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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Das Lächeln der Alligatoren
Wildenhain, Michael

Das Lächeln der Alligatoren


gut

Am Anfang ist der Protagonist nur „der Junge“, der „junge Mann“ und wird erst später zum Icherzähler des Romans. Matthias Familie bricht auseinander, nachdem sein jüngerer Bruder Carsten nach einer schweren Krankheit geistig behindert bleibt. Carsten kommt in ein Heim, die Mutter der Jungen stirbt früh, der Vater verlässt die Familie. Matthias trägt lange und unnötig an der Last der Vorstellung, er habe Schuld an einer Kopfverletzung des Bruders und dessen Behinderung sei Folge dieser Verletzung. Bei einem Besuch des Bruders im Heim beobachtet Matthias mit pubertärem Interesse dessen Betreuerinnen, die kaum älter sind als er selbst. Zwischen den Angehörigen und den Betreuerinnen entsteht ein sonderbares Kräftemessen um das Wohl des Patienten. Man gewinnt den Eindruck, die Betreuerinnen hätten Carsten in Besitz genommen und würden seine lästigen Angehörigen abwehren. Als Matthias bereits Student in Berlin ist, kreuzt sein Weg den Weg Martas, die seinerzeit Carsten betreut hatte und nun Mitglied der RAF ist. Mathias lebt als Adoptivkind bei seinem Onkel, einem Professor der Neurologie, der zur Zeit des Hungerstreiks der RAF-Häftlinge eine Expertenkommission zur Zwangsernährung leitet. Sein Fund von altem Filmmaterial auf dem Dachboden konfrontiert Mattias mit der Tatsache, dass sein Onkel an den Menschenversuchen Josef Mengeles beteiligt gewesen sein muss. Matthias war für Marta und ihre Mittäter offenbar nur Mittel zum Zweck, um Kontakt mit dem Onkel herzustellen. Im dritten Teil des Buches ist Matthias selbst Professor und lebt inzwischen in Hamburg.

Die Verknüpfung einer an einem Schicksalsschlag zerbrechenden Familie mit der Nazivergangenheit eines Angehörigen und dem RAF-Terrorismus als Stoff eines sehr kurzen Romans klang zunächst vielversprechend. Doch außer durch eine Thematik, die mich zum Nachdenken anregt, möchte ich auch gern von der Sprache eines Romans beeindruckt werden. Für einen Rückblick auf Kindheit und Studienzeit eines anfangs noch unbedarften jungen Mannes finde ich die Sprache in „Das Lächeln der Alligatoren“ zu gekünstelt und zu unzugänglich. Selbst als erklärter Fan von Bandwurmsätzen finde ich Absätze wie den unten zitierten misslungen, falls ein Buch sich nicht allein an Feuilleton-Journalisten und Jurymitglieder des Preises der Leipziger Buchmesse richten sollte.

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Zitat
„Am Grab meiner Mutter, an dem wir uns verabredet haben. Einer der seltenen Besuche. Blumen, ich werde ihr Rosen kaufen. Jetzt hole ich meinen Vater, der eine Vorlesung im großen Hörsaal des Universitätsklinikums hält, ab, um mit ihm gemeinsam zu ihrem Grab, der Ruhestätte auf dem Waldfriedhof zu fahren, nahe dem Olympiastadion, an einem verschwiegenen See.“ (Seite 104)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Ein Jahr auf dem Land
Quindlen, Anna

Ein Jahr auf dem Land


sehr gut

Rebecca Winter hat ihre Wohnung in New York City vermietet und ist selbst in eine vernachlässigte, sehr einfache Jagdhütte auf dem Land gezogen. Der Kontrast zum Großstadtleben könnte nicht größer sein. Während für kleinere häusliche Katastrophen in der Stadt der Hausmeister zuständig war, muss Rebecca sich gleich nach ihrer Ankunft um einen Waschbären kümmern, der sich unter dem Dach des maroden Häuschens niedergelassen hat. Als typische Städterin hat Rebecca die im Elternhaus vorgelebte Abneigung gegen herumfliegende Pollen und Insekten übernommen. Wenn sie hier auf dem Land zurechtkommen will, muss sie sich einer Lebensweise anpassen, die auf Selbstversorgung und gegenseitige Hilfe setzt. Weshalb sollte man Brennholz für den Kamin kaufen, wenn ein Nachbar es im Tausch gegen einen anderen Gefallen bis vor die Tür bringt?

