“ ist trotz des absurd langen Buchtitels ein überaus kurzweiliger Roman, der seinen Leser oft zum Schmunzeln bringen kann - vorausgesetzt, der Leser hat Sinn für Nonsens oder zumindest ein Fünkchen Humor.

Bewertung vom 05.02.2018
Hotel Laguna
Gorkow, Alexander

Hotel Laguna


ausgezeichnet

Ein sehr kluges, oft sentimentales, meist aber heiteres Buch sind die im August 2017 beim Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlichten Erinnerungen des mit Preisen ausgezeichneten Journalisten Alexander Gorkow (51) an das „Hotel Laguna“ auf Mallorca. „Meine Familie am Strand“, wie der Untertitel lautet, ist eine überaus unterhaltsame, zum Lachen animierende, stellenweise doch auch nachdenklich stimmende Mischung aus Familiensaga, Autobiographie, Reisebericht und Liebesroman – eine Liebeserklärung an die liebste Ferieninsel der Deutschen, insbesondere an die Bucht des Dorfes Canyamell und das 1963 direkt am Strand gebaute Hotel Laguna. Nicht chronologisch, sondern dem jeweiligen Thema angepasst, springt der Autor zwischen Kindheitserlebnissen und Gegenwart hin und her. 1967 stand der damals Einjährige zum ersten Mal mit Eltern und Schwester an dieser Bucht mit türkisblauen Wasser – nein, er stand nicht, sondern saß auf dem Arm seines Vaters. Damals konnte sich die Familie das neue Strandhotel nicht leisten und wohnte in der benachbarten Pension. Bis zu Gorkows 14. Lebensjahr verbrachte die Familie dort alljährlich ihre Urlaubswochen. Nach Jahrzehnten der Abwesenheit kehrt nun der einst kleine Alexander, inzwischen selbst Vater einer siebenjährigen Tochter, nach Canyamel auf die „Insel der überfahrenen Kaninchen“ zurück und wohnt endlich in seinem Traumhotel Laguna. Täglich paddelt er „mit dem Kajak weit heraus aus der Kindheitsbuch – und wieder zurück.“ Und so wechseln sich in Gorkows Buch gegenwärtige Beobachtungen mit Versatzstücken der Erinnerung ab - manchmal ironisch, manchmal sarkastisch, manchmal voller Liebe kommentiert. Wir lernen Gorkows Eltern in den 1960ern kennen, ein vom Krieg gebeuteltes Ehepaar, das sich in den Jahren des Leids und der Entbehrungen nicht hat unterkriegen lassen und jetzt die Urlaubswochen genießt. Wir erfahren die Unterschiede, wie man vor 50 Jahren Ferien machte, als man noch im Flugzeug rauchen durfte, und wie es heute mit Sichtung von Bewertungsportalen und Jagd nach Schnäppchen sowie der Suche nach Erlebnissen am Urlaubsort mehrheitlich üblich zu sein. War der Urlaub früher schöner? Es war eine andere Zeit: „Die alte Telefonzelle neben dem Laguna ist jetzt eine Telefonhaube. Sie war sinnvoll, jetzt ist sie sinnlos. Die Drachenhöhlen in Porto Christo waren eine halb rustikale, halb wirre Attraktion. Heute sind die Drachenhöhlen eine auf der ganzen Insel beworbene Fun-Explosion, nur sind es halt immer noch Höhlen.“ Damals war man noch Gast bei Gastgebern, es „machten „Menschen auf Mallorca Urlaub, keine Zielgruppen“. Gerade die aus der Sicht des Erwachsenen geschilderten Kindheitserlebnisse lassen beim Lesen schmunzeln, erinnert doch der Vater irgendwie an Loriots „Papa ante portas“. Jahrzehnte sind vergangen, der Vater inzwischen gestorben. Jetzt steht der erwachsene Sohn an seiner Stelle: „Ich habe mich im Meer in die Spur meines Vaters gelegt, und diesen Weg bin ich nun allein geschwommen.“ Alexander Gorkows „Hotel Laguna“ ist ein Buch der Erinnerung und des Vergleichens, ein Buch für zwei Generationen – nicht nur, aber besonders für Mallorca-Fans. Und so manches Mal wird man an die eigenen Ferien mit den Eltern erinnert - oder als inzwischen Erwachsener an die Urlaube mit eigenen Kindern.

