Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 831 Bewertungen
Bewertung vom 08.01.2020
Die Mittagsfrau
Franck, Julia

Die Mittagsfrau


gut

Literarisches Tabuthema

Mit dem Roman «Die Mittagsfrau» hat die Schriftstellerin Julia Franck im Jahre 2007 ihren größten Erfolg erzielt, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, bevölkerte die Bestsellerlisten und wurde in viele Sprachen übersetzt. Die Rezeption im Feuilleton und in der Leserschaft war jedoch auffallend widersprüchlich und wurde emotional sehr heftig ausgetragen, sowohl was die verstörende Thematik anbelangt als auch deren narrative Umsetzung. Der Buchtitel verweist auf einen slawischen Naturgeist, der während der Erntezeit mittags erscheint und den Menschen den Verstand verwirrt, ein Motiv, das schon Antonín Dvořák zu seiner Sinfonischen Dichtung ‹Die Mittagshexe› inspiriert hatte. Im Interview hat die Autorin erklärt, es gäbe in ihrer Familie eine «Begebenheit», die sie als Anlass genommen habe, diese rein fiktionale Erzählung zu schreiben.

Klammerartig erzählt Julia Franck im Prolog, wie die Protagonistin Helene ihren siebenjährigen Sohn Peter im Chaos der Nachkriegszeit auf der Flucht an einem Umsteige-Bahnhof auffordert, er solle hier auf sie warten, während sie Fahrkarten kaufen geht. Sie kehrt aber nicht wieder zurück, sie hat ihr Kind einfach ausgesetzt. Im Epilog besucht sie ihren Onkel auf seinem Hof bei Rostock, die Adresse hatte sie dem Jungen neben weiteren Unterlagen in seinen Koffer gelegt, und tatsächlich ist er dort auch untergekommen. Peter versteckt sich, als sie zehn Jahre später erstmals zu Besuch kommt, Peter will sie nicht sehen, nie mehr! Und so reist sie nach wenigen Stunden unverrichteter Dinge wieder ab.

In drei Kapiteln wird das Leben von Helene erzählt, beginnend Anfang des Jahrhunderts in Bautzen als jüngste Tochter eines wohlhabenden Druckers, der im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat und nach der Rückkehr an seiner Verletzung elendig zugrunde geht. Die Mutter ist Jüdin, hat vier Söhne bei der Geburt verloren, ist seither geistig verwirrt, neigt zu Tobsuchtsabfällen und schließt sich in ihr Zimmer ein, will ihren sterbenden Mann nicht mehr sehen. Helene und ihre neun Jahre ältere Schwester, die die Druckerei aufgeben müssen, ziehen auf Einladung ihrer wohlhabenden Tante Fanny zu ihr nach Berlin und geraten dort in die Boheme der ‹Goldenen Zwanziger› mit rauschenden Festen, Alkohol, Sex und Drogen. Helene findet ihre große Liebe, die nach dreijähriger Verlobungszeit, - während der sie, weil sie studieren will, heimlich eine Abtreibung vornimmt -, dann aber plötzlich tragisch endet. Nach Jahren tiefster Depressionen heiratet sie rein vernunftgesteuert einen Ingenieur, der in der Nazizeit Karriere macht, sie aber verlässt, als sie schwanger wird. Während des Zweiten Weltkriegs schlägt sie sich allein durch und arbeitet aufopferungsvoll als Krankenschwester, wird nach Kriegsende in Stettin von Russen vergewaltigt und versucht, dem Chaos durch Flucht nach Berlin zu entkommen, - beim Umsteigen lässt sie ihren Sohn schließlich am Bahnsteig allein zurück.