Rebecca hat als junge Frau einmal ein Foto zu traumhaften Konditionen verkauft, das sie von ihrem Küchentisch am Morgen nach einer Feier aufgenommen hatte (Still life with bread crumbs, so der Originaltitel des Romans). Bis heute flossen aus diesem Geschäft regelmäßig Einnahmen, die es Rebecca ermöglichten, ihre Eltern zu unterstützen und den Heimplatz ihrer dementen Mutter zu finanzieren. Obwohl sie sich als Fotografin seitdem nur wenig weiter entwickelt hat, blieb Rebecca in der öffentlichen Wahrnehmung die feministische Ikone, die in diesem Foto das Lebensgefühl einer ganzen Frauen-Generation ausdrückte. Rebeccas Ortswechsel ermöglicht ihr nun die Muße, die künstlerische Sackgasse zu erkennen, in der sie gelandet ist. Das Jahr auf dem Land, kaum zwei Stunden Fahrt von New York entfernt, wird für Rebecca zum Kulturschock und zur Bestandsaufnahme ihres Lebens. Kurz vor ihrem 60. Geburtstag ist sie gezwungen, neu auf andere Menschen zuzugehen und ihren Blick für deren Lebensweise zu schärfen.

Von Rebeccas Neubeginn erzählt Anna Quindlen in warmherzigem Ton und trifft damit das Lebensgefühl in den 50ern geborener Frauen, die sich zwischen den Ansprüchen von kränkelnden Eltern und nesthockenden Kindern aufgerieben fühlen. Da Rebecca auch den Winter auf dem Land verbringt, kann ich mir Quindlens Roman sehr gut als Lektüre für die Vorweihnachtszeit vorstellen. Nicht gelungen ist es der Autorin, mir Rebecca als Fotografin oder Künstlerin nahezubringen, die Fotografieren wie einen zusätzlichen sechsten Sinn nutzt. Verglichen mit den liebevoll zusammengetragenen Beobachtungen eines Lebens auf dem Land und einer sich anbahnenden Liebesbeziehung fallen die Passagen über Rebeccas Arbeit als Fotografin sprachlich und sachlich stark ab. Ärgerlich, dass diese nicht plausiblen Details von niemandem bearbeitet wurden, der etwas von der Sache versteht. So stützt der Roman leider das Klischee, Leserinnen von Frauenromanen würden sich nur für die Beziehungsebene interessieren und die Sachebene könne daher vernachlässigt werden.

Bewertung vom 04.01.2017
Geraubte Liebe
Maraini, Dacia

Geraubte Liebe


sehr gut

Marina kommt selbst in die Notaufnahme und behauptet, sie sei die Treppe heruntergefallen. Dr. Gianni Lenti kennt die Ausreden misshandelter Frauen und er erkennt die Patientin wieder. Er veranlasst, dass eine Sozialarbeiterin sich um die junge Frau kümmert, doch die ist jung und unerfahren. Wie meist in solchen Fällen ist der misshandelnde Ehemann überzeugt davon, seine Frau zu lieben und das Opfer ist überzeugt, geliebt zu werden. --- In einer anderen Kurzgeschichte hatte sich ein Ehepaar lange vergeblich ein Kind gewünscht und umsorgt die langersehnte Tochter Venezia wie eine Prinzessin. Der Vater gibt seinen Beruf auf, um sich nur noch der Model-Karriere seiner Achtjährigen zu widmen. Vater und Tochter paktieren gegen die Mutter, die sich ein normaleres Leben für ihre Tochter gewünscht hätte. Das Verschwinden des kleinen Mädchens wirft wie in einer Kriminalgeschichte die Frage auf, wer ein Motiv oder eine Gelegenheit für eine Gewalttat gehabt hätte. Die Suche nach der Tochter wird für ihren Vater zur fixen Idee, er verwahrlost zur tragischen Figur. --- Eine Gruppenvergewaltigung durch Jugendliche steht im Mittelpunkt einer Geschichte, die Schuldzuweisungen an das Opfer thematisiert, Rationalisierung einzelner Täter, sie hätten ja nicht aktiv gehandelt, sondern der Gewalttat nur zugesehen, bis schließlich die 'anständigen' Jungen von der Öffentlichkeit freigesprochen von jeder Schuld werden und der Bürgermeister sich empören kann, die Presseberichte würden dem Ansehen des Ortes schaden. --- Weitere Motive Dacia Marainis sind ein heimlicher Schwangerschaftsabbruch bei einem Vergewaltigungsopfer, der Missbrauch von Kindern durch den Stiefvater, der paranoide Kontrollzwang eines extrem eifersüchtigen Mannes in einer Zweierbeziehung und der vergebliche Versuch eines alleinerziehenden Vaters, seine Tochter vor einem Partner zu bewahren, dem er misstraut. In der Summe geht es um Co-Abhängigkeit und Komplizenschaft zwischen Opfer und Gewalttäter.