Bewertung vom 28.01.2018
Streifzüge durch Deutschland
Shelley, Mary Wollstonecraft

Streifzüge durch Deutschland


ausgezeichnet

Kaum jemand kann sich heute vorstellen, wie beschwerlich und oft unbequem eine Urlaubsreise quer durch Europa vor 175 Jahren war. Genau dies beschreibt in allen Einzelheiten die britische Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) in ihren 1844 in England veröffentlichten Reisebriefen, die jetzt erstmals auf Deutsch zeitgleich in zwei Buchausgaben nachzulesen sind – in der zweibändigen Gesamtausgabe „Streifzüge durch Deutschland und Italien: In den Jahren 1840, 1842 und 1843“ des Corso-Verlags und in dieser hier besprochenen einbändigen Kurzfassung „Streifzüge durch Deutschland“ mit Shelleys nur Deutschland betreffenden Briefen, übersetzt von Herausgeber Michael Klein, im Januar im Morio-Verlag erschienen. Etwa 25 Jahre nach Erscheinen ihres Grusel-Weltbestsellers „Frankenstein“ (1818) folgt die durch Schicksalsschläge psychisch und physisch geschwächte 43-jährige Schriftstellerin - die Gründe erfährt man im Nachwort des Herausgebers - dem Aufmunterungsversuch ihres Sohnes Percy und dessen Studienfreundes Alexander A. Knox zu gemeinsamen Europa-Reisen mit Endziel Italien. Ist die erste Reise (1840) noch zeitlich begrenzt, scheint dies bei der zweiten Reise (1842) nicht gegeben. An mancher Station bleibt man spontan mehrere Tage, im bayerischen Kurort Bad Kissingen gleich vier Wochen. Shelley beschreibt ihre Reiseabschnitte in 14 ausführlichen, manchmal sogar ins Detail verliebten Briefen, in der wir die Eindrücke dieser Zeitzeugin hautnah miterleben. Allein schon die Wahl der Transportmittel quer durch Europa ist beeindruckend. Weite Wegstrecken müssen noch immer in der Kutsche bewältigt werden, auf der Mosel chartert die Gruppe ein Ruderboot, auf dem Rhein nutzt man dann ein Dampfschiff. Wo Schienen bereits verlegt sind, setzen sie sich in die ersten Eisenbahnen mit noch offenen Waggons. Zwar schätzt die Autorin dieses neue Verkehrsmittel, das andere Zeitgenossen noch verfluchen, bedauert aber, dass man die Landschaft nicht mehr in Ruhe betrachten kann: „Wir nahmen unsere Plätze ein und wurden gen Frankfurt geschleudert.“ Wenn die Bahn mit rasanten 30 bis 40 Stundenkilometern gar zu schnell ist, rufen verängstigte Fahrgäste dem Lokführer zu, er möge doch langsamer fahren. Der mehrmonatige Aufenthalt in verschiedenen deutschen Ländern ist der britischen Gruppe etwas erschwert, da keiner Deutsch konnte, umgekehrt die Deutschen kein Englisch: „Französisch war nur von geringem Nutzen.“ Nicht überall gab es schmackhaftes Essen, aber Shelley lobt eine deutsche Spezialität: „Ich habe die besonderen Genüsse exzellenten Brotes stets genossen und gepriesen, selbst wenn alles andere nichts taugte.“ Immerhin schmeckten auch zünftige Bratkartoffeln und der Wein. In den 1840er Jahre kommt gerade der Tourismus moderner Prägung auf. Entsprechend wittern Gastwirte, Kutscher und andere touristische Dienstleister das große Geschäft - auch bei schlechtem Service -, worunter auch Shelleys Reisegruppe zu leiden hat: „Die deutsche Küche ist sehr schlecht, wir mussten lange warten und wurden nur schleppend bedient.“ Gastwirte sorgen gezielt für die Verspätung bestellter Kutschen, um Reisende zur Übernachtung im Gasthof zu zwingen. Preise für Übernachtung, Mahlzeiten und Transport werden nach äußerer Erscheinung des Gastes willkürlich festgelegt. Doch trotz aller unliebsamen Erscheinungen und Widernisse liebt Mary Shelley das Reisen: „Reisen heißt, in jenem Buch zu lesen, das der Schöpfer selbst geschrieben hat und das tiefere Weisheit verleiht als die gedruckten Wörter der Menschen.“ Shelleys Reisebriefe sind unbedingt lesenswert, zeigen sie doch ein zeitgenössisches Bild des Reisens vor 175 Jahren. Dieses überaus interessante, sehr leicht und auch abschnittsweise lesbare, nur 200 Seiten fassende Buch ist jedem Reisenden unserer Tage zu empfehlen: Mögliche Reisemängel werden nach Lektüre dieses Buches völlig unbedeutend erscheinen.

