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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 30.06.2020
Sweetest Fruits
Truong, Monique

Sweetest Fruits


weniger gut

Heimatloser Literat

In ihrer literarischen Biografie «Sweetest Fruits» erzählt die in den USA lebende Schriftstellerin Monique Truong vom wechselvollen Leben des irisch-griechischen Reiseschriftstellers Lafcadio Hearn. Die erste Biografie über ihn erschien schon 1906, zwei Jahre nach dem Tod des 54jährigen Journalisten, geschrieben von Elisabeth Bisland, die damals insbesondere durch ihr spektakuläres Wettrennen auf den Spuren von Jules Vernes rund um die Welt bekannt war. Aus dem zweibändigen Werk dieser amerikanischen Journalistin über ihren Freund und Kollegen Hearn werden, als Zwischenberichte quasi, den drei fiktionalen Teilen des Romans jeweils einige Seiten mit Zitaten beigefügt, wodurch ein authentisches Erzählgerüst entsteht.

Monique Truong erzählt aus den Perspektiven dreier Frauen vom Leben ihres Helden, beginnend auf einer griechischen Insel, wo Rosa ihrem bedrückenden Leben durch die Ehe mit einem dort stationierten irischen Stabsarzt zu entkommen sucht und mit ihm nach Dublin geht. Als die Ehe scheitert, lässt sie notgedrungen ihren kleinen Sohn Patricio in der Obhut der Familie und kehrt mittellos auf ihre Insel zurück. Im zweiten Teil erzählt Alethea, eine ehemalige Sklavin, die in einer billigen Pension als Köchin arbeitet, wie sie Patricio Hearn als Gast kennenlernt. Er war nach seiner Schulzeit in Irland von den Verwandten, die ihn großgezogen hatten, mittellos nach New York geschickt worden, hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und später in Cincinnati eine schlechtbezahlte Stelle als Journalist gefunden, der Anfang seiner literarischen Karriere. Alethea heiratet Pat, wie sie ihn nennt, aber die Ehe hält nur drei Jahre, ehe Hearn sich schließlich in Richtung New Orleans absetzt und sich scheiden lässt. Das Paar hat nur noch sporadisch Briefkontakt, zuletzt kommt ein Brief aus Martinique, wo der Weltenbummler inzwischen wohnt. Setsu, die Tochter eines Samurai, erzählt im dritten Teil schließlich, wie sie in der japanischen Hafenstadt Matsue den Englischlehrer Patrick Hearn kennenlernt, der sie heiratet, japanischer Staatsbürger wird und den Namen Yakumo annimmt. Sie haben vier Kinder miteinander, Hearn schreibt mehrere Bücher und wird Professor an der Universität von Tokio.

Es sind ganz unterschiedlichen Frauen, die diesen Globetrotter und Literaten porträtieren, wobei Monique Truong ihnen eine stilistisch jeweils ganz eigene Stimme verleiht. Rosa, die Mutter Hearns, diktiert auf dem Schiff einer Mitreisenden ihre Geschichte von der frühen Kindheit ihres Sohnes. Alethea, die gutgläubige Analphabetin, erzählt im Interview der Biografin naiv von ihrer Ehe, die letztlich scheiterte, als ihr Mann seine Stellung verlor, weil er mit einer Farbigen verheiratet war. Setsu schließlich rekapituliert nach dem Tod ihres Mannes sprachlich blumig in Du-Form das unstete Leben mit Hearn. Die auf drei Kontinenten lebenden Frauen offenbaren dabei mehr über sich selbst als über den Romanhelden. Sie hatten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen, die nicht nur sexistischer Art waren, auch gesellschaftliche Unterdrückung, Standesdünkel und Rassenhass trübten ihr Leben. Hearn selbst bleibt als Figur seltsam farblos, er war nach einem Unfall als Kind auf einem Auge fast blind, liebte die Natur über alles und verabscheute das hektische, moderne Leben, dessen dunkle Seiten er als Journalist bestens kannte, über das er immer wieder seine Reportagen schrieb.

Die fraktionelle Erzählweise des Romans eröffnet einerseits interessante Perspektiven, erfordert aber auch die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Der sieht sich zudem vielen fremdsprachigen Begriffen gegenüber, mit denen er mangels Register allein zurechtkommen muss. Es sind drei liebende Frauen, die diesen Roman prägen, die Kinder aber sind es letztendlich, die als «Süßeste Früchte» den Lebensbaum veredeln. Sie stehen auch für Beständigkeit als Gegenpol zum unsteten Leben eines heimatlosen Literaten.

Bewertung vom 25.06.2020
Der Russe ist einer, der Birken liebt
Grjasnowa, Olga

Der Russe ist einer, der Birken liebt


gut

Seelisches Chaos

Die in Baku geborene, jüdische Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die 1996 als Zwölfjährige in Folge des Berg-Karabach-Konflikts mit den Eltern nach Deutschland emigrierte, verarbeitet in ihrem 2012 erschienenen Debütroman mit dem ironisch gemeinten Titel «Der Russe ist einer, der Birken liebt» eigene Lebenserfahrungen. Ihre autobiografisch inspirierte Protagonistin leidet nicht nur unter den Traumata der ethnischen Kämpfe in dieser krisengeschüttelten Kaukasus-Region, sie ist zudem von den latenten Problemen der Migranten in Deutschland betroffen und letztendlich auch noch von der Dauerkrise vieler multikultureller Gesellschaften, hier am abschreckenden Beispiel Israels.