In Marainis 2012 im Original erschienenen Kurzgeschichten erleben wir moderne, berufstätige Frauen als Gewaltopfer, für die es keine oder keine wirkungsvolle Hilfe gibt. Die Lebensrealität dieser Frauen wird bestimmt von abwesenden Müttern und schwachen Vätern, die die Ereignisse hilflos erleiden. Allein im Jahr 2013 wären in Italien 120 Frauen von ihren Partnern oder Expartnern getötet worden, so Dacia Maraini. Im Nachwort des Buches ergänzt die deutsche Verlegerin des Bandes, dass Maraini Gewalt und Erniedrigung von Frauen, die in gebildeten Schichten stattfindet, als direkte Reaktion auf die Emanzipation dieser Frauen interpretiert. Diese Erklärung empfinde ich als heikel, weil sie fatal an die öffentlichen Schuldzuweisungen an das Opfer in der Geschichte über die Vergewaltigung durch eine Clique Jugendlicher erinnert. Maraini erzählt mit scharfem Blick für die Widersprüche in Beziehungen, schmucklos und dadurch für ihre Leser ernüchternd.

Bewertung vom 04.01.2017
Der große Kosmos-Naturführer Tiere und Pflanzen

Der große Kosmos-Naturführer Tiere und Pflanzen


ausgezeichnet

Der große Kosmos-Natürführer „Tiere und Pflanzen" ist eine preiswerte Sonderausgabe als Hardcover vom broschierten Tierführer (448 Seiten, ISBN 978-3440139189) und vom Pflanzenführer (448 Seiten, ISBN 978-3440139196).
--> Gewicht knapp 1500gr

Das Handwerkliche
Wer Hardcover-Einbände broschierten Büchern vorzieht, findet hier wirklich ein Schnäppchen. Das Buch ist solide fadengeheftet und gebunden, der mittlere Bereich bleibt beim Lesen bequem aufgeschlagen liegen, beim vorderen und hinteren Bereich gelingt das nicht so gut. Durch das Zusammenfügen zweier Einzelbücher hat jeder Einzelband sein eigenes Inhaltsverzeichnis und Register, es gibt nur ein verkürztes gemeinsames Inhaltsverzeichnis vorn und kein gemeinsames Register der Teile. Die Seitenzählung ist durchgehend.

Die Gliederung
Ein Farbcode am seitlichen Schnitt führt zu den einzelnen Kapiteln.
Der Tierführer enthält: Säugetiere, Vögel, Reptilien, Amphibien, Fische, Wirbellose
Der Pflanzenführer enthält: Blumen, Gräser, Bäume und Sträucher, Farne und Moose, Pilze
Der Pflanzenführer ist nach der Blütenfarbe geordnet, ein Prinzip, das sich in den anderen Pflanzenführern von Kosmos bewährt hat. Jede Doppelseite enthält links den Text, rechts die Fotos in sehr guter Qualität. Der Beschreibungstext ist in beiden Teilbänden gegliedert in: Beschreibung, Merkmale, Vorkommen der Pflanze oder Tierart.

Mit Gliederung und Umfang des großen Naturführers bin ich sehr zufrieden. Vorteil des Pflanzenführers für mich persönlich: er enthält ein kurzes Pilz-Kapitel, Vorteil des Tierführers: er enthält auch Meeresgetier wie Muscheln, Schnecken und Quallen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Septemberkinder
Aernecke, Susanne