Bewertung vom 26.01.2018
Das Leuchten der Erinnerung
Zadoorian, Michael

Das Leuchten der Erinnerung


ausgezeichnet

Ungemein ehrlich wie ein Erlebnisbericht, beklemmend, ergreifend wie ein Tagebuch liest sich der Roman „Das Leuchten der Erinnerung“ des amerikanischen Schriftstellers Michael Zadoorian, der bereits 2009 in den USA veröffentlicht wurde. Erst jetzt im Dezember erschien die deutsche Übersetzung von Elfriede Peschel rechtzeitig zum gleichnamigen Film mit Helen Mirren und Donald Sutherland. „The Leisure Seeker“, so der Originaltitel, war 2009 erst der zweite Roman Zadoorians. „Leisure Seeker“ ist die Marke ihres Oldtimer-Wohnmobils, mit dem sich die Eheleute Ella und John Robina auf ihre letzte Reise machen – eine Fahrt entlang der verfallenen Route 66 von Chicago nach Santa Monica. Ella ist unheilbar krank, Ehemann John leidet an Demenz. Gegen den Willen der Ärzte und ihrer zwei Kinder gehen beide auf Reisen. Auf den Campingplätzen verschafft ihnen der mitgebrachte Dia-Projektor in der Nacht das „Leuchten der Erinnerung“, wenn die beiden Alten sich ihre „Greatest Hits der Robinas“ aus längst vergangener Zeit anschauen – einer Zeit, in der sie als junge Eltern mit kleinen Kindern noch gemeinsam unterwegs waren. Die Reise ist zugleich ein Abschied vom Leben. Denn Ella, die uns Lesern ihren ehrlichen und schonungslosen Bericht widmet, ist sich ihrer kurzen noch verbleibenden Lebenszeit bewusst. Sie startet in die Reise, wie sie erzählt, „mit mehr Gesundheitsproblemen als ein Dritte-Welt-Land“. Doch gerade deshalb wagt die Todgeweihte trotzig diese Fahrt im vertrauten Wohnmobil: „Wir haben nichts zu verlieren.“ Ärzte retten gern Menschen, sagt sie sich, „aber wenn es um jemanden geht, der 80 Jahre alt ist, was gibt es da noch zu retten?“ Quälender ist das Gefühl der Entmündigung durch ihre erwachsenen Kinder: Als diese von der Abreise der Eltern erfahren, sind sie zunächst fassungslos, dann erbost, wollen die Eltern sofort zurückholen und nehmen Kontakt zur Bundespolizei auf. Aber Emma verwehrt sich dagegen: „Alt zu sein, verstößt nicht gegen das Gesetz – jedenfalls noch nicht.“ Auf der Reise bestimmt Ella, wo es lang geht, wo Pause gemacht wird, wo übernachtet wird. Ehemann John mit „gültiger Fahrerlaubnis“ lebt am Lenkrad auf. Während wir Leser Emmas Gefühle in jeder Stunde miterleben, bleiben wir bei John nur Beobachter. Was der Demenzkranke denkt, ob er überhaupt etwas denkt, erfahren wir nicht. Nur manchmal erfahren wir Gesprächen, dass er sich an Einzelheiten aus frühen Ehejahren erinnert. Doch manchmal weiß er nicht einmal mehr den Namen seiner Frau, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist. „Das Leuchten der Erinnerung“ ist keiner der zur Zeit geläufigen, netten Romane über lebensfrohe Senioren mit Hinweis auf ein selbstbestimmtes Leben alter Menschen. Denn Ella und John erleben wirklich nicht nur schöne Tage. So manches Mal hätten sie Hilfe nötig. Oft zweifelt Ella sogar, ob sie Santa Monica überhaupt erreichen. Doch gerade diese weniger schönen Erlebnisse, die Autor Michael Zadoorian seine Ella schlagfertig und meist mit trockenem Humor beschreiben lässt, sind die wirklich lesenswerten Passagen dieses insgesamt recht ungewöhnlichen, deshalb einzigartigen Romans.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.01.2018
Secret - Niemand schweigt für immer
Meltzer, Brad