Der hier nur knapp skizzierte Plot dieses Gesellschaftsromans enthält neben dem Fanal einer Kindsaussetzung eine Fülle von Motiven. Es geht vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte um moralische Fragen, um die eigene Identität, Adoleszenz-Probleme, weibliche Emanzipation, Konflikte der Mutterschaft, emotionale Bindungen, Judenverfolgungen und anderes mehr. Daraus resultierend ergibt sich fast zwangsläufig eine konträre, erbittert geführte Debatte, der Roman selbst gibt keine Antworten und überlässt die Deutungen dem Leser. Erzählt wird diese thematisch breit angelegte Geschichte in einer nüchternen, einfachen Sprache, die zuweilen etwas geziert wirkt. Die Figuren sind stimmig gezeichnet auch in ihren inneren Widersprüchen, allerdings werden diverse Klischees bedient, besonders was die kolportagehaften Boheme-Passagen in Berlin betrifft oder Helenes Liebesgeschichte mit ihren gestelzten Dialogen. Gleichwohl, dieser lesenswerte Roman behandelt verdienstvoll ein nicht nur literarisches Tabuthema.

Bewertung vom 28.12.2019
Herbst / Jahreszeitenquartett Bd.1
Smith, Ali

Herbst / Jahreszeitenquartett Bd.1


gut

Was liest du demnächst?

Als erster Band einer lange schon geplanten Jahreszeiten-Tetralogie der schottischen Schriftstellerin Ali Smith, der im Original 2016 erschien, wurde kürzlich der Roman «Herbst» auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Während der Arbeiten an dem Buch wurde in Großbritannien über den Austritt aus der EU abgestimmt, seither ist das Land unversöhnlich in Befürworter und Gegner der EU-Mitgliedschaft gespalten. In Echtzeit quasi hat die Autorin diese seit dem knappen Votum vergiftete Stimmung in ihren Roman eingebaut. Nun aber gleich von einem Brexit-Roman zu sprechen, wie verschiedentlich geschehen, ist allerdings Nonsens, es sind kaum mehr als zwei Seiten, die sich diesem Thema wirklich explizit widmen. Verglichen mit der euphorischen Aufnahme des Romans in Großbritannien ist die Rezeption in Deutschland, trotz positiver Kritiken, bisher jedoch recht verhalten.

Daniel Gluck, 101 Jahre alt, dämmert in einem Pflegeheim dem Tod entgegen. Am Bett des ehemaligen Schlagerkomponisten sitzt tagtäglich die 32jährige Elizabeth Demand, in prekären Verhältnissen lebende Aushilfsdozentin für Kunstgeschichte, für die Daniel als Kind eine Art Vaterersatz war. Er wohnte im Nachbarhaus, hat sich rührend um sie gekümmert und war später ihr Mentor auf dem Weg ins Erwachsenenleben. «Was liest du gerade?» war die Standardformel, mit der Daniel die ohne Vater aufwachsende Nachbarstochter begrüßt hat. Er hat sie damals zum Lesen animiert, stundenlang mit ihr diskutiert und sie zu kritischem Denken angeleitet, sie waren beste Freunde trotz des Altersunterschieds von fast siebzig Jahren. Mit ihren Besuchen am Sterbebett will sie ihm jetzt einiges von dem zurückgeben, was er einst so selbstlos für sie als Heranwachsende getan hat. Neben der sensibilisierten Fähigkeit zur Wahrnehmung hat er vor allem ihr Selbstbewusstsein gestärkt und sie zu größtmöglicher Eigenständigkeit animiert als Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes, gelungenes Leben.

«Was liest du gerade?» ist mehr als eine Begrüßungsformel zwischen den Beiden, es ist geradezu der Schlüssel für diesen Roman. Denn für die nur biologisch, nicht mental ungleichen Freunde sind Bücher der Code für die Rätsel des Lebens, sie erschließen viele Geheimnisse und eignen sich ideal dazu, reale Probleme zu verbildlichen und Lösungsansätze aufzuzeigen bei ihren philosophischen Diskursen. Zudem gibt es intertextuelle Bezüge zuhauf, wie in anderen Werken von Ali Smith vor allem natürlich auf Shakespeare. Hier aber sehr ausführlich auch auf die viel zu früh verstorbene Malerin Pauline Boty, die nach mehr als 30 Jahren erst als feministische Pop-Art-Künstlerin wiederentdeckt wurde. Und sie wiederum wurde durch ein Aktfoto von Christine Keeler, juristischer Mittelpunkt der Profumo-Affäre, künstlerisch zu einem Trompe-l’œil inspiriert. Die «Metamorphosen» von Ovid dienen hier als Vorlage für eine Erzählung, in der die Verwandlung auf vielerlei Art thematisiert wird, alles befindet sich im Fluss, einzige Konstante ist die permanente Veränderung.