Septemberkinder


sehr gut

Als Susanne Aernecke geboren wurde, war die Beziehung ihrer Eltern schon wieder zu Ende. Ihre Mutter konnte sich mit dem Leben einer Kapitänsfrau nicht abfinden und in der norddeutschen Heimat ihres erheblich älteren Mannes nicht Fuß fassen. Sie beschloss, dass es für ihre Tochter besser sein würde, ihren Vater erst gar nicht kennenzulernen. Mit 19 sucht die vaterlos aufgewachsene Tochter Kontakt zu ihrem Vater und begleitet ihn auf einer Reise nach Brasilien. Die Begegnung mit ihrem Vater konfrontiert die Autorin mit einer Reihe von Halbgeschwistern, Nichten und Neffen. Die Familienverhältnisse mit Kindern aus mehreren Ehen sind für den Leser ohne Hilfe eines Merkzettels erst allmählich zu durchschauen. Anhand der sichtbaren Familienähnlichkeit auf den Familienfotos im Buch wird nachvollziehbar, wie das Wissen über die eigene Abstammung uns auch mit Charakterzügen und verwandten Verhaltensmustern der eigenen Sippe versöhnen kann.

Eine gemeinsame Reise mit ihrer älteren Schwester Petra nach Brasilien an Bord des Frachters 'May Oldendorff' folgt 30 Jahre nach der ersten Brasilienreise den Spuren des Vaters und dient der Begegnung zweier Abgesandter des Aernecke-Clans. Heinz-Richard Aernecke (* 1914) war sechsmal verheiratet und hat vermutlich Kinder aus weiteren Beziehungen. Das Muster seiner Ehen wiederholte sich und ist für die Kriegs- und nachfolgenden Wirtschaftswunderjahre nicht ungewöhnlich. Susanne Aerneckes Mutter sieht in ihrem fast 40 Jahre älteren Mann möglicherweise einen Ersatzvater, sie ist auf die Einsamkeit und ihre Rolle als alleinige Familienmanagerin nicht vorbereitet. Die Ehe scheitert. Auch die Geschwister suchen in ihren Partnerbeziehungen den Rückhalt, den sie als Kinder vermissten. Auch sie scheitern und werden Eltern von Kindern, die das Beziehungsmuster wiederholen. Die ungewöhnliche Familiengeschichte lässt sich teils aus den Moralvorstellungen der 50er und 60er erklären und dem damals geltenden Kuppeleiparagrafen, als Paare ohne Trauschein kaum eine Wohnung gefunden hätten. Sie zeigt aber auch beispielhaft die 'vaterlose Gesellschaft', in deren Sprachgebrauch nicht Paare gemeinsame Kinder erzogen, sondern Männer Kinder zeugten und Frauen Kinder 'hatten'.

Die Geschichte der Aernecke-Kinder, jeweils im September geboren, 9 Monate nach dem Landurlaub des Vaters, reiht sich in mehrere kürzlich erschienene Biografien der Kinder von Kriegsteilnehmern ein. Die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse von Susanne Aerneckes Vater bilden die Achse ihrer Spurensuche, um die sie die Schiffsreisen und die Einzelschicksale ihrer Geschwister anordnet. Neben dem Niederschreiben der Geschichte ihrer Halbgeschwister stellt sich für Aernecke die zentrale Frage nach Verhaltensmustern, die die Abwesenheit des Vaters seinen Kindern aufprägte.

Die einzelnen Abschnitte dieser Spurensuche fallen in ihrer Tiefe unterschiedlich aus. Nicht alle Ereignisse müssten etikettiert und analysiert werden. In Susanne Aerneckes Erinnerung an den zweiten Mann ihrer Mutter fehlt mir z. B. bei einer Frau ihres Alters die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Selbstkritik an ihrer alterstypisch pubertären Vorwurfs- und Anspruchshaltung jener Zeit. Die soziale Vaterrolle für einen mitgeheirateten pubertierenden Teenager auszufüllen ist für den Betroffenen sicher kein Honigschlecken.

Ein Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte, das ich besonders wegen des Ausklinkens auf See aus dem Alltagstrott in den Reisepassagen sehr gern gelesen habe.

