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sleepwalker

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Insgesamt 495 Bewertungen
Bewertung vom 02.10.2020
Die Tinktur des Todes / Die Morde von Edinburgh Bd.1
Parry, Ambrose

Die Tinktur des Todes / Die Morde von Edinburgh Bd.1


ausgezeichnet

Will Raven wird Famulus (also so etwas wie ein Arzt-Azubi) bei Dr. Simpson, einem der bekanntesten Geburtshelfer und Ärzte in Edinburgh. Will wird nicht nur von Simpson angelernt, er lebt auch im Haushalt des Arztes, was für ihn ein Glücksfall ist, denn er ist in großen Geldnöten. Hatte er sich doch für eine befreundete Prostituierte bei Geldverleihern Geld besorgt. Die junge Frau starb – und die Geldverleiher wollen ihr Geld zurück. Will bekommt also allerhand zu tun. Er wird in die Geheimnisse der Geburtshilfe eingeweiht und macht erste Gehversuche auf dem neuen Gebiet der Anästhesie, dazu ist er auf der Flucht vor den Geldeintreibern und versucht auch noch, den Tod seiner verstorbenen Freundin aufzuklären. Auch Dr. Simpsons Zimmermädchen und „Arzthelferin“ Sarah ermittelt, denn auch sie hat eine Freundin verloren. Und bei diesen Toden bleibt es nicht – es sterben weitere Frauen.
„Die Tinktur des Todes“ von Ambrose Parry ist eine solide Mischung aus Krimi und (medizin)historischem Roman. Die Spannung ist konstant vorhanden, aber eher subtil und unterschwellig. Das Autorenduo, das sich hinter dem Namen verbirgt, schafft es hervorragend, die Stimmung des viktorianischen Edinburghs einzufangen. Sowohl die gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den ärmeren (und sehr armen) Schichten und den „besseren Kreisen“ kommen zum Ausdruck, als auch die Rolle von Mann und Frau, die aufkeimende Emanzipation und der beginnende Feminismus. Und natürlich darf in einem Roman über diese Zeit auch die Religion nicht fehlen.
Manchmal bekommt man als Leser das Gefühl, die Autoren verzetteln sich etwas und packen zu viele Themen in das Buch. Aber sie schaffen es meiner Meinung nach immer wieder, den Bogen zu schlagen und verlieren nie den roten Faden. Gut, der Kriminalfall gerät manchmal ein bisschen in den Hintergrund, denn die (fiktive) Geschichte der Anästhesie ist sehr dominant vorhanden. Dennoch ist es kein Geschichtsbuch, sondern ein sehr gelungener Roman, den ich sehr gerne gelesen habe. Manche Stellen fand ich ganz besonders gelungen, so zum Beispiel „Die Natur stellt uns zahlreiche nützliche Heilmittel bereit, aber die Chemie entlockt ihnen ihre Geheimnisse“, oder die Kritik an der Homöopathie „Die Lehre, Gleiches heile Gleiches, ergibt in meinen Augen wenig Sinn“.
Die Sprache passt meiner Meinung nach ganz hervorragend in die Zeit, in der die Geschichte spielt und gibt dem Ganzen eine besondere Note, ohne es in den Kitsch abrutschen zu lassen. Die Charaktere sind sauber ausgearbeitet und bildhaft beschrieben. Von mir für den (wie es scheint) ersten Teil der Serie um Will Raven 5 Sterne, ich freue mich jetzt schon auf eine Fortsetzung.