Erzählt wird dieses beeindruckende Plädoyer für mehr Menschlichkeit in einer ausgesprochen poetischen Sprache, die jedoch recht artifiziell wirkt und daher gewöhnungsbedürftig ist. Es ist deshalb sicher nicht leicht, Zugang zu diesem Roman zu finden, der thematisch die berührende Freundschaft eines extrem ungleichen Paares der feindseligen Spaltung der britischen Gesellschaft gegenüberstellt und beides durch die versöhnende Kraft der Kunst zu relativieren versucht. In meist kurzen Kapiteln werden viele Erzählschnipsel meist zusammenhanglos aneinander gereiht, eine stringente Handlung fehlt völlig. In Form von übermütigem Wortwitz, der erfreulicherweise auch die kongeniale deutsche Übersetzung bereichert, kommt der typisch britische Humor nicht zu kurz, wobei insbesondere eine absurde, an Monty Python erinnernde Episode um ein nicht vorschriftsmäßiges Passfoto die Lachmuskeln strapaziert. Was lesen Sie, was liest du demnächst?

Bewertung vom 26.12.2019
Gelenke des Lichts
Maeß, Emanuel

Gelenke des Lichts


schlecht

L’art pour l’art

Immer wieder gibt es ja Romane, die polarisierend auf die Leserschaft wirken, so auch das Romandebüt mit dem kryptischen Titel «Gelenke des Lichts» von Emanuel Maeß. Ein Hybrid, was die Gattung anbelangt, aus «Bildungs-, Schelmen- und Campusroman», wie die Jury für den Deutschen Buchpreis 2018 schrieb, die ihn immerhin auf die Longlist gesetzt hatte. Mit Anklängen an Goethes «Wilhelm Meister» wird hier, mit vielen eingeschobenen Reflexionen angereichert, die Entwicklung eines jungen Mannes von der Adoleszenz bis zum Studienabschluss in Cambridge anschaulich beschrieben, allerdings an keiner Stelle «schelmisch»! Andererseits ist man auch an Petrarcas Minne-Dichtung «Conzoniere» erinnert, dessen Laura heißt hier Angelica und ist ebenfalls die ferne, idealisierte Angebetete, die aber als eine Art Leitmotiv sehr lose in den Plot eingewoben ist, ohne dass man deshalb gleich von einem Liebesroman sprechen könnte.

Der Ich-Erzähler ist Sohn eines Pfarrers und einer Ärztin in Urspring an der Werra, dem fiktiven geografischen Mittelpunkt Deutschlands, die Erzählzeit reicht von 1980 bis zum Beginn des neuen Jahrtausends. Zu DDR-Zeiten besucht der 11Jährige in dem kleinen Ort die Schule und sieht bei einem feuchtfröhlichen Neptunfest fasziniert ein neunjähriges Mädchen selbstvergessen am Strand tanzen. Sie begegnet ihm später zufällig noch einige Male, ein loser Kontakt entsteht und bleibt über viele Jahre hinweg erhalten, schließlich besucht sie ihn sogar einmal während seines Studiums in Cambridge. Es kommt zum One-Night-Stand, ihre Wege trennen sich aber sofort wieder, bis sie sich schließlich völlig aus den Augen verlieren und Angelika nur noch gelegentlich leitmotivisch als idealisiertes, das Bewusstsein erweiternde Sinnbild in seinen Gedanken herumspukt.