Bewertung vom 04.01.2017
40 Tage Nacht
Truc, Olivier

40 Tage Nacht


ausgezeichnet

Nach vierzig Tagen Polarnacht wird in Kautokeino in Lappland am 11. Januar zum ersten Mal für knapp 30 Minuten wieder Tag sein. In den knapp drei Wochen, in denen Klemet Nago und seine Kollegin Nina Nansen u. a. im Fall eines getöteten Rentierzüchters ermitteln, wird sich die Tagesdauer bis auf fünf Stunden verlängert haben. Beide arbeiten für die Rentierpolizei, eine Dienststelle, die länderübergreifend Konflikte um die Rentierhaltung samischer Züchter regeln soll. Der erfahrene Polizist Nago ist zwar Nachfahre von Sami, hat aber den Kontakt zur Kultur seines Volkes verloren, seit man ihn als Kind ins Internat schickte und seit sein Großvater die Zucht aus wirtschaftlichen Gründen aufgeben musste. Nago zur Seite gestellt wird eine Berufsanfängerin, die aus Oslo stammt, und von der hier im Norden zunächst kaum jemand etwas hält. Ninas Unbedarftheit wirkte auf mich anfangs viel zu breit ausgewalzt; denn es liegt nahe, dass ein erfahrener Polizist sich mit einer jungen Kollegin erst zusammenraufen muss. Der Diebstahl einer samischen Trommel aus dem Haus eines Galeristen versetzt den Ort in Aufruhr. In wenigen Tagen wird in Norwegen eine UN-Konferenz stattfinden, zu der das Land sich in möglichst günstigem Licht zeigen will. Konflikte mit einer nationalen Minderheit sind deshalb denkbar unerwünscht; die Ermittler stehen entsprechend unter Druck.

Der gewaltsame Tod des Rentierzüchters Mattis lässt befürchten, dass die traditionelle Rentierzucht nicht allein die Kreise von Bergbaukonzernen und Bauunternehmen stört, sondern auch den Plänen einiger Einheimischer im Wege steht. Kurz bevor entscheidende Lizenzen für die Erzförderung verkauft werden, taucht in Nagos und Ninas Revier der französische Geologe Racagnol auf, der in der Branche für seine Rücksichtlosigkeit berüchtigt ist. Racagnol findet sich in einer vergleichbaren Situation wie die norwegischen Ermittler. Er hat Informationen über eine vielversprechende Erzfundstätte, die er im verschneiten Gelände eilig einem Flurstück zuordnen und dafür eine Lizenz beantragen muss. Für seine Erkundung braucht der Franzose die Ortskenntnis eines einheimischen Führers. Er nimmt es ausgerechnet mit Aslak auf, dem Fremde bisher nur Unglück gebracht haben und dem man Bärenkräfte nachsagt. Auch die Ermittler verfügen über Informationen, die sie erst mit Hilfe der Berufserfahrung einer Geologin einordnen können. Verbindungsstück zwischen den zu lösenden Rätseln scheint die Trommel zu sein, deren Geschichte bis zu Ereignissen des Jahres 1939 zurückreicht. Nago muss sich nun notgedrungen die Legenden seines betagten Onkels anhören, wenn er mit seinem Fall vorankommen will.

Nach einem sehr gemächlichen Einstieg hat mich Trucs sorgfältig recherchierter Ethnokrimi doch unerwartet gefesselt. Der französische Journalist mit Wohnort Stockholm verknüpft seine Handlungsfäden aus Vergangenheit und Gegenwart zu einer schlüssigen Lösung und beeindruckt mit seiner Einfühlung in die einzelnen Familienschicksale. Unbedingte Empfehlung für Nordlichtliebhaber, die auch anstrengende Eigenheiten von Geologen tolerieren können.

Bewertung vom 04.01.2017
Risiko
Kopetzky, Steffen

Risiko


ausgezeichnet

Sebastian Stichnote waren der väterliche Gerberbetrieb in München und sein Heimatland zu eng geworden. Ein Onkel, der als Baumharzjäger nach Sansibar zieht und schließlich nach Kolumbien auswandert, weckt Sebastians Abenteuerlust. So treffen wir den lernbegierigen jungen Mann zu Beginn des Ersten Weltkriegs im Hafen von Durazzo (Durres)/Albanien als Marinefunker im Rang eines Obermaates an Bord der SMS Breslau. In der Unterkunft von Karl Dönitz lernt Stichnote 'Das Große Spiel' kennen, ein Strategiespiel aus Clausewitz Zeiten, das zur Schulung des Offiziersnachwuchses diente. Stichnote zeigt sich als überraschend eigenständig taktierender Spieler und wird Dönitz begehrter Spielpartner. Aus dem Nachspielen von Gefechtssituationen entsteht während der Handlung in Durazzo das heutige Spiel 'Risiko', bei dem auf dem Weg zur Weltherrschaft vorgegebene Aufträge zu erfüllen sind. Welche Verbindung zwischen Spiel und Wirklichkeit entstehen könnte, wer dieses Spiel leitet und wer es gewinnen wird, sind die spannenden Fragen, die sich Leser oder Zuhörer von nun an stellen.