Bewertung vom 24.09.2020
Serpentinen
Bjerg, Bov

Serpentinen


weniger gut

Bedrückende Atmosphäre. Konzept: ja, roter Faden: nein.
Vor der Lektüre von „Serpentinen“ kannte ich den Autor Bov Bjerg nicht. Da sein Buch aber teilweise auf der Schwäbischen Alb (der Heimat des Autors) spielt, Depressionen und Selbstmord in meinem Leben schon eine große Rolle gespielt haben, hat mich das Buch sehr interessiert.
Die durchgehend düstere, nebulöse und nicht-greifbare Stimmung in dem Roman fand ich gewöhnungsbedürftig. Die unterschwellige Depression und die vielen unausgesprochenen Dinge ebenfalls. Aber die größten Probleme hatte ich mit der Sprache des Autors: abgehackt, fragmentiert und alles in allem für mich eher leserunfreundlich.
Das Buch hinterließ bei mir am Ende ein ziemlich großes Fragezeichen und einen eher schalen Nachgeschmack. Die Geschichte schlängelt sich serpentinengleich in alle möglichen Richtungen, um dann irgendwann wieder am eigentlichen Thema zu landen, von wo aus der Autor dann wieder abschweift. Einen roten Faden, der mich hätte fesseln können, konnte ich keinen finden. Depressionen, Familientragödien und Selbstmord(e) sind schwierige Themen, die der Autor für meinen Geschmack nicht wirklich gut aufarbeitet. Vielleicht fehlt mir das Vorwissen aus seinem Roman „Auerhaus“, um das Werk richtig einordnen zu können. Von mir leider keine Lese-Empfehlung, 2 Sterne.

Bewertung vom 23.09.2020
White Sleep - Unschuldig in den Tod / Holly Wakefield Bd.2
Griffin, Mark

White Sleep - Unschuldig in den Tod / Holly Wakefield Bd.2


ausgezeichnet

„Die Hölle selbst kann nicht so wüten wie ein verschmähter Soziopath.“ Dieser Satz fasst „White Sleep – Unschuldig in den Tod“ von Mark Griffin perfekt zusammen. Ausgehend von einem toten Jungen, der in einem Londoner Park gefunden wird, ermittelt das Duo aus DI William Bishop und der Profilerin Holly Wakefield. Die beiden waren mir aus dem ersten Teil „Dark Call“ schon bekannt. Und natürlich bleibt es nicht bei einem verschwundenen und getöteten Jungen, mehr möchte ich zur Geschichte an sich aber gar nicht verraten.
Nachdem ich den Vorgängerband schon kannte, habe ich mich sehr auf das Buch gefreut und ich wurde nicht enttäuscht. Aber dieses Buch kann man auf jeden Fall auch problemlos lesen, ohne Teil 1 zu kennen, die wenigen Kenntnisse, die man (mehr oder weniger) braucht, bekommt man im Laufe der Geschichte mit. Ich fand das Buch von der ersten Seite an spannend und gut geschrieben. Die beiden verschiedenen Handlungsstränge aus Ermittler- und Täterseite machten die Geschichte interessant und luden zum Knobeln und Mit-Ermitteln ein. Vor allem, dass der Täter generell nur als „der Mann“ bezeichnet wird, steigerte bei mir die Spannung enorm.
Die Charaktere sind bildhaft gezeichnet und ich fand sowohl Holly als auch DI Bishop wieder gelungen beschrieben und in all ihren Eigenheiten und Eigenarten sympathisch und authentisch. Auch der psychopatische aber extrem schlaue Täter ist gut beschrieben. Der Schreibstil des Autors ist flüssig und gut zu lesen, auch die Übersetzung ist sehr gelungen. Einzig die Stelle „Ein Anruf aus dem Krankenhaus – eine kurze Mitteilung, dass alles so weit in Ordnung sei und in ihrem Blut bislang weder HIV- noch Hepatitis-C-Antikörper festgestellt wurden“ – die Blutuntersuchung fand etwa vier Stunden nach Hollys Kontakt mit einer Spritze statt. Natürlich gibt es da noch keine Antikörper, bis die feststellbar sind, vergehen Wochen. Der Spannungsbogen war für mich fast konstant hoch, in der Mitte sind ein paar eher unspannende Längen, aber das wird durch ein extrem rasantes Finale mit einem eher überraschenden (aber durchaus schlüssigen) Schluss wieder wettgemacht. Alles in allem hat Mark Griffin mit dem Buch einen würdigen Nachfolger zum ersten Teil abgeliefert, den ich nur allzu gern weiterempfehle. Von mir daher 5 Sterne.