Die in der angedeuteten Form eines Briefromans an die Angebetete verfasste Erzählung hat die Suche des sich unverstandenen fühlenden, sensiblen Ich-Erzählers nach Selbsterkenntnis zum Inhalt. Er studiert breitgefächert Geisteswissenschaften, zunächst in Heidelberg und später, mittels Stipendium, in Cambridge. Mit dem Studienabschluss endet dieser Roman der Innerlichkeit. Dessen Thematik, die geistige Entwicklung seines wissbegierigen Helden, - hier eingebettet in eine überbordende, an Bildungshuberei grenzende Gelehrsamkeit -, wird in wohlgesetzten Worten erzählt. Diese grandiose Erzählkunst aber ist Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Positiv zu nennen sind überaus poetische Landschaftsbeschreibungen, interessante Schilderungen des Studienbetriebs in beiden Ländern, stimmig hervorgerufene Assoziationen, tiefschürfende Reflexionen über Musik, Literatur, Religion, Philosophie, - und immer wieder dient ihm die Natur als Phänomen und Kulisse zugleich. Lästig, irgendwann sogar nervig aber wird die gestelzte, hochgestochene Sprache mit sehr speziellem Fachvokabular, abseitigen Fremdwörtern und vielen, nur akademischen Insidern verständlichen Anspielungen und Verweisen, die zum vollen Verständnis einen humanistischen Bildungshintergrund bedingen. Diese unzähligen, selbstgefälligen Belege für die sichtlich vorhandene Gelehrsamkeit und umfassende philologische Bildung des Autors stören erheblich, weil sie so feierlich, so penetrant aufgesetzt wirken. Denn für die Fachwelt dürfte dieses Buch ja nun wirklich nicht geschrieben sein, der «Normalleser» aber, und eine solche Spezies scheint es zu geben, wird heillos überfordert!

Je nachdem also, ob man die überschäumende Formulierungsseligkeit von Emanuel Maeß goutiert oder nicht, ist dieser Roman, in dem so gut wie nichts geschieht, literarisch als heutzutage selten anzutreffendes Sprachkunstwerk anzusehen - oder aber als altkluges, aus der Zeit gefallenes, pseudowissenschaftlich aufgemotztes Geschwafel um seiner selbst willen. Sprachliche Perfektion als Selbstzweck mithin, L’art pour l’art! Ob das aber reicht als Anreiz zur Lektüre, muss jeder potentielle Leser ganz individuell für sich selbst entscheiden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.12.2019
Der junge Doktorand
Bremer, Jan Peter

Der junge Doktorand


gut

Posse grenzenloser Selbstüberschätzung

Die Anklänge an Samuel Beckett sind unverkennbar in Jan Peter Bremers neuestem Roman «Der junge Doktorand», wie bei «Warten auf Godot» sind hier in einem kammerspielartigen Plot die Hoffnungen der beiden Protagonisten ebenfalls auf eine erwartete Erlöserfigur gerichtet. Um einen weiteren Vergleich zu bemühen, dieser absurde Roman erinnert mit seinen erbitterten Disputen auch an das Kammerspiel «Der Gott des Gemetzels» von Yasmina Reza, das Polanski so erfolgreich verfilmt hat, stilistisch sind Anklänge an Thomas Bernhard erkennbar, und manches scheint sogar kafkaesk.