Im Tross des Berliner Oberleutnants Niedermayer wird Stichnote samt einer Funkanlage - Made in Germany und vom Umfang eines Familienzirkus - schließlich Teilnehmer einer geheimen osmanisch-deutschen Expedition nach Afghanistan. Es geht von Konstantinopel über Bagdad, Teheran und Isfahan ' Namen, die bei Lesern von Abenteuerromanen für glänzende Augen sorgen. Gereist wird mit der Bagdad-Bahn, mit Zuggespannen, Laststieren und zu Pferd. Stichnote kann während der Geheimunternehmung sogar seine Qualifikation als Schlagmeister und Nachrichtenübermittler per Brieftaube zeigen. Bis sich der Kreis wieder schließt und man erfährt, wie der Marinefunker in die im Prolog geschilderte abenteuerliche Situation gelangt ist, treten höchst interessante Figuren auf. Der Orientalist Niedermayer, vielsprachiges Multitalent, das Persisch, Türkisch und Arabisch spricht, als Leiter der Operation, Adolph Zickler, wie ein Chamäleon zwischen Journalist, Waffenhändler und Verschwörer changierend, sowie ein britischer Agent, der Niedermayer kaum mit seiner Rolle als indischer Prinz täuschen kann. Anregung zu seinem opulenten Abenteuerroman und Quellen für den historischen Kern der unerhörten Geschichte waren für Kopetzky Peter Hopkirks Buch On Secret Service East of Constantinople: The Plot to Bring Down the British Empire und John Buchans Greenmantle (1917), ein Bericht über die Afghanistan-Expedition der Kaiserzeit.

Kopetzky zeichnet seine Figuren und ihre Dialoge stets liebevoll und mit großartigem Humor. Sebastian Stichnote allein, dem dritten Sohn und Seemann ohne Schiff, wäre ich schon begeistert durch jede Wüste und in entlegenste Winkel des Globus gefolgt. Doch Kopetzkys farbenfrohes Personal aus historischen und fiktiven Figuren, die Turbanträger, Emire, Haremsbesitzer und Verschwörer sorgten dafür, dass ich seiner Geschichte ich atemlos bis zum letzten Track gelauscht habe.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen
Juby, Susan

Der Tag, als wir begannen, die Wahrheit zu sagen


gut

Normandy Pale ist Schülerin einer kanadischen Highschool mit Schwerpunkt Kunst in Nanaimo/Vancouver Island. Ihren auffälligen Vornamen erhielt sie von ihrem Vater, der Dioramen berühmter Kriegsschauplätze bastelt. "Norm"s ältere Schwester Keira wurde als Zeichnerin von Graphic Novels bekannt, in denen ihre Familienmitglieder als Figuren vorkommen. Normandy muss damit leben, dass ihr Abbild als Comic-Figur landesweit bekannt ist. Für ein Essayprojekt in der 11. Klasse soll Norms Arbeitsgruppe mehreren Personen eine persönliche Frage stellen zu einem Thema, über das bisher niemand zu sprechen wagte. Das Essay wird von einer Dozentin für kreatives Schreiben betreut, mit der Normandy in den Fußnoten ihres Textes kommuniziert. Die zahlreichen Fußnoten und Referenzen zu Autoren und ihren Werken bremsen die Handlung stark aus und die Icherzählerin führt ihren Lesern damit wiederholt vor Augen, dass der Text fiktiv ist und seine Figuren Normandys Geschöpfe sind. Die Autorin schreibt demnach nicht für mich; ich werde zur Versuchsperson ihres schriftstellerischen Lernprozesses.

Die Interviews mit der Schulsekretärin Mrs Dekker und einigen Schülern bleiben auffällig an der Oberfläche. Mit den Themen sexuelle Orientierung, Mobbing in sozialen Netzwerken, ehrgeizige Tiger-Moms und Drogenkonsum geraten die Interviewer tief in die Privatsphäre ihrer Altersgenossen. Zweifel tauchen auf, ob private Probleme Siebzehnjähriger allein Mittel zum Zweck sein dürfen und wer den beginnenden Gruppenprozess professionell begleitet. Doch die Interviewpartner werden nur als Kulisse benötigt, zentrales Thema ist Normandys Verhältnis zu ihrer erfolgreichen Schwester. Dass Normandy ihrem persönlichen Problem immer wieder in wohlgesetzten Worten ausweicht, finde ich gut nachvollziehbar, für mich als Leser jedoch wenig fesselnd. Figurenzeichnung und Sprache der Geschichte sind deutlich das Werk einer Schülerin in einem Kurs für kreatives Schreiben - entwicklungsfähig.