Maria Kogan aus Aserbaidschan hat nach anfänglichen sprachlichen Problemen in der deutschen Schule ihr besonderes Talent für Fremdsprachen entdeckt und sich für ein Dolmetscher-Studium entschieden. Die hochbegabte Mascha, wie ihre Freunde sie nennen, erhält diverse Auslandsstipendien, und ehrgeizig wie sie ist strebt sie mit ihrem exzellenten Studienabschluss eine Anstellung bei der UNO an, wo ihr eine glanzvolle Karriere winkt. Die emanzipierte junge Frau wohnt mit ihrem deutschen Freund Elias in dessen Wohnung in Frankfurt, - es ist für Beide die große Liebe. Als er sich bei einem Fußballspiel das Bein bricht, entwickelt sich aus dieser Verletzung eine ernsthafte Erkrankung, bis Elias schließlich qualvoll an einer Sepsis stirbt. Verzweifelt flieht Mascha daraufhin nach Israel und nimmt dort eine deutlich unter ihrer Qualifikation liegende Stellung bei einer NGO an.

Nach dieser Zäsur, mit der sie ihre schwere emotionale Krise zu überwinden hofft, holt sie ihre Vergangenheit in voller Härte wieder ein. Die Pogrome in Baku, die sie als Kind miterleben musste, haben bisher tief verdrängte Traumata in ihr Bewusstsein zurückgerufen, und auch ihre jüdische Herkunft wird in Israel mit seinen unversöhnlichen ethnischen und religiösen Gegensätzen plötzlich zu einem handfesten Problem für sie. Ihre verzweifelte Identitätssuche erweist sich für die entwurzelte Frau als äußerst schwierig. Sie ist nicht mehr bindungsfähig, nach einer kurzen Affäre mit einem palästinensischen Soldaten kann sie auch zu ihrer politisch engagierten, lesbischen Freundin keine dauerhafte Beziehung mehr aufbauen. Der tote Elias beherrscht ihr ganzes Denken, sie macht sich sogar Vorwürfe, ihn nicht aufmerksamer gepflegt und die gesundheitliche Krise nicht rechtzeitig bemerkt zu haben. Von solchen Selbstzweifeln geplagt zeigen sich bei ihr schließlich physische Symptome, völlig appetitlos magert sie ab, wird von Beruhigungstabletten abhängig und erleidet schließlich einsam und hilflos einen Nervenzusammenbruch.

Es ist nicht nur der alltägliche Wahnsinn des von Gewalt beherrschten Staates Israel, dieser ewige Tanz auf dem Vulkan, mit dem die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans an ihrem vermeintlichen Zufluchtsort auf Schritt und Tritt konfrontiert wird. Olga Grjasnowa berichtet mit scharfem Blick für Details auch von den menschlichen Schwächen ihrer verschiedenen Figuren. Ihre Beschreibungen der absurd scheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse an beiden Handlungsorten, - in Deutschland mit seiner hysterischen Fremdenangst und in einem von religiösem Wahn beherrschten Israel -, werden temporeich und sprachlich schnörkellos in einem sachlichen, nüchternen Stil erzählt. In kurzen Sätzen werden hier, illusionslos und aus der Innensicht, kosmopolitische Multikulti-Fantasien als solche entlarvt. Denn hartnäckig erweist sich letztendlich immer die menschliche Natur mit ihren unausrottbaren Ressentiments als entschieden stärker. Es ist alles ein wenig zu dick aufgetragen, was sich in diesem Roman an Katastrophen ereignet, wobei die auch im Klappentext angedeutete, schreckliche Hasenszene ganz besonders hervorsticht. Narrativ eigensinnig wird hier von einer toughen jungen Frau berichtet, die in einer pseudo-globalen Welt an ihrem seelischen Chaos scheitert.

Bewertung vom 23.06.2020
Scherbengericht
Kratochwil, Germán

Scherbengericht


weniger gut

Konfuses narratives Gemenge

Der in Österreich geborene und seit seiner Kindheit in Argentinien lebende German Kratochwil gehört zu den spät Berufenen, mit seinem Romandebüt «Scherbengericht» schaffte es der damals 74Jährige auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012. Inzwischen sind zwei weitere Romane von ihm erschienen, die ebenfalls im Milieu europäischer Einwanderer in Patagonien angesiedelt sind. Deren thematische Gemeinsamkeit bildet das Schicksal eben jener Migranten vor einer großartigen Naturkulisse, - eine literarisch einmalige, österreichisch-argentinische Melange mithin.

Eine illustre, drei Generationen umfassende und teilweise jüdisch versippte Gesellschaft trifft sich am Tag nach der Jahrtausendwende unter dem prächtigen Lindenbaum eines malerischen Landgutes in Patagonien. Zusammen mit ihren Sommergästen wollen die eingewanderten Österreicher auf ihrem idyllischen Hof den neunzigsten Geburtstag einer Dame aus Wiener Patrizierkreisen feiern, die als Stammgast quasi schon mit zur Familie gehört. Der in mehreren Handlungssträngen auf dieses Fest zusteuernde Plot beginnt mit der Anreise des vor der Pensionierung stehenden Sohns der Jubilarin, der für eine internationale Organisation arbeitet. Er wird begleitet von seiner psychisch labilen Tochter, die soeben aus der Psychiatrie entlassen wurde. Sein missratener Sohn, ein ewiger Student, lebt in einer obskuren Sekte in der Nähe des Landgutes und wird zu Ehren seiner Großmutter als besonderes Spektakel mit dem Gleitschirm direkt neben der Festtafel landen. Abwechselnd wird in Rückblenden aus dem Leben der verschiedenen Figuren erzählt, zu denen der gesundheitlich angeschlagene Gastgeber gehört, der seine Gäste immer wieder mit Propaganda-Phrasen des sprachlich täuschend ähnlich imitierten Fidel Castro erheitert. Und auch seine per Annonce aus Österreich herbei gelockte, immer lustige spätere Frau, die geradezu arbeitswütig Haus und Hof in Schuss hält und zudem als begnadete Köchin und Bäckerin gilt, gehört ebenso dazu wie ihr psychisch gestörter Sohn, den seine abartigen Tierquälereien sexuell erregen. Zu den jüdischen Gästen gehören auch ein Psychoanalytiker und ein Dentist, außerdem eine gute Freundin und der debile Verehrer der Jubilarin, dessen in tiefem Dunkel liegende Vergangenheit mit dem Namen Mauthausen verbunden ist.