Der ehemals berühmte, inzwischen aber wenig erfolgreiche Maler Günter Greilach wartet mit seiner Frau Natascha schon seit zwei Jahren auf einen jungen Doktoranden, der eine Dissertation über den Künstler schreiben will. Sie leben in einer abgelegenen Mühle, in die sie sich vor Jahrzehnten zurückgezogen haben, während seiner Recherche werden sie den Doktoranden bei sich beherbergen. Mehrmals hat der schon den vereinbarten Termin für seine Ankunft kurzfristig abgesagt, zu Beginn der Geschichte nun trifft er diesmal mit dem Auto nach langer Suche aber tatsächlich doch noch spätabends bei ihnen ein. Er wird im Gästezimmer einquartiert und bekommt Gulasch als verspätetes Abendessen, - ziemlich versalzen, wie Günter kritisch anmerkt. Danach wird der junge Doktorand noch in ein langes Gespräch mit dem Maler verwickelt, bei dem er nur stummer Zuhörer bleibt. Sein Atelier will ihm Günter Greilach erst am nächsten Nachmittag zeigen, nachdem er dort aufgeräumt hat. Für das ältere Paar verkörpert der Doktorand einerseits die Hoffnung auf mehr Anerkennung und Publicity für den introvertierten Künstler, andererseits aber auch eine hochwillkommene Abwechslung von der Alltagsroutine für Natascha. Sie mischt sich häufig in die Unterhaltungen ein, sehr zum Missvergnügen ihres Mannes, der sie ziemlich barsch zurückweist und am liebsten auf ihre Pflichten als Hausfrau zurückstutzen würde.

Ein «Gemetzel» sind die Dispute der Eheleute zwar nicht, aber es wird vehement debattiert und mit spitzer Zunge geredet. Beide bleiben sich nichts schuldig bei ihrem Dauergezänk, dessen stummer Zeuge der junge Doktorand ganz unfreiwillig werden muss. Natürlich redet das Ehepaar ständig aneinander vorbei, sie interpretieren die Situation völlig unterschiedlich und streiten über Geschehnisse der Vergangenheit. Günters selbstgefälliges Ego als verkannter Maler wird arg ramponiert dabei, der Sarkasmus seiner Frau scheint grenzenlos, aber auch das Absurde der Kunstwelt wird hier gnadenlos entlarvt. Das jahrelang selbstgefällig aufgebaute Image als Maler erweist sich als reine Fassade, Günters wortreich dargelegter künstlerischer Genius gründet auf seinem egozentrischen, pseudointellektuellen Geschwätz, nicht auf seinem Werk!

Diese durchaus komplexe Geschichte ist narrativ auffallend leichtgewichtig ohne dramatische Effekte angelegt und wird in einer wohltuend klaren, leicht lesbaren Sprache erzählt. Gleichwohl vermag es der Autor, die subtilen Hintergründe der Selbsttäuschungen offenzulegen und die erkennbaren Defizite im menschlichen Miteinander aufzuzeigen, die beiderseitig vorhandenen psychischen Abgründe also ebenfalls deutlich werden zu lassen. Bei all dem ist eine feine Komik nicht zu übersehen, die aber nie in Sarkasmus umschlägt. Der titelgebende Doktorand erweist sich als ausgesprochener Pechvogel, nicht nur in seiner Rolle als unfreiwilliger Zuhörer, sondern auch als «unfreiwilliger» Doktorand. Über den hier aber mehr nicht verraten werden soll, denn der Plot dieses gleichermaßen als Ehe- wie auch als Kunstsatire angelegten, absurden Romans lebt durchaus auch von einer gewissen Spannung. Man will ja schließlich wissen, wo denn all die funkelnden Wortgefechte des, - übrigens an Loriots archetypisch absurde Figuren erinnernden, heillos zerstrittenen Ehepaares letztendlich hinführen werden in dieser Posse grenzenloser Selbstüberschätzung!

Bewertung vom 19.12.2019
Die Römerin
Moravia, Alberto

Die Römerin


gut

Adrianas Kalamitäten

Der Roman «Die Römerin» von Alberto Moravia gehört zu jener für die damalige Zeit anstößigen Literatur, die konservative Kreise in Italien 1947 nach der Veröffentlichung am liebsten gleich verboten hätten. Im Interview hat der Autor erklärt: «Mein Werk kreist um das Problem des Menschen, um das Menschliche, das Allermenschlichste, wenn Sie wollen. Die katholische Kirche hat meine Bücher auf den Index gesetzt. Pornographisch? Stelle ich nicht eher nur auch das Sinnenleben an den Platz, an dem es bei jedem einzelnen von uns steht»? Unter dem Titel «Die freudlose Strasse» wurde der Roman 1954 von Luigi Zampa, einem der führenden Vertreter des Italienischen Neorealismus, mit Gina Lollobrigida in der Hauptrolle verfilmt. Und auch für den Roman, der seinen Autor international bekannt gemacht hat, gilt jenes neue moralische Prinzip, welches «genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen», wie Roland Barthes es formuliert hat.