Bewertung vom 22.09.2020
Kunst und Verbrechen (eBook, ePUB)
Koldehoff, Stefan; Timm, Tobias

Kunst und Verbrechen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Kunst und Verbrechen“ von Stefan Koldehoff und Tobias Timm ist ein interessantes Buch, sowohl über die Welt der Kunst, als auch über die Welt der Kunstfälschung und der Kunstdiebstähle. Was treibt Menschen an, Kunst zu stehlen, zu fälschen und gefälschte Kunst zu verkaufen und zu kaufen? Das Autorenduo geht diesen Fragen anhand von Beispielen nach.
Museumsdiebstähle (der Raub zweier Gemälde aus dem Munch-Museum in Oslo 2004, der Diebstahl der Mona Lisa Anfang des 20. Jahrhunderts oder der der 100-kg-Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum 2017) nennen die Verfasser ebenso, wie bekannte Fälschungen von Gemälden, Büchern oder Drucken und das Problem mit gefälschten Provenienzen. Insgesamt ist das Buch sehr facetten- und detailreich, manchmal spannend wie ein Krimi geschrieben, manchmal etwas trocken und spröde. Eine gute Mischung aus Hintergrundwissen und „true crime“-Geschichten.
Alles in allem scheint der Kunstmarkt zwar integer zu sein, aber schwarze Schafe gibt es immer. Natürlich sind letztere wesentlich interessanter für die breite Öffentlichkeit. Der Wert von Kunstwerken wird dadurch bestimmt, was jemand bereit ist, für sie zu bezahlen – und das sind teilweise unfassbar hohe Summen (250 Millionen Dollar für Paul Cézannes „Die Kartenspieler“, 300 Millionen Dollar für Paul Gauguins Bild „Nafea Faa Ipoipo“ (auf Deutsch: Wann heiratest du?) oder 450 Millionen Dollar für das Leonardo da Vinci zugeschriebene Christusbild „Salvator Mundi“, obwohl bei letzterem die Echtheit bis heute nicht bestätigt ist). Kritisch beleuchtet wird von den Autoren nicht nur die Räuber- und Fälscherseite im Kunsthandel, sondern selbstverständlich auch die Rolle der Auftraggeber, seien dies nun Diktatoren oder neureiche Industrielle, wobei man am Verdacht der Geldwäsche in diesem Zusammenhang nicht vorbeikommt.
Stilistisch ist das Buch trotz der eher journalistisch-deskriptiven Schreibe gut und flüssig zu lesen, es ist sauber und gründlich recherchiert und die Aufbereitung des Themas ist den Autoren sehr gut gelungen. Natürlich kommt man bei einem Buch dieser Art nicht ohne Fachbegriffe aus, daher ist es vermutlich eher für den interessierten und vorgebildeten Leser gedacht und geeignet. Ohne gewisse Vorkenntnisse (oder den Willen, selbst Fachbegriffe und „Insiderwissen“ zu recherchieren) wird man an diesem Buch wenig Freude haben. Da ich in der Oberstufe einen sehr guten Kunstlehrer hatte, sind mir die meisten Begriffe geläufig gewesen, ebenso hatte er damals schon mein Interesse an Kunst geweckt. Daher fand ich das Buch extrem interessant, teils sogar spannend und auf jeden Fall lesenswert. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 21.09.2020
Gutenachtgeschichten für alle, die sich vor Populisten gruseln
Heritage, Stuart

Gutenachtgeschichten für alle, die sich vor Populisten gruseln


ausgezeichnet

Aktuelles Zeitgeschehen, satirisch in Märchenform gebracht. Beste Unterhaltung für alle, die kritisch durchs Leben gehen.