Zweifellos ist German Kratochwil ein hervorragender Erzähler, der insbesondere mit seinen alle Sinne ansprechenden Naturbeschreibungen diesen Roman zu bereichern versteht. Grenzwertig erscheint allerdings die Überfülle an Motiven, Szenen und Geschehnissen seines Romans, der bedauerlich oft ins Klischee abgleitet, was schon bei der märchenhaft übertriebenen Schilderung des Landguts mit all seinen bäuerlichen Aktivitäten beginnt, alles beherrscht vom geradezu archetypischen Lindenbaum. Auch von Konflikten mit Indianern wird beispielsweise erzählt, die sich gegen eine Landnahme wehren, vom Whale Watching, vom Besuch in einem kitschigen Lady-Di-Museum, von einem dem Berghof auf dem Obersalzberg nachempfundenen Hotel, von dem samt Wassergraben und Zugbrücke burgartig angelegten Refugium exzentrischer Sektierer.

Aber auch viele andere Figuren dieser europäischen Migranten-Clique sind deutlich überzeichnet, ob das nun die grantelnde Wiener Jubilarin ist mit ihrer süßlichen Operetten-Seeligkeit oder die vor albernem Frohsinn ewig vor sich hinglucksende Gastgeberin. Da wird von heimlicher Homosexualität mit Strichjungen am Bahnhof berichtet, von Inzest unter Geschwistern, von Krebstod und Suizid, und auch die Politik spielt natürlich mit hinein, wenn ein junger Mann in den bürgerkriegsartigen Unruhen spurlos verschwindet. Der tragische Schlussakkord ist mit dem titelgebenden «Scherbengericht» völlig unzutreffend beschrieben. Es werden hier zwar die Schatten der Vergangenheit ans Licht geholt, ohne indes mit einer nachvollziehbaren inneren Logik überzeugen zu können, zu konfus ist leider das maßlos überfrachtete narrative Gemenge.

Bewertung vom 19.06.2020
Hundert Jahre Einsamkeit
García Márquez, Gabriel

Hundert Jahre Einsamkeit


ausgezeichnet

Literatur als Spöttelei

Geradezu als Definition des «Magischen Realismus» kann man «Hundert Jahre Einsamkeit» des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez bezeichnen. Dieser inzwischen kanonische Roman brachte seinem Verfasser den literarischen Durchbruch, prägte jahrzehntelang wie kein zweiter die südamerikanische Literatur und wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt, mit einer Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplaren. Die Jury in Stockholm verlieh dem Laureaten 1982 die begehrte Auszeichnung «für seine Romane und Erzählungen, in denen sich das Phantastische und das Realistische in einer vielfacettierten Welt der Dichtung vereinen, die Leben und Konflikt eines Kontinents widerspiegeln». Fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieser Roman 2017 in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen, ein guter Grund für mich, dieses komplexe Werk nach fast zwei Jahrzehnten nun erneut zu lesen!

Jose Arcadio Buendia, wegen Mordes vom schlechten Gewissen geplagt, zieht mit seiner Familie in eine abgelegene, sumpfige Region Kolumbiens und gründet dort, fernab jeglicher Staatsgewalt, das Dorf Macondo. Schon bald wird es von einer Gruppe fahrender Zigeuner entdeckt, zu der auch der geheimnisvolle Melchiades gehört, der zum besten Freund des Gründervaters wird. Viele Siedler folgen und lassen sich auch dort nieder, das einsame Dorf wächst, seine Wirtschaft prosperiert. Schließlich wird es gegen erbitterten Widerstand der Einwohner der staatlichen Verwaltung unterstellt und in die Republik eingegliedert. Damit werden die Bewohner auch in den Bürgerkrieg hineingezogen, wobei Oberst Aureliano Buendia, ein Sohn des Stammvaters, zum gefeierten militärischen Führer der liberalen Partei aufsteigt. Die wirtschaftliche Blüte des Dorfes wird mit dem Bau der Eisenbahn gefördert, die Ansiedlung eines nord-amerikanischen Bananen-Konzerns schließlich bringt viele neue Arbeitsplätze nach Macondo. Irgendwann aber offenbart sich die hässliche Fratze des Kapitalismus, streikende Arbeiter samt ihren Familien werden brutal von Maschinengewehren niedergemäht, die 3000 Opfer dieses Massakers in 200 Eisenbahnwaggons verladen und ins Meer versenkt. Nach Jahren endlosen Regens fällt das Dorf allmählich in Agonie, viele Bewohner verlassen den unwirtlichen Ort, die Häuser verfallen, der Dschungel wuchert alles zu. Am Ende schließlich gelingt es Aureliano, dem letzten Sprössling aus dem Buendia-Clan, justament in seiner ebenfalls vorausgesagten Todesstunde die Aufzeichnungen von Melchiades zu entschlüsseln, die das endgültige Verschwinden des Dorfes prophezeien.

Dieses wundersame Epos einer skurrilen Familie, allesamt Archetypen, wird in vielen Vor- und Rückgriffen über sechs Generationen hinweg als Allegorie auf die Geschichte Südamerikas erzählt. Das ausufernde Figurenensemble durchlebt grotesk überzeichnet das Auf und Ab des menschlichen Schicksals, Schwächen und Unzulänglichkeiten seiner Akteure entlarvend. Wie im Märchen werden Tote wieder lebendig, andere entschweben in den Himmel oder werden unsichtbar, die Frau des Dorfgründers wird 120 Jahre alt und ist beim Tod auf die Größe eines Säuglings zusammengeschrumpft. Aureliano schließlich, der letzte Buendia, zeugt mit seiner Schwester ein Kind, das mit einem Schweineschwänzchen als einst geweissagtem Menetekel zu Welt kommt und wie die Mutter kurz nach der Geburt stirbt.