Susan Juby lässt ihre Protagonistin Normandy eine Geschichte schreiben, die über viele Seiten hinweg zunächst von der Icherzählerin und ihrem zentralen Problem fortführt (das Benutzen realer Personen durch Künstler/Autoren in ihren Werken). Formal ist der Selbstfindungsprozess 17- bis 20-jähriger Figuren im Rahmen ihrer Schreibwerkstatt durchaus interessant - aber nicht für die empfohlene Zielgruppe ab 12 Jahre.

P.S.: Wenn der Begriff "Essay" hier mit Facharbeit oder Jahresarbeit übersetzt worden wäre, hätte ich vielleicht früher begriffen, dass ein Essay mit Fußnoten eine Plage für jeden kanadischen/amerikanischen Schüler sein muss und Juby sich durch die Schwemme von Fußnoten über das Schulsystem lustig macht. In Der Andere gelingt David Guterson mit wenigen Sätzen, mir diese Landplage eines Schülerlebens zu verdeutlichen. Dennoch finde ich charakteristische Ereignisse aus dem Leben eines Elftklässlers für die Zielgruppe des Romans am falschen Platz.

Bewertung vom 04.01.2017
Wir sind nicht wir
Thomas, Matthew

Wir sind nicht wir


sehr gut

Eileen, die Tochter irischer Einwanderer in New York, war schon als Kind unbedingt entschlossen, die ärmlichen Verhältnisse zu verlassen, in denen sie aufwuchs. Als sie sich mit 13 Jahren bei ihrem Job im Waschsalon fragte, ob sie je genug verdienen könnte, um aus der Armut herauszukommen, symbolisierten die Häuser der Wohlhabenden für sie stets Sicherheit. Eileen steigt auf zur Pflegedienstleiterin und arbeitet in verschiedenen Krankenhäusern, sie heiratet Ed Leary und wird in einem Alter Mutter, in dem andere Paare die Hoffnung auf ein Kind längst aufgegeben haben. Von Ed erwartet Eileen, dass er sie und den Sohn Connell mit seinem Erfolg nach oben tragen wird. Glück und Erfolg liegen für Eileen nicht im Sein oder im Können, sondern im Haben. Glück ist nicht, wenn Ed im Einklang mit sich und seiner Lehrtätigkeit lebt, sondern Glück wäre, wenn er Eileens Ziele verfolgen würde. Um die Frage, ob Ed mit dem Erreichten zufrieden ist oder im Universitätsbetrieb weiter aufsteigen möchte, kommt es zu ersten Unstimmigkeiten zwischen den beiden. Bereits vor seinem 50. Geburtstag zeigt Ed verstörende Anzeichen einer Persönlichkeitsveränderung, die eine schwere Krankheit vermuten lassen. Die ersten Symptome sprechen eine deutliche Sprache, die Eileen trotz ihrer Berufserfahrung in der Krankenpflege nicht wahrhaben will. Diesen Ereignissen vorausgehend, ist das Stadtviertel der Learys in Washington Heights gekippt; die vertrauten Nachbarn sind weggezogen, Geschäfte und Restaurants haben die Besitzer gewechselt. Eileen ist der Meinung, dass sie sich eine Adresse in diesem Viertel in ihrem Beruf nicht mehr leisten kann. Sie ist einerseits unbedingt entschlossen, einige hunderttausend Dollar für Connells Studium zurückzulegen, obwohl noch unklar ist, ob eine angesehene, kostspielige Universität überhaupt sein Ziel ist. Keiner der Ehepartner hat für den Fall der Berufsunfähigkeit vorgesorgt. Ed hat in seinem Alter erst Anspruch auf eine minimale Rente, Eileen hat noch keinen Rentenanspruch. Das Kippen des Wohnviertels könnte für beide eine Wertminderung ihres Hauses und damit ihrer Altersvorsoge bedeuten. Eileen argumentiert aber nicht mit der Entwicklung der Immobilienpreise; sie hat sich in den Kopf gesetzt, nun endlich ein Haus mit sieben Zimmern in einem angesehenen Viertel besitzen zu wollen. Sparen für ein Studium, Hauskauf, ein weiterer Weg zur Arbeit, Eds sich abzeichnende Krankheit – Eileen müsste dringend auf den Boden der Realität zurückfinden. Da Eileens Eltern beide Trinker waren, habe ich eine Weile damit gerechnet, dass sie in ihrer kompromisslosen Maßlosigkeit eine weitere Patientin in der Familie sein würde.