Ein Märchenbuch für Erwachsene, so wird „Gutenachtgeschichten für alle, die sich vor Populisten gruseln“ von Stuart Heritage angepriesen. Aber tatsächlich verbirgt sich hinter dem Buch viel mehr. Eine satirische Aufarbeitung aktueller (politischer und gesellschaftlicher) Ereignisse, kunstvoll verwoben mit Märchen und Sagen. Ob nun „Hänsel und Gretel“, den „Drei kleinen Schweinchen“, „Pinocchio“ oder „Rumpelstilzchen“ – der Autor schmeißt alles mit Persönlichkeiten wie Boris Johnson, Donald Trump und Mark Zuckerberg in einen Topf, kräftig durchrühren und fertig sind ganz tolle Märchen für Erwachsene. Und alle gehen gut aus. Naja, vielleicht nicht für jeden. Ein kleiner Spoiler: Boris Johnson, ein „wahrlich ein eigentümliches Wesen: Es sah aus wie eine aus Resten eines Sperrmüllsofas zusammengeklebte Puppe, gekrönt mit einer absonderlichen blonden Perücke“, wird von den Bären aufgefressen, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten.
Aber sonst gehen die Geschichten alle gut aus. Die Autoindustrie besinnt sich eines Besseren und produziert nur noch emissionsfreie Autos, alles Plastikmüll und der Müll, der durch Marie Kondos „Aufräumwut“ entstanden ist, verschwindet und selbst Donald Trump und Konsorten machen plötzlich das Richtige. Mansplaining, fragile Männlichkeit und Diskriminierung dürfen natürlich nicht fehlen. Und natürlich fehlt auch der Brexit und der Seitenhieb auf David Cameron und sein Referendum nicht, schließlich ist der Autor Brite und als Kolumnist für große Britische Zeitungen tätig. Er schreibt flüssig, bissig und seine Geschichten machen sehr nachdenklich.
Im Original heißt das Buch „Bedtime Stories for Worried Liberals“ und die Geschichten sind überwiegend britisch geprägt (bis auf den „Facefänger von Hameln“, der natürlich in Deutschland spielt). Aber das tat meiner Lesefreude keinen Abbruch. Die Übersetzerin hat meiner Meinung nach hervorragende Arbeit geleistet. Den Wortwitz des Autors und die sprachlichen Feinheiten hat sie ganz toll umgesetzt. Meine Hochachtung davor!
Alles in allem fand ich das Buch wirklich lesenswert für jeden, der kritisch gegenüber Politik und manchen Aspekten der Gesellschaft eingestellt ist. Von mit 5 Sterne.

Bewertung vom 18.09.2020
Das Abenteuer beginnt / Flüsterwald Bd.1
Suchanek, Andreas

Das Abenteuer beginnt / Flüsterwald Bd.1


ausgezeichnet

Ein ganz zauberhaftes Buch für junge und ältere Leser
„Flüsterwald“ heißt der erste Band der neuen Serie von Andreas Suchanek. Eigentlich ist es eher ein Buch für Kinder ab 9 Jahren, zum Selber- oder Vorlesen, aber auch mich als etwas reiferes Kind war das Buch eine absolute Lesefreude.
Lukas zieht mit seiner Familie nach Winterstein. Zuerst begeistern ihn weder das neue Haus noch der Ort, in den sie da gezogen sind, da kann die Mutter (eine Psychologin) das hundertmal „idyllisch“ finden. Aber das ändert sich, als er in der ersten Nacht von einem koboldartigen Wesen geweckt wird, das mit einem Sack voller Diebesgut durch sein Zimmer schleicht. Lukas verfolgt ihn und öffnet mit seinem Betreten des Waldes hinter dem Haus die Tür zu einer verbotenen und verborgenen Welt. Einer Welt voller Elfen, Menoks, Warks, Bolden und einigen anderen zauberhaften Wesen. Damit beginnt für ihn ein märchenhaftes Abenteuer, auf das er seine Leser mitnimmt.
Von der ersten Seite an hat das Buch mich gepackt, ich habe es in einem Rutsch durchgelesen. Die Charaktere fand ich klar und gut beschrieben, jeder hat seine Eigenheiten. Und die magische Welt, in die Lukas eintaucht, fand ich einfach nur ganz toll. Dort ist die Nacht der Tag, Bücher sprechen und haben Gefühle und (sicher für viele sehr interessant) Putzzeug putzt selbst! Autoren schreiben ihre Bücher im Schlaf, dafür darf man Bücher auch nur zu bestimmten Zeiten lesen. Die Idee des Autors fand ich (neben vielen anderen) ganz besonders toll: „»Eure Bücher können sprechen? Und nur innerhalb der Öffnungszeiten gelesen werden?«
»Natürlich«, sagte Rani. »Sie brauchen ja auch mal Ruhe. Habt ihr keine Gesetze, die das regeln?«
»Nein. Wir lesen, wann wir wollen.«
Felicitas starrte ihn entsetzt an. »Die armen Bücher.«“
Sprachlich fand ich das Buch teils sehr leicht und flüssig zu lesen, teils aber etwas kompliziert. Wörter wie „Foliant“ oder „illuminiert“ gehören sicher nicht zum Wortschatz jedes Kindes. Bei anderen Wörtern ist es dem Autor wohl selbst klar, „Wenn Elfen wütend werden, setzen sie ihre Magie durchaus auch offensiv ein (Lukas nahm sich vor, dieses Wort nachzuschlagen)“. Beim Vorlesen können die Eltern es ihren Kindern erklären, selber lesende Kinder müssen vermutlich nachfragen. Etwas irritiert hat mich, dass die Figuren, die die Mutter sammelt, aus Bimsstein waren. Bims wird eher selten für Figuren verwendet. Und auch den Satz „Aufschreiend ging Lukas zu Boden“ fand ich etwas holprig. Aber das ist von meiner Seite Meckern auf hohem Niveau.
Denn alles in allem fand ich das Buch ganz toll, freue mich schon jetzt, dass im Februar der zweite Teil erscheinen soll und vergebe 5 Sterne und eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2020
Herzfaden
Hettche, Thomas