Leitmotivisch durchzieht immer wieder ein Erschießungskommando als Spannung erzeugender, chronologischer Vorgriff die in vielen, üppig ausgeschmückten Episoden erzählte Geschichte. Mit seiner überbordenden Phantasie beschreibt Garcia Marquez sein psychedelisches Urwalddorf als eine schwermütige, beklemmende Welt voller Aberglauben und Mythen, in der dem einsamen Tod die Hauptrolle zufällt. Literatur, so wird sie an einer Stelle im Buch emblematisch beschrieben, sei «das beste Spielzeug, das man erfunden hatte, um sich über die Leute lustig zu machen». Eine zulässige Deutung auch für diesen Roman?

Bewertung vom 15.06.2020
Vor Rehen wird gewarnt
Baum, Vicki

Vor Rehen wird gewarnt


sehr gut

Ein Reh als Raubtier

Nicht der bekannteste Roman von Vicky Baum, aber zweifellos ihr bester ist «Vor Rehen wird gewarnt», erstmals 1951 in englischer Sprache erschienen und fünf Jahre später mit Maria Schell als grandioser Fehlbesetzung verfilmt. Denn der Titel des Romans ist ironisch gemeint, seine Protagonistin ist alles andere als ein sanftes Reh, das «Seelchen», so der Spitzname der braven ‹Schelle Marie›, konnte diese unredliche, kalt berechnende Romanfigur nicht glaubhaft verkörpern. Die 1932 in die USA emigrierte, während der Weimarer Republik höchst erfolgreiche österreichische Schriftstellerin war lange in Vergessenheit geraten. Zu ihrem 60ten Todestag wurde nun ihr anspruchsvollster Roman in einer leicht überarbeiteten Übersetzung neu herausgegeben und als erfreuliche Wiederentdeckung gefeiert. Mit Recht?

Angelica Ambros heißt das Reh, das gleich zu Beginn als dominante, 65 Jahre alte Dame bei einer Bahnreise Ende des Zweiten Weltkriegs ihr großes Talent zur Manipulation ihrer Mitreisenden eindrucksvoll unter Beweis stellt. Diese auf ein tragisches Ende hinsteuernde Bahnfahrt in Begleitung ihrer Stieftochter Joy dient als erzählerische Klammer des dreiteiligen Romans, der im Mittelteil in Rückblenden ihr Leben beschreibt. Am Ende eben dieser Reise und damit auch des Romans steht quasi als Resümee der Stoßseufzer ihres Rechtsanwalts: «Das zäheste alte Luder, das mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist». Ann ist ein zartes, bezauberndes Mädchen aus gutem Hause in San Francisco, sie wird von ihrer älteren Schwester Maud, vom italienischen Kindermädchen und von den wohlhabenden Eltern verwöhnt und verhätschelt. Als junge Frau wickelt sie alle Männer um den Finger und verliebt sich schließlich unsterblich in den Wiener Geigenvirtuosen Florian, von dem sie ganz sicher ist, er würde ihr Mann werden. Als er sich aber überraschend für ihre Schwester entscheidet, heiratet sie aus purem Kalkül einen reichen Unternehmer, der sie verwöhnt und mit Geschenken überhäuft. Maud bekommt ihre Tochter Joy, und auch Ann bekommt einen Sohn, den sie über alles liebt, der aber zu ihrem Leidwesen so ganz nach seinem grobschlächtigen Vater geraten ist.

Vicky Baum erzählt ihre raffiniert konstruierte, etwa fünf Jahrzehnte umfassende Geschichte von Ann und ihrem Stargeiger in einer angenehm lesbaren, unverschnörkelten Sprache mit erstaunlichem psychologischen Einfühlungsvermögen. Alle ihre Figuren sind sehr plastisch beschrieben und wirken glaubhaft, wobei insbesondere das Seelenleben von Ann geradezu seziert wird, alle ihre äußerst trickreichen Winkelzüge und unverfrorenen Ränkespiele, falschen Schmeicheleien und geschickt lancierten Unwahrheiten offenlegend. Sie ist einerseits Opfer ihrer grenzenlosen Phantasien, vieles an ihr ist reine Pose, sie nimmt sich andererseits aber rücksichtslos alles, was sie will, und ist fest davon überzeugt, dass ihr auch all das zusteht. Dabei schreckt sie selbst vor illegalen Machenschaften nicht zurück, Versicherungsbetrug begeht sie ohne jedes Unrechtsbewusstsein, ihr Psychogramm weist sie als eine radikale Egoistin aus. Ihre moralisch höchst zweifelhafte Persönlichkeit ist insoweit eine eindrucksvolle Bestätigung von Darwins «Survival of the Fittest», denn Ann findet auch beim größten Schlamassel stets einen Ausweg, sie behält den Kopf immer oben. Bei alledem wirkt sie, und das ist ihre Stärke, durchaus nicht unsympathisch, sie ist charmant und ruft als kapriziöses Persönchen vor allem bei den Männern reflexartige Beschützer-Instinkte hervor.

Neben interessanten Einblicken in das Musikleben, zu dem hier auch eine Stradivari gehört, baut Vicky Baum geschickt das Große Erdbeben, die Weltausstellung und den Börsencrash in ihren Hollywood-artig angelegten Plot mit ein. Ihre Erzählung ist unterhaltsam und oft auch amüsant, weil man als Leser, schon von der Idee an, die heimtückischen Winkelzüge ihrer Heldin quasi hautnah miterlebt und nun durchaus gespannt ist, ob sie mal wieder damit durchkommt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.06.2020
Ein Herr aus San Francisco
Bunin, Iwan

Ein Herr aus San Francisco


ausgezeichnet

Erfreuliche Wiederentdeckung

Eine der berühmtesten Novellen der Weltliteratur gab dem Band mit Erzählungen des russischen Schriftstellers Iwan Bunin aus den Jahren 1914/15 seinen Titel, «Ein Herr aus San Francisco». Der Autor gilt als Klassiker der russischen Literatur und bekam 1933 als erster Russe den Nobelpreis verliehen ‹für seine kunstvolle Prosa, mit der er die literarische Tradition seines Landes fortführt›. In Deutschland war er lange nur Insidern bekannt.