Secret - Niemand schweigt für immer


sehr gut

Anfangs erscheint der Thriller „Secret – Niemand schweigt für immer“ des amerikanischen Bestseller-Autors Brad Meltzer (47), vor wenigen Tagen im Aufbau-Taschenbuchverlag erschienen, ziemlich verwirrend und undurchschaubar. Wie Metzlers Hauptfigur Hazel Nash braucht man schon eine Weile, bis sich die Geschichte zu einem spannenden, zum Finale hin immer rasanter erzählten Geheimdienst-Thriller entwickelt. Nach einem Autounfall, bei dem ihr Vater Jack Nash, ein durch seine Doku-Show „House of Secrets“ weltbekannter TV-Star, zu Tode gekommen ist, ihr Bruder Nicholas, genannt Skip, ebenso wie sie selbst verletzt wurde, erwacht die Anthropologin Hazel Nash nach einwöchigem Koma ohne jede Erinnerung. Als sie wieder erwacht, werden ihr von FBI-Agent Trevor Rabkins Fragen gestellt, auf die sie wegen fehlender Erinnerung an Vergangenes keine Antwort weiß. Sie erfährt, dass ein Mann, den ihr Vater wegen seiner TV-Show Tage zuvor besucht hatte, danach ermordet aufgefunden wurde. Kaum gesund, geht sie selbst diesen Fragen nach und kommt Schritt für Schritt einer gefährlichen, auch für sich selbst bedrohlichen Verschwörung und den Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur. Wie seine erinnerungslose Hauptfigur Hazel Nash entschlüsselt Autor Brad Meltzer gemeinsam mit seinem Co-Autor Tod Goldberg (47), den man in Deutschland durch seinen Thriller „Gangsterland“ (2016) kennt, die zunächst undurchschaubare Story. In den ersten Kapiteln vermag man nicht einmal die Guten von den Bösen zu unterscheiden. Erst allmählich fallen einige Masken, man beginnt als Leser die Personen zu sortieren und langsam wird ein Muster erkennbar, auch wenn es noch bis zum letzten Kapitel durchaus die eine oder andere Überraschung gibt. Schließlich wird deutlich, dass der amerikanische Geheimdienst FBI seit Jahrzehnten der Drahtzieher einer globalen Aktion ist, die auf jeden Fall geheim zu bleiben hat, weshalb für den „guten Zweck“ sogar gemordet werden muss - denn kein Lebender, „niemand schweigt für immer“. Nicht nur diese mörderische Geheimdiensttätigkeit wird vom Autor kritisiert, sondern am Beispiel der Familie Nash vor allem die Tatsache, dass ganze Familien vom FBI schonungslos ausgenutzt werden. Der FBI schreckt nicht einmal davor zurück, Kinder für seine Zwecke zu missbrauchen. Interessant bei diesem Thriller ist zu wissen, dass Autor Brad Meltzer, dessen Thriller schon in 25 Sprachen übersetzt wurden, vor etlichen Jahren mit Vertretern der Geheimdienste CIA und FBI, des US-Ministeriums für Innere Sicherheit und Psychologen verschiedener Fachrichtungen Mitglied einer Arbeitsgruppe war zur Entwicklung neuer geheimdienstlicher Abwehrmethoden gegen Terrorangriffe auf die Vereinigten Staaten. So wurde „Secret – Niemand schweigt für immer“ ein glaubwürdiger, ein von Kapitel zu Kapitel zunehmend spannender Thriller.