Herzfaden


ausgezeichnet

Ein Buch, das direkt ins Herz geht – die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und noch vieles mehr
Als Kind 1970er bin ich mit den Stücken der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen. Ob nun „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ oder „Urmel aus dem Eis“ – die Stücke waren ein Teil meiner Kindheit. In seinem Buch „Herzfaden“ hat Thomas Hettche die Geschichte der Augsburger Puppenkiste mit der Geschichte ihrer Begründer verflochten, lässt sie die (verstorbene) Hannelore (Hatü) Oehmichen selbst erzählen. Sie erzählt sie auf dem Dachboden ihres Theaters einem 12jährigen Mädchen, das sich dahin verlaufen hat.
So erzählt die Tochter des Theatergründers Walter Oehmichen von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, der Begeisterung ihres Vaters für Marionetten und wie sie selbst während der Kinderlandverschickung ihre erste Marionette geschnitzt hat. Sie berichtet über die Anfänge des Theaters nach dem Krieg, den ersten Stücken, die die Truppe aufgeführt hat und wie daraus Filme fürs Fernsehen wurden. Das Mädchen, das namenlos bleibt, erzählt von der Scheidung ihrer Eltern, ihrer Traurigkeit und Angst und dem Gefühl der Verlorenheit. Zu Wort kommen auch Prinzessin Li Si, das Urmel, der kleine Prinz und viele weitere Marionetten, nicht zuletzt der Kasper, Hatü Oehmichens erste selbst geschnitzte Marionette.
Der Leser erfährt im Verlauf der Geschichte nicht nur sehr viel über die Augsburger Puppenkiste, sondern auch um das Drumherum. Es ist die Zeit des Zweiten Weltkrieges, Bomben fallen, Menschen werden verwundet oder sterben, andere verschwinden von heute auf morgen und kommen nie zurück. Familien verlieren Väter, Söhne, Brüder, ihr Zuhause, ihre wirtschaftliche Grundlage. So ging es auch Familie Oehmichen, der Vater hatte als ehemaliger Landesleiter der Reichstheaterkammer große Probleme, entnazifiziert zu werden und durfte lange nicht arbeiten. Aber seine Hingabe zum (Marionetten)Theater blieb und er schuf erst den Puppenschrein, der 1944 bei einem Bombenangriff zerstört wurde, und später die Puppenkiste.
Das Buch ist eine sehr gekonnte Mischung aus Fakten und Fantasie, eine Art sehr schön erzähltes Märchen. Die Sprache, derer sich der Autor bedient ist bildhaft, die Passagen, in denen Hatü erzählt, sind in eher altmodischeren Worten, die „Kinder-Passagen“, aus Sicht des Mädchens, moderner. Da darf natürlich auch das iPhone nicht fehlen, obwohl ich mich beim Lesen gefragt habe, ob es denn explizit als solches erwähnt sein musste, und ob es nicht ein „Smartphone“ getan hätte.
Puppentheater ist kein Kinderkram, sondern kann durchaus auch für Erwachsene eine echte Bereicherung sein. Walter Oehmichen unterhielt an der Front Kameraden mit Stücken, die er mit Marionetten spielte. „„Als der Krieg vorbei war, sagte ich mir: Je stärker ich die Menschen aus dem Elend entführen kann, desto mehr helfe ich ihnen.““ Außerdem ist die Uneitelkeit im Puppentheater etwas, über das ich selbst vorher noch nie nachgedacht habe. „„Wir Marionettenspieler verschwinden im Dunkeln. Ich werde eure Namen nicht im Programmheft nennen. Wir werden reinschreiben, wer die Bühne gebaut, wer die Kostüme genäht, wer die Puppen geschnitzt und wer die Musik gemacht hat, aber die Sprecher und Puppenführer werden nicht genannt. Es geht nur um die Geschichte.““
Nicht genannt wird auch der Name des Mädchens, der die Geschichte erzählt wird. Es bleibt anonym, trotzdem ist es für die Geschichte unverzichtbar. Der „Herzfaden“, der dem Buch seinen Namen gibt, war für Oehmichen der Faden „zwischen der Marionette und dem Zuschauer, auf den es ankommt“. Mich hat die Geschichte gefesselt und ich konnte das Buch bis zum letzten Wort nicht aus der Hand legen. Es ist für mich zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Von mir 5 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.09.2020
Hamster im hinteren Stromgebiet / Alle Toten fliegen hoch Bd.5
Meyerhoff, Joachim