Wer den körperlichen und geistigen Verfall eines Demenzkranken miterlebt hat, ahnt zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Handlung, welchen Weg Eds Schicksal nehmen wird. „Wir sind nicht wir“ zeichnet als opulenter Familienroman dreier Generationen diese Entwicklung akribisch auf, behält aber auch Frau und Sohn des Patienten im Blick. Mit Eds Verfall vom Vater zum hilflosen Pflegefall muss Connell erst umgehen lernen – Eileen ist ihm dabei keine Hilfe. Seine Mutter, die mit dem Erreichten niemals zufrieden sein kann und die so viel Wert auf die Wahrung der Fassade legt, steht hier als gesellschaftliche Aufsteigerin in einer Einwanderer-Gesellschaft stellvertretend für die amerikanische Mittelschicht. Matthew Thomas schont seine Leser vor keinem ernüchternden Detail einer Alzheimer-Erkrankung; gerade die Entwicklung der betroffenen Angehörigen finde ich aufgrund seines sezierenden Blicks unbedingt lesenswert.

Bewertung vom 04.01.2017
Alles super!
Doyle, Roddy

Alles super!


ausgezeichnet

Die Hunde Chester und Sadie lieben die Nacht. Es ist eine magische Zeit, in der sie sich entspannen können. Die Tiere merken zuerst, dass sich in Dublin etwas verändert hat. Der schwarze Hund der Depression hat sich eingeschlichen und dringt bis in die Häuser ein. Die Stadt Dublin kann nicht mehr lachen. Die Veränderungen sind zunächst kaum spürbar. Gloria und Ray Kelly teilen sich ein Zimmer, seitdem ihr Onkel Ben zu ihnen gezogen ist. Die Kinder hören das Gemurmel der Erwachsenen, wenn sie im Bett sind. Die sanfte Geräuschkulisse schließt die Kinder aus. Das Plaudern im Wohnzimmer kann umkippen in ernste Themen, die Kindern Angst machen. Ray war schon immer ängstlich, doch nun bekommt auch Gloria Angst. Die Kinder schleichen sich ins Wohnzimmer und wie im Spiel erfahren sie in kleinen Schritten, dass der jüngere Bruder ihrer Mutter Konkurs anmelden musste. Erklärt wird gerade so viel, wie die Kinder verarbeiten können. Indem sie sich abstrakte Begriffe aneignen, bewältigen sie die Veränderungen.

Wenn Ben nicht mehr allein klarkommt und die Veränderungen durch die Wirtschaftskrise allen zu viel werden, wird ein Erwachsener die Situation als wirtschaftliche Depression und auch als Depression im medizinischen Sinn interpretieren. Den Geschwistern wird das Ausmaß der Veränderungen erst allmählich deutlich. Die Kinder werden aktiv, sie wollen Ben helfen. Eine Kinderwanderung wird zur Massenbewegung, zum Bündnis der Kinder und Hunde. Auch andere Kinder haben depressive Angehörige, erfahren Gloria und Ray. Ein Wort wird zur Geheimwaffe, „super“ will ausdrücken: mach dir nichts draus. Doch hinter der Macht des Wunder wirkenden Wortes liegt eine große Traurigkeit. In der Gruppe erfahren Gloria und ihr Bruder Hilfsbereitschaft, sie erleben urkomische Dinge u. a. nachts im Zoo. Einige Szenen kann vermutlich nur verstehen, wer selbst in Dublin wohnt. Die Gemeinschaft siegt schließlich, weil die Einzelnen ihre Ängste überwinden und nur Kinder gegen den schwarzen Hund angehen können. Kindliche Kräfte müssen sich keiner Logik unterwerfen.

Roddy Doyle hat das ernste Thema Depression gekonnt und mit bewundernswertem Feingefühl bereits für achtjährige Leser umgesetzt.