Zwei der sieben Erzählungen dieses Bandes sind in einer für Iwan Bunin untypischen, nichtrussischen Umgebung angesiedelt, in dem Inselstaat Ceylon die eine, die zweite bei einer Reise nach Capri. Er selbst hatte dort seine Erzählung «Die Heiligen» beendet, die erste Geschichte dieser Sammlung, die von einem alten Diener berichtet, der den Kindern seiner ehemaligen Herrschaft vom grausamen Martyrium einiger Heiliger erzählt, während nebenan die Eltern nichtsahnend feuchtfröhlich mit Gästen feiern. Unter dem harmlos klingenden Titel «Ein Frühlingsabend» werden anschließend die letzten Stunden eines Bettlers geschildert, der eine gute Hose geschenkt bekommt und den sein Schicksal ereilt, als er sie in einem üblen Wirtshaus einem verwahrlosten, bösartigen Bauern zu verkaufen versucht, - man ahnt als Leser, wie das ausgehen wird. In «Brüder» wird die traurige Geschichte eines Rikschakulis erzählt, der einen Tag lang einen wohlhabenden Engländer kreuz und quer durch die ceylonesische Hauptstadt karrt, eine berührende Anklage gegen das schreiende Unrecht während der Kolonialzeit. Eine äußerst subtil angedeutete, sich nur mutmaßlich anbahnende Liebesgeschichte wird in «Klaschka« wunderbar leichtfüßig erzählt, und «Eine Geschichte für die Weihnachtszeit» ist der ebenso ironische wie trügerische Titel einer nachdenklich machenden Hommage an einen übereifrigen Archivar, ein geistvolles Plädoyer für das Aufbewahren als Voraussetzung für das Erinnern, von dem ja letztendlich auch die Literatur eine Berechtigung zu ihrer Existenz ableitet. «Die Grammatik der Liebe» handelt von der lebenslangen, geradezu existentiellen Zuneigung eines Gutsherrn zu seinem früh verstorbenen, geheimnisvollen Stubenmädchen, dessen Tod ihn unabänderlich für immer an sie bindet. In der titelgebenden Novelle «Ein Herr aus San Francisco» schließlich thematisiert Iwan Bunin den Tod eines reichen Amerikaners auf Weltreise als grausame Macht, die schlagartig alles ändert.

Mit fast schon minimalistischen Mitteln gelingt es dem Autor, das Menschsein mit seinen vielerlei Facetten in einer einfachen Sprache äußerst expressiv zu beschreiben. Er transportiert seine Themen mit höchster sprachlicher Präzision geradezu beiläufig und gelassen, ohne ihnen dadurch etwas von ihrer Dramatik zu nehmen, eine Sprachkunst auf wahrhaft höchstem Niveau. Dabei verzichtet er vollkommen auf narrative Techniken wie den Bewusstseinsstrom oder die innere Rede, er erzählt geradlinig ohne Umwege oder verwirrende Zeitsprünge, ohne parallele Handlungsstränge oder komplizierte Plotkonstrukte. Trotz dieser spartanischen Mittel erreicht er mit seinem komprimierten Duktus mühelos seine Leser und wird von ihnen intuitiv verstanden, er trifft sie thematisch quasi ohne Umwege mitten ins Herz. Was derart schwerelos daherkommt vermag gleichwohl tiefe Wirkungen zu erzeugen, geht es schließlich doch zielgerichtet um Verfall, Einsamkeit, Angst, Tod, Ungerechtigkeit, aber auch um Liebe.

Unterschwellig ist in diesen Erzählungen als Sinnbild eines rückständigen Russlands der bevorstehende politische Umbruch bereits zu spüren, der Skepsis gegenüber den Menschen steht eine mitreißende Naturbegeisterung des Autors entgegen. Seine allegorisch angelegten Geschichten sind von einer reichhaltigen Symbolik geprägt, alle Figuren sind psychologisch stimmig ausgeformt. Somit trägt auch dieser Band der neuen Bunin-Werkausgabe zur erfreulichen Wiederentdeckung eines Schriftstellers bei, der bislang allenfalls als Geheimtipp wertgeschätzt wurde.

Bewertung vom 08.06.2020
Tote Seelen
Gogol, Nikolai Wassiljewitsch

Tote Seelen


gut

Originelle Grundidee

Nicolai Gogol steht in vorderster Reihe jener Schriftsteller, die in der nach-napoleonischen Zeit eine eigenständige russische Literatur geschaffen haben. Sein Hauptwerk «Die tote Seelen» blieb unvollendet, von den ursprünglich geplanten drei Teilen des Romans ist nur der erste fertig geworden, der zweite ist fragmentarisch erhalten. Gogol gilt als bedeutendster Vertreter der literarischen Groteske, er wurde darin besonders von Puschkin gefördert, der ihn auch zu diesem Werk angeregt hat, das 1842 erstmals erschienen ist und seither zu den Klassikern der Weltliteratur zählt.