Hamster im hinteren Stromgebiet / Alle Toten fliegen hoch Bd.5


ausgezeichnet

Ich muss gestehen, ich kannte vorher weder Joachim Meyerhoff noch seine autobiografische Serie „Alle Toten fliegen hoch“ – trotzdem habe ich mich auf sein neuestes Buch „Hamster im hinteren Stromgebiet“ sehr gefreut, denn der Klappentext hat mich stark angesprochen. Daher kann ich das Buch, das der fünfte Teil der Reihe ist, nur alleine und nicht im Kontext der Serie betrachten.
„Ich überlegte, ob ich lieber einen Herzinfarkt gehabt hätte. Irgendwie schon, befand ich, da das Herz doch einfach eine Pumpe ist und lange nicht so geheimnisvoll wie das Gehirn. Bekommt man halt drei Stents und weiter geht’s.“ - so war es dann aber nicht. Mit 51 Jahren hatte Joachim Meyerhoff einen Schlaganfall. Ohne Vorwarnung war seine linke Körperhälfte plötzlich „wie wegradiert“ und wird zu „tauber Materie“. Seine Erlebnisse hat er in seinem neuesten Buch launig, aber auch sehr nachdenklich aufgearbeitet. Dabei verknüpft er gekonnt die Zeit nach dem Schlaganfall mit Episoden aus seiner Vergangenheit, was mir, der ich weder ihn, noch seine anderen Bücher kannte, das Verständnis enorm erleichterte.
Alles in allem hat mich das Buch sehr überrascht. Meyerhoffs Herangehensweise, sein Umgang mit dem Schlaganfall hat mich beeindruckt. So ist sein Buch eine Mischung aus Humor, Galgenhumor und sehr ernsten Gedanken. Lustig fand ich zum Teil auch die abenteuerlichen Wege, auf die sich seine Gedanken gemacht haben. „Was mich allerdings befremdete, war nicht so sehr die Tatsache, dass ich fünfzig geworden war, sondern dass viele, wenn nicht sogar alle meine Körperteile und Organe ebenfalls dieses Alter erreicht hatten. Auch meine Nieren, meine Lunge, meine Leber, ja sogar mein Gehirn waren jetzt fünfzig. Der Gedanke an meine fünfzig Jahre alten Pobacken erfüllte mich mit Schrecken.“ Vor allem in den schlaflosen Nächten wanderten seine Gedanken in die Vergangenheit. So schreibt er über seinen Bruder, der mit 21 Jahren starb, seine drei Kinder und Reisen, die er unternommen hat, unternimmt nachts im Krankenhaus „Weltreisen auf engstem Raum“. „Vielleicht war an Reisen zu denken ein probates Mittel, meine Ängste zu domestizieren, überlegte ich und trank einen Schluck kalten Früchtetee, der wie verflüssigte Depression schmeckte.“
Das Inhaltsverzeichnis irritierte mich zuerst sehr. Aber tatsächlich passen die wirren Fragmente als Überschriften dann ganz hervorragend zu den Kapiteln und auch der kryptisch anmutende Titel klärt sich auf. Und sowohl Kapitel als auch Titel schaffen ganz klar eines: Neugierde auf das Buch! Das Buch selbst ist eine Mischung aus Autobiografie und, wenn man so will, einer Art Abenteuerroman. Denn die Erlebnisse des Autors im Krankenhaus bzw. der Stroke Unit, sind tatsächlich zum Teil abenteuerlich. Die Sprache ist detailgetreu bildhaft und fast poetisch, und, obwohl es manchmal etwas kompliziert geschrieben ist, fand ich das Buch ganz hervorragend zu lesen. Manche Gedankengänge brachten mich (trotz der eigentlichen Dramatik der Geschichte – immerhin ist ein Schlaganfall kein Schnupfen) heftig zum Lachen. Andere hinterließen mich sehr nachdenklich. „Wann war uns das Staunen über den Fortschritt abhandengekommen? Und wann, fragte ich mich, war die Dankbarkeit darüber, dass Dinge funktionierten, zum bloßen Anspruch verkommen?“ Der Autor kommt mit seinen Gedankenwanderungen ganz schön rum, aber bevor er den roten Faden verliert, findet er immer wieder zurück zum eigentlichen Thema. Da er in einem österreichischen Krankenhaus lag, schreibt er bisweilen auf Österreichisch. Manche Sätze habe ich mir (zur Verwirrung meines Umfelds) laut vorgelesen, dann hatte ich (als gebürtiger Schwabe) aber kein Problem mehr, Sätze wie „Ist die linke Seite noch sehr bamstig?“ zu verstehen. Mich hat das Buch also trotz des ernsten Themas hervorragend unterhalten und ich vergebe 5 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.09.2020
Von hier bis ans Meer
Cazon, Christine