«Mit sechzehn Jahren war ich wirklich eine Schönheit» lautet der erste Satz. Ich-Erzählerin Adriana lebt zur Zeit des Faschismus mit ihrer Mutter, die Hemden in Heimarbeit näht, in ärmlichsten Verhältnissen in einem üblen Viertel Roms. Ihre Mutter vermittelt sie zur Aufbesserung der Kasse als Aktmodell an verschiedene Maler, sie jedoch träumt von einem besseren Leben mit Mann und Kindern in einem schönen Haus. Ihre erste Liebe ist der Chauffeur Gino, er verspricht ihr die Ehe, sie verfällt ihm regelrecht. Ihre völlig abgestumpfte Mutter hofft insgeheim jedoch darauf, dass die Tochter endlich von selbst darauf kommt, ihre Anziehungskraft auf Männer deutlich nutzbringender, also für Geld, einzusetzen. Auch das Straßenmädchen Gisella, die beste Freundin Adrianas, redet ihr zu und lockt sie schließlich in eine Falle, wo Astarita, hoher Polizeioffizier und ihr glühendster Verehrer, die Ahnungslose mit Drohungen gefügig macht und ihr hinterher Geld dafür gibt. Nach diesem Schlüsselerlebnis, und auch weil der Polizist sie darüber aufgeklärt hat, dass ihr charmanter Gino verheiratet ist und Kinder hat, beschließt sie desillusioniert, künftig ebenfalls auf den Strich zu gehen. Sie glaubt, das sei ihre wahre Berufung, denn auch der bezahlte Sex macht ihr meistens sogar Spaß.

In den folgenden Jahren lebt sie in finanziell besseren Verhältnissen, ihre Mutter muss nicht mehr arbeiten und Adriana kann sich jetzt manches leisten. Außer den zufälligen Bekanntschaften gehört zu den Männern, die sie häufiger trifft, mit Sonzogno ein bärenstarker, gewalttätiger Verbrecher, der ihr als einziger Freier einen Lustschrei zu entlocken vermag beim Sex, dessen Grobheiten sie sogar masochistisch erregen. Mehr fürs Gemüt ist Giacomo, ein politisch aktiver Student aus bestem Hause, den sie abgöttisch liebt, obwohl er sich merkwürdig abweisend verhält, unverkennbar ein Psychopath, den sie aber demutsvoll anbetet. Und auch der unsterblich verliebte Polizist taucht immer wieder bei ihr auf und bettelt um Sex.

In diesem Geflecht von hochkomplizierten Beziehungen sind Konflikte geradezu vorgezeichnet. Alberto Moravia versteht es meisterhaft, seine Protagonistin darüber reflektieren zu lassen, sie kommt auch als einzige aus all diesen Kalamitäten heil heraus. Adriana erzählt ihre Geschichte ganz naiv in einem sprachlich anspruchslosen Stil, aber sie erzählt immer auch mit dem Herzen und zeigt bei aller Dummheit viel Mitgefühl für ihre Mitmenschen, die ihr allzu oft böse mitspielen. «Leider hat man ja beinahe immer recht, wenn man schlecht von jemandem denkt», sagt sie mal resigniert nach einer weiteren Enttäuschung. Sie ist einfach unfähig, aus ihrem fragwürdigen Beruf den maximalen finanziellen Nutzen zu ziehen oder gar Kurtisane eines reichen Freiers zu werden und in ihr Traumhaus einzuziehen, - bei ihr bleibt das Geld immer knapp. In einem spannenden Showdown mit drei Toten endet dieser Roman dramatisch, deutet ganz verschämt aber auch eine bessere Zukunft an.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.12.2019
Der große Garten
Randl, Lola