Sein Protagonist ist Pawel Tschitschikow, ehemals ein kleiner Beamter, der sich durch Fleiß und Umsicht nach oben gearbeitet hat. In seiner letzten Position beim Zoll hatte er sich als unbestechlicher Kämpfer gegen die weitverbreitete Korruption im Zarenreich profiliert. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst reist er zu Beginn des Romans mit seinen zwei Leibeigenen, dem treuen Diener und dem Kutscher, von Gutshof zu Gutshof, um seine geniale Geschäftsidee in die Tat umzusetzen. Die auf den Gutshöfen arbeitenden Bauern und Handwerker waren allesamt Leibeigene, die quasi als lebendes Inventar ebenso zum Besitz dazugehörten wie die Ländereien und Gebäude. Sie stellten einen Wert an sich dar, konnten also je nach Bedarf hinzugekauft oder verkauft werden. Jeder Gutsherr musste entsprechend einer alle fünf Jahre neu erfolgenden Zählung eine Kopfsteuer für diese sogenannten ‹Revisionsseelen› entrichten. Tschitschikow nun will den Gutsherren alle ihre inzwischen verstorbenen Leibeigenen abkaufen, nur tote Seelen also, was überall großes Erstaunen auslöst. Aber weil mit dem notariellen Kaufvertrag die jährlichen Abgaben des Gutsherrn für die verkauften Leibeigenen wegfallen, sind sie letztendlich doch oft bereit zu diesem ebenso ominösen wie vertraulichen Geschäft, dessen Hintergründe niemand wirklich durchschaut. Am Ende schließlich kauft sich Tschitschikow dann auch noch spottbillig einen maroden, weit abgelegenen Gutshof. Durch seine inzwischen mehrere hundert nur auf dem Papier existierenden Leibeigenen aber, die er vorgeblich dort ansiedeln wird, ist das Gut inklusive Gesinde plötzlich sehr viel wert. Dementsprechend könnte es nun auch sehr hoch beliehen werden, - so sein erst im Verlauf der Geschichte allmählich deutlicher werdendes Kalkül!

Schamlos übertreibend schildert Gogol in seinem Erfolgsroman die groteske Geschichte eines ebenso gerissenen wie lebenshungrigen Mannes, der durch sein konziliantes Auftreten bei den allesamt vertrottelten, geltungssüchtigen Honoratioren der Stadt schnell hohes Ansehen gewinnt und viele nützliche Kontakte knüpft. Nacheinander werden dann in weiteren Kapiteln ebenso verschiedene Gutsherren vorgestellt, die jeder für sich einen skurrilen Typen aus der dekadenten gesellschaftlichen Mittelklasse verkörpern. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie als arbeitsscheu beschrieben, sie kümmern sich nicht um ihr Landgut, sondern frönen gelangweilt dem Müßiggang. Insoweit ist dieser Roman eine Anklage, aber auch eine karikaturartige Verhöhnung der erstarrten, maroden Gesellschaft im zaristischen Russland, die aber seinerzeit dennoch, erstaunlicherweise auch bei den betreffenden sozialen Schichten, literarisch viel Anklang fand.

Der Roman glänzt, neben mitreißenden Naturbeschreibungen, insbesondere durch sein anschaulich beschriebenes, vielköpfiges Figurenensemble, bei dem die Beamten nur Randfiguren darstellen. Die Gutsbesitzer hingegen werden in breit angelegten, detaillierten Lebensbeschreibungen als Müßiggänger geschildert, unter denen sämtliche Laster vertreten sind, Fresssucht, Alkoholismus, Geltungssucht und ausgeprägter Despotismus. Sie wirken allesamt statisch, als dynamisch sich entwickelnde Figur ist lediglich Tschitschikow dargestellt. Mit gewissen Längen altväterlich erzählt ist dieser amüsante satirische Roman mit seiner originellen Grundidee gleichwohl eine unterhaltsame Lektüre.

Bewertung vom 23.05.2020
Die rechtschaffenen Mörder
Schulze, Ingo

Die rechtschaffenen Mörder


weniger gut

Prinz Vogelfrei

In seinem neuen Roman «Die rechtschaffenen Mörder» stellt Ingo Schulze einen ebenso kauzigen wie charismatischen Antiquar in den Mittelpunkt. Ein Setting also, das bei einer ‹literarischen› Leserschaft durchweg angenehme Assoziationen auslösen dürfte, dreht sich hier doch alles um anspruchsvolle, klassische Literatur. Handlungsort ist Dresden, zeitlich ist der Roman vor und nach der Wende angesiedelt, soziales Milieu ist das Bildungsbürgertum. Neben dem Preisträger der diesjährigen Leipziger Buchmesse, Lutz Seilers «Stern 111», ist dies von den fünf Büchern der Shortlist ein zweiter Roman mit Wende-Thematik, die auch nach dreißig Jahren literarisch noch längst nicht abgearbeitet ist.

Im ersten, knapp zwei Drittel des dreiteiligen Romans umfassenden Teil, wird die Geschichte von Norbert Paulini erzählt, stimmig beginnend mit den Worten «Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar …» Von seiner früh verstorbenen Mutter hatte Norbert nicht nur die Leidenschaft für Bücher geerbt, sondern auch den umfangreichen Bestand ihres Antiquariats. Nach einer Buchhändlerlehre eröffnet er 1977 mit dem sorgsam gehüteten Bücherschatz, der ihn schon als Kind ans Lesen gebracht hat, in der elterlichen Wohnung sein eigenes Antiquariat. Schnell wird er in den einschlägigen bibliophilen Kreisen bekannt und erwirbt sich durch seine immense Belesenheit einen geradezu legendären Ruf. Zu welchem nicht wenig auch sein literarischer Salon beiträgt, der regelmäßig Intellektuelle aller Couleur zu Lesungen und zum Fachsimpeln bei ihm versammelt. Nach der Wende bricht der Markt für seine antiquarischen Schätze schlagartig zusammen, die Geschäfte laufen schlecht, er muss Gelegenheitsjobs annehmen und zieht schließlich sogar in die sächsische Provinz. Seinem Metier jedoch bleibt er unbeirrt treu, er stellt sich ganz auf Internethandel um. Der eigensinnige Kauz vereinsamt immer mehr und zieht sich verbittert in die innere Emigration zurück. Am Ende befragen ihn zwei Kriminalbeamte, wobei vage ein rechtsradikaler Hintergrund angedeutet wird, Verhör und erster Teil enden dann aber mitten im Satz, alles bleibt offen. Der bisher kaum erkennbare personale Erzähler tritt im zweiten Teil dann deutlich als Ich-Erzähler namens Schultze (sic) auf, - mit tz allerdings! Er berichtet jetzt aus dieser neuen Perspektive über den Eigenbrödler, erzählt von der Entstehung seiner Paulini-Novelle, von seinen Gesprächen mit dem Antiquar und von seiner Liaison mit dessen Lebensgefährtin. Anschließend erzählt im kurzen dritten Teil Schultzes Lektorin von ihren eigenen Recherchen über den Helden der noch nicht veröffentlichten Novelle, eine zweifache Metafiktion also.