Von hier bis ans Meer


sehr gut

Als Christine Cazon auf WDR4 in einem Interview Werbung für ihr neues Buch „Von hier bis ans Meer“ machte, habe ich es mehr zufällig gehört. Und so habe ich es direkt im Anschluss an ihr Buch „Zwischen Boule und Bettenmachen“ gelesen.
In ihrem neuen Buch schlägt Christine Cazon sehr persönliche Töne an. Sie schreibt ganz offen darüber, was die Gründe für ihr Sabbatjahr in Frankreich waren, erzählt über Depressionen, Burn-out und Ess-Störungen, über private und berufliche Höhen und Tiefen. Und natürlich schreibt sie über ihre erste Zeit in Frankreich und die Probleme, die sie mit der neuen Heimat hatte. Mutig, dass sie sich mit eher eingestaubten Französischkenntnissen auf dieses Unterfangen eingelassen hat! Sie schreibt über Verlust, Ausgrenzung und über Liebe, die sie in Frankreich gleich zweimal gefunden hat. Außerdem hat sie sich als Autorin und Erfinderin des Krimikommissars Léon Duval einen Namen gemacht und dadurch als Schriftstellerin Fuß fassen können.
Es ist ein persönliches Buch mit vielen sehr intimen Einblicken in ihr Leben und ihre Seele, ein Buch über die Suche nach dem Glück. Wie in „Zwischen Boule und Bettenmachen“ beschreibt die Autorin auch in diesem Buch die kulturellen Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland und wie selbstverständlich von ihr erwartet wurde, sich anzupassen. Sei es beim feiertäglichen Kochen für die ganze Familie oder die Tatsache, dass in Frankreich Paare immer gemeinsam auftreten – daran musste sie sich gewöhnen und tat sie es nicht, bekam sie ein „On est en France“ zur Antwort. In manchem setzte sie sich durch (sowohl sie, als auch ihr Mann „dürfen“ manchmal etwas alleine unternehmen, ohne, dass sofort von Trennung gemunkelt wird), in manchem passte sie sich an. Und inzwischen kann sie sowohl französisch sprechen, als auch kochen.
Stilistisch ist das Buch locker und flüssig zu lesen, lustig finde ich, dass sie ihren Mann im Buch immer nur „Monsieur“ nennt. Allerdings, so perfektionistisch die Autorin sonst wohl ist, so wenig ist sie es bezüglich Rechtschreibung und Zeichensetzung. Groß- und Kleinschreibung und Kommas stimmen manchmal nicht ganz, auch bei einem französischen Zitat hörte ich meinen Franszösischlehrer ob meines ständigen Fehlers aufstöhnen („Tu n’a pas de choix!“, da braucht das Verb ein „s“). Aber abgesehen davon hat die Autorin ein unterhaltsames, tiefgründig-nachdenkliches Buch über (Nachkriegs-)Völkerverständigung, Culture-Clash, Liebe, Schwiegermütter (die man in Frankreich höflich siezt) und die Suche nach dem Glück. Ob sie inzwischen ihr Glück gefunden hat? Vielleicht nicht, aber das Buch beschreibt mit einer Prise Selbstkritik und Selbstironie eine Frau, die sich selbst und eine Art innere Zufriedenheit gefunden hat, und das ist ja auch viel wert. Von mir dafür 4 Sterne.