Der große Garten


gut

Typische Gretchenfrage

Die Filmemacherin Lola Randl hat in ihrem Debütroman «Der große Garten» ein aktuelles Zeitphänomen thematisiert. Es geht um die Sehnsucht neurotischer Großstädter nach einem bodenständigen Landleben, ihrem Buch ging 2018 ihr themengleicher Dokumentarfilm «Von Bienen und Blumen» voraus. Sie berichtet von ihrer Flucht aus Berlin in ein kleines Dorf der Uckermark, wo sie eine alte Gärtnerei gekauft hat, mit der sie im Selbstversuch zum bäuerlichen Leben zurückfinden will. Ihr autofiktionaler Roman schildert dieses Experiment in einer enzyklopädischen Form mit mehr als 300 kurzen Kapiteln, in schneller Schnittfolge quasi, wie Filmleute das nennen.

Zunächst gibt es in dieser schwer einzuordnenden Prosa einen autobiografischen Erzählstrang, in dem die namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Projekt einer ruralen Selbstfindung berichtet, der Zeitrahmen ist dabei ein exemplarisches Gartenjahr. Ihrem neu begründeten häuslichen Umfeld gehören «die Mutter», «der Mann» und «der Liebhaber» an, ferner zwei Kinder, von denen nur Gustav die Ehre hat, als Figur einen Namen tragen zu dürfen. Zum Beziehungsgeflecht der Ich-Erzählerin gehören ferner «die Therapeutin», «die Nachbarin», «die Künstlerin», «der Analytiker», aber auch «die Japaner» bevölkern den Plot, und mit dem Rentnerpaar Irmi und Hermann gibt es zwei weitere Figuren mit Namensprivileg. Der titelgebende Garten bildet mit seinen Pflanzen und Tieren eine zweite Erzählebene, in der kenntnisreich viele auch für biologisch vorinformierte Städter unbekannte Naturphänomene und jahreszeitliche Entwicklungen detailliert und anschaulich beschrieben werden. Nicht zuletzt aber wird immer wieder auch die Chronik dieser ländlichen Region im Wandel der politischen Epochen beschrieben, beginnend in der Zeit der preußischen Junker. Ihnen folgen nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR die LPGs, bis schließlich nach der Wende die Aasgeier der industriellen Landwirtschaft die bäuerlichen Strukturen so gründlich zerschlagen, dass von der dörflichen Idylle kaum mehr übrig bleibt als die sentimentale Erinnerung daran.

Dieser in einer betont einfältigen, geradezu kindlichen Diktion erzählte Roman bietet deutlich mehr, als der einfallslose, an einen Gartenratgeber erinnernde Buchtitel erahnen lässt, wie ihn ja auch das naive Umschlagbild suggeriert. Lola Randl hat ihre Geschichte vom einfachen Landleben, von dessen gärtnerischen wie auch tierhalterischen Problemen und Anforderungen, mit vielen aphoristischen Einschüben angereichert. Deren durchaus bereichernde Lebensweisheiten und Erkenntnisse bieten jede Menge Überraschungen für den Leser, wobei dies insbesondere für die großen Themen gilt, also Lebenssinn, Religion und Tod. «Der große Vorteil am Totsein ist ja, dass man gar nicht merkt, dass man tot ist […] Dann stellt sich einem natürlich die Frage, wann und wie man wohl stirbt und was man am besten macht, solange man noch nicht gestorben ist». Und genau das ist letztendlich auch das Thema des gesamten Romans. Die 39jährige Autorin schreibt süffisant über den Lebensabschnitt, in dem sie sich selbst gerade befindet: «Die Midlife-Crisis wurde in den70er Jahre in Amerika erfunden, aber mittlerweile hat sie fast jeder, der es sich leisten kann, auch Frauen» [sic].