Diese kunstvolle Verschachtelung dreier Erzählebenen und ebenso vieler Genres, vom Bildungsroman zum Künstlerroman bis zum Krimi, hebt «Die rechtschaffenen Mörder» deutlich ab vom konventionellen Erzählgestus. Norbert Paulini erinnert als Figur an den Magister Tinius, Inbegriff der Bibliomanie, auf den auch eine Romanfigur namens Gräbendorf hinweist. Eine der Stärken dieses Buches ist jedenfalls seine üppige Intertextualität, wobei mich, soviel Anekdotisches sei erlaubt, gleich zu Beginn die Erwähnung von Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» erfreut hat, den ich unmittelbar zuvor gelesen und rezensiert habe. Paulini nämlich weist in einem Gespräch darauf hin, Thomas Mann habe damit einige Schwierigkeiten gehabt, weil ihm nicht bewusst war, dass es zwei Fassungen davon gibt, in denen er wohl abwechselnd immer wieder mal gelesen hat.

Ärgerlich ist auch hier mal wieder der Klappentext, der vom Revoluzzer spricht und von fremdenfeindlichen Ausschreitungen. Prinz Vogelfrei, wie Paulini sich nach dem Gedicht Nietzsches selbst nennt, liefert nämlich für den Rechtsruck in Ostdeutschland keinerlei Erklärung. «Die Dichter müssen lügen» ist Paulinis Credo, der intertextuell ambitionierte Roman über ihn aber scheitert, grandios überdeterminiert, an seiner eher verwirrenden Vieldeutigkeit.

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.05.2020
Der grüne Heinrich
Keller, Gottfried

Der grüne Heinrich


ausgezeichnet

Ein kanonischer Roman

Gottfried Kellers «Der grüne Heinrich» ist einer der berühmtesten Bildungsromane, das vierbändige Werk erschien in der ersten Fassung 1855/56 und war zunächst außerhalb der Schweiz so gut wie unbekannt. Er habe sich vorgenommen, so sein Autor, «einen kleinen traurigen Roman zu schreiben über den Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn». Gemeint war damit die eigene, denn seine Geschichte sei, wie der 23Jährige bekannte, nicht erfunden, es sei «sogar das Anekdotische darin so gut wie wahr». In Stil des damals aufgekommenen bürgerlichen Realismus schildert er die Kindheit seines Alter Ego Heinrich Lee bis hin zum gescheiterten Künstler. Kellers Begegnung mit Ludwig Feuerbach bildet das Schlüsselerlebnis seiner weltanschaulichen Umorientierung, und so ist dessen ‹Wende zur Diesseitigkeit› denn auch das zentrale Thema dieses Romans. Sein ‹Schicksalsbuch›, denn es hatte dem perfektionistischen Schriftsteller jahrzehntelang nicht genügt und ihn zu einer Neubearbeitung veranlasst, die erst 1879/80, fast fünfundzwanzig Jahre später, als zweite Fassung erschienen ist.

Nach dem frühen Tode des Mannes lebt eine sparsame Witwe mit ihrem Sohn Heinrich in einfachen Verhältnissen, jahrelang schneidert sie die Kleidung des Jungen aus der grünen Uniform des Vaters, was ihm prompt den Spitznamen «Der grüne Heinrich» einbringt. Durch eine Intrige von der Schule verwiesen und damit von höherer Bildung ausgeschlossen, schickt ihn seine Mutter zum Onkel aufs Land, damit er sich dort in Ruhe über seine Zukunft klar werde. Er verliebt sich in ein zartes Mädchen, lernt aber auch die sinnenfrohe junge Witwe Judith kennen und ist zwischen beiden hin und her gerissen. Schließlich kehrt er nach Zürich zurück, um Landschaftsmaler zu werden. Über verschiedene Stationen verfolgt er nun seine künstlerische Ausbildung, begegnet dabei Dilettanten und Könnern, absolviert schließlich auch seinen Militärdienst und nutzt die Zeit dort, seine Jugendgeschichte aufzuschreiben. Trotz materieller Nöte schickt ihn die Mutter anschließend auf die Kunstakademie nach München, wo er jedoch schon bald erkennen muss, dass es ihm an Talent mangelt. Als Bohemien vertrödelt er nun nutzlos seine Zeit, bis die Schulden erdrückend werden und er notgedrungen eine Arbeit annehmen muss. Nach sieben Jahren endlich entschließt er sich zur Heimkehr, findet auf der langen Wanderung erschöpft und ausgehungert freundliche Aufnahme im Schloss eines Grafen, womit sich auch sein Schicksal wendet und er unverhofft zu viel Geld kommt. Und auch hier vermag der bindungsunfähige Heinrich der schönen Adoptivtochter des Grafen seine Liebe nicht zu gestehen.