Bewertung vom 15.09.2020
Zwischen Boule und Bettenmachen
Cazon, Christine

Zwischen Boule und Bettenmachen


gut

2005 nahm sich Christine Cazon ein Jahr Auszeit. In ihrem Sabbatical wollte sie zur Ruhe kommen und sich neu finden, so verwirklichte sie ihren Traum und zog nach Frankreich. In ihrem Buch „Zwischen Boule und Bettenmachen“ beschreibt sie, was sie in der Zeit erlebte und vor allem, wieso sie nach dem einen Jahr (außer zu Besuchen) nicht mehr zurück nach Deutschland kam. Am Ende der Kapitel spricht sie die Leser oft direkt an, was deutlich macht, dass ihr erstes Buch kein zusammenhängender Roman ist, sondern eine Zusammenstellung aus kleinen Geschichten und Blogbeiträgen, die sie in ihrer ersten Zeit in Frankreich verfasst hat.
Sie beschreibt, wie sie sich an Land, Leute, und vor allem die Sprache, angenähert und gewöhnt hat. Daran, dass zweimal am Tag gekocht wird, dass Essen in Gesellschaft wirklich so sind, wie in französischen Filmen und natürlich die Sache mit den Küssen, den bises. Zwar ist das Buch auf Deutsch, es ist aber hilfreich, wenn man Französisch wenigstens in den Grundzügen beherrscht, denn manches ist im Buch nicht übersetzt.
Alles in allem ist das Buch leicht zu lesen, manchmal etwas zu seicht für meinen Geschmack und auch manche Formulierungen fand ich eher holprig und unpassend. „Und ich esse – seit wie vielen Jahren wieder? – süße Kirschen direkt vom Baum in den Mund.“ – natürlich, wohin denn sonst? Auch für den Mammutsatz „Immerhin gibt es Milka Alpenmilch-Schokolade in einem ansonsten zartbitter dominierten Frankreich, zwar nicht immer und überall, aber selbst in Guillaumes kriege ich sie hin und wieder, bin aber wohl die einzige Kundin, ich sehe den Bestand abnehmen, genau so wie ich die Schokolade kaufe, immer zwei Tafeln weniger.“, hätte es eventuell eine leserfreundlichere Alternative gegeben. Und auf das Bild des abgetrennten Schweinekopfes hätte ich wirklich gut verzichten können.
Aber sonst war das Buch unterhaltsam, an manchen Stellen auch ziemlich lustig. Auf jeden Fall ist es die Geschichte einer mutigen Frau, die auf der Suche nach sich selbst oft über ihren Schatten springt. Schon allein die Tatsache, dass sie trotz Tierhaar-Allergien auf einem Bauernhof arbeitet, ringt mir wirklich Bewunderung ab.
Das Buch kommt allerdings nicht wirklich über den Unterhaltungsroman hinaus, anders, als der Titel erwarten lässt, beinhaltet das Buch eher wenig Bettenmachen und noch viel weniger Boule. Als jemand, der selbst mit Schulfranzösisch so seine Probleme hatte, fand ich ihre sprachlichen „Fehltritte“ amüsant, beispielsweise den mit den „drei kleinen cerveaux“, die nämlich keine drei kleinen Hirsche, sondern drei kleine Gehirne sind. Und auch die Lautschrift, in der sie ihrem Mann ihre Telefonnummer auf Deutsch aufgeschrieben hat, fand ich richtig gut. So war das Buch zwar anders, als ich es erwartet hatte und die Autorin schöpft das Potenzial leider nicht voll aus. Aber dennoch von mir 3 Punkte.