«Der grüne Heinrich» wird von seinem Antihelden chronologisch und einsträngig in Ich-Form erzählt, wobei viele Motive sich aus den Dialogen heraus entwickeln, immer wieder ergänzt um breit angelegte Überlegungen und tiefschürfende Grübeleien als Bewusstseinsstrom. Der Plot ist geradezu vorbildlich aufgebaut mit einer reichhaltigen Leitmotivik, zu der zum Beispiel auch der auf dem heimatlichen Gottesacker gefundene Totenschädel gehört, den Heinrich unbeirrt auf seinen Reisen mit sich herumschleppt. An die Vaterlosigkeit als Ursache all seiner Irrwege gemahnen leitmotivisch der selbstlose Onkel und der wohlwollende Schlossgraf als Vaterersatz. Das Motiv der Gottverlorenheit des Helden und die Negierung einer Vorbestimmung im Leben bilden Anlass für köstliche Dispute mit dem Kaplan, der überaus lebensfroh den sprachgewandten Gegenpart zum atheistischen Heinrich bildet.

Zu den Lesefrüchten dieses kanonischen Romans vom Scheitern in der Kunst und vom Verzicht in der Liebe gehören die vielen weltanschaulichen Reflexionen aus der damaligen Zeit, die hier authentisch vorgetragen werden. Ferner erfreut die vollmundige Sprache, die starke Bilder zu erzeugen vermag, außerdem überzeugt auch die durchweg stimmige Figurenzeichnung, bei der als Extreme eine tatkräftige Judith dem ewig zaudernden Grünen Heinrich gegenübersteht.

Bewertung vom 09.05.2020
Der Wolkenatlas
Mitchell, David

Der Wolkenatlas


gut

Von Kultur zur Barbarei

Mit dem Roman «Der Wolkenatlas» hatte der britische Schriftsteller David Mitchell 2004 seinen literarischen Durchbruch, er ist bis heute sein bekanntestes und erfolgreichstes Werk, das mit seiner fragmentarischen Erzählweise charakteristisch ist für diesen Autor. So gibt es hier nicht nur sechs eigenständige Erzählebenen, fünf davon sind auch noch in jeweils zwei Hälften geteilt, deren zweite sich in umgekehrter Reihenfolge an den durchgehend erzählten Mittelteil anschließt. Die Unterbrechungen erscheinen willkürlich, in einem Fall endet der erste Teil sogar mitten im Satz und setzt sich ebenso unvermittelt nach nicht weniger als 562 Seiten im zweiten Teil fort, an genau dieser Textstelle und ganz einfach mit dem nächsten Wort. Diese sechs Erzählungen sind inhaltlich auf verschiedene Art miteinander verbunden, durch ein Déjà-vu-Erlebnis zum Beispiel oder andere narrative Details. Zudem unterscheiden sie sich radikal im Duktus voneinander und sind zeitlich in ganz unterschiedlichen Epochen angesiedelt, vom 19ten Jahrhundert über die Jetztzeit bis in eine ferne, post-apokalyptische Zukunft hinein. Dass ein derart unkonventionell aufgebauter Roman umstritten ist, das liegt auf der Hand.

Es beginnt mit dem Tagebuch eines Anwalts, der zur Zeit des Goldrauschs Mitte des 19ten Jahrhunderts auf der Heimfahrt von Australien nach San Francisco die christliche Seefahrt mit all ihren Beschwernissen und Gefahren schildert. Es schließt sich der Briefzyklus eines schwulen Musikstudenten an, der sich 1931 im belgischen Städtchen Zedelgem als Assistent eines berühmten Komponisten verdingt, allerlei Irrungen und Wirrungen miterlebt und ganz nebenbei ein ultramodernes Sextett mit dem Titel «Wolkenatlas» komponiert. Die dritte Geschichte aus den 1970er Jahren ist ein furioser Krimi um eine Journalistin, die im Milieu der Atom-Mafia in den USA einem Skandal auf der Spur ist. Ein alternder Verleger schließlich hat großen Erfolg mit «Faustfutter», dem Roman eines Autors, der wegen Mordes im Gefängnis sitzt, und wird nach allerlei fiesen Machenschaften in die Psychiatrie weggesperrt. Der dystopische fünfte Teil ist eine Geschichte um Klone und Duplikanten, die in Form eines Verhörs erzählt wird und inhaltlich allenfalls für enthusiasmierte Genreleser goutierbar ist, die Mehrheit muss sich frustriert durchbeißen oder aufgeben. In noch fernerer Zukunft schließlich, nach der Apokalypse, ist im durchgehend erzählten Mittelteil die Menschheit auf eine äußerst primitive Lebensform zurückgeworfen. Diese in Ich-Form und in einem radikal vereinfachten Slang von einem Ziegenhirten auf Hawaii erzählte Geschichte berichtet vom barbarischen Ende der Zivilisation.

David Mitchell hält der Menschheit, die unbelehrbar primitivsten Ur-Instinkten folgend nach Macht giert, was dann stets Unterdrückung und Ausbeutung nach sich zieht, mit diesem deprimierenden Roman den Spiegel vor. Dabei zeigt er das permanente Unrecht nur auf, ohne es zu erklären oder gar die Moralkeule zu schwingen. Die mangelnde menschliche Einsicht verdeutlicht er durch die chronologische Abfolge seiner Geschichten, in denen sich die Missstände und Probleme der verschiedenen Gesellschaftsstufen jeweils verschärfen statt verringern.

Es gibt zahlreiche narrative Verbindungen innerhalb des Romans und auch etliche intertextuelle Bezüge. Auf die Reinkarnation als Thematik weist bereits der Romantitel hin, der als Metapher für die Kartographie der wandernden Seelen benutzt wird. Die überaus kreative Erzähltechnik ist sicherlich das wesentlichste Merkmal dieses außergewöhnlichen Romans, der narrativ alles will und es mit der Postmoderne denn doch ziemlich übertreibt. Letztendlich also L’art pour l’art, diesem virtuosen Balanceakt zwischen Kultur und Barbarei mangelt es nämlich schlicht an Substanz, um Kontemplation beim Leser anzuregen. Anders als an einer Stelle im Buch zitiert geht es in der Literatur tatsächlich doch nicht nur um das ‹Wie›, sondern auch um das ‹Was›!

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