Mensch und Natur, wie geht das heutzutage noch zusammen, lautet hier also die Gretchenfrage. Es ist die naiv formulierte, satirische Beschreibung eines Zeitgeistes, der neurasthenische Großstädter auf die Flucht treibt vor dem Moloch, in dem sie leben, was diesem lehrreichen Roman von der Landlust sein unverwechselbares Flair verleiht. Nicht zynisch, aber mit deutlich erkennbarer Ironie hält die Autorin ihren euphorisierten Zeit- und Gesinnungs-Genossen, also erkennbar auch sich selbst, schonungslos den Spiegel vor. Über die fehlende narrative Stringenz trösten die vielen hinzugewonnenen Kenntnisse von komplexen Vorgängen in der Natur ebenso hinweg wie das aus Lola Randls lustvollem Spott resultierende Lesevergnügen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.12.2019
Es geht uns gut
Geiger, Arno

Es geht uns gut


sehr gut

Funkelnde Diskurse

Mit dem Familienepos «Es geht uns gut» hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger 2005 den Deutschen Buchpreis gewonnen, «… ein Roman, der ebenso genau wie leicht vom Gewicht des Lebens spricht», wie die Jury ihre Wahl begründet hat. Aber auch die Rezensionen im Feuilleton waren überwiegend positiv. Der ironische Titel dieser drei Generationen umfassenden Geschichte deutet bereits darauf hin, dass hier mit einiger Distanz erzählt wird. Historischer Hintergrund ist die Geschichte Österreichs von 1938 bis 2001, überwiegender Handlungsort die stattliche Villa der Familie in Wien. In 21 tagebuchartigen Kapiteln wird aus jeweils einer Perspektive in klug gesetzten zeitlichen Voraus/Zurück-Sprüngen das wechselvolle Leben einer großbürgerlichen Familie gezeichnet, deren Patriarch es immerhin zum hochangesehenen Minister gebracht hat, während dessen schriftstellernder Enkel schlussendlich sich eher als lebensuntüchtiger Versager und lethargischer Träumer erweist, ein an die Buddenbrooks erinnernder, familiärer Abstieg.

Als Rahmen der Erzählung dient die Entrümpelungsaktion des erfolglosen Dichters Philipp, der von seiner Großmutter Alma die schon etwas heruntergekommene Wiener Familienvilla geerbt hat. Er hat ein Verhältnis mit der verheirateten Meteorologin Johanna, gelegentlich aber kommt es auch schon mal zu einem Quickie mit der Postbotin. Sein Großvater Richard, Sohn aus einer reichen, erzkonservativen Familie, macht als Jurist Karriere, bleibt auf Distanz zu den Nazis und wird nach dem Krieg Minister, der maßgeblichen Anteil hat an den Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Sowjetunion. Seine Frau Alma, die ihm zuliebe das Medizinstudium aufgegeben hat, widmet sich fortan dem Haushalt und den zwei Kindern Otto und Ingrid, sie liest gern und betreibt die Imkerei als Steckenpferd, im Garten der Villa steht ihr eigenes kleines Bienenhaus. Zwischen dem Paar kommt es zu intellektuell geradezu funkelnden ehelichen Diskursen, die aber nie eskalieren, weil Alma sich als die Klügere vorher meist zurücknimmt. Sohn Otto kommt bei Kämpfen kurz vor Kriegsende ums Leben, die Tochter Ingrid studiert Medizin und ist gegen den erbitterten Willen der Eltern mit dem erfolglosen Kleinunternehmer Peter liiert, das Verhältnis zu ihren Eltern nimmt dadurch irreparable Schäden. Trotzig heiratet sie ihn, als sie schwanger wird, und er geht denn auch prompt in Konkurs, findet später Arbeit als Verkehrsplaner und zieht nach Ingrids tragischem Unfalltod die beiden Kinder Sissi und Philipp alleine groß. Während Sissi später als Journalistin in New York lebt und kaum noch von sich hören lässt, versucht sich Philipp erfolglos als Schriftsteller. Er ist mit der ererbten Villa heillos überfordert, am Ende sitzt er hoch oben auf dem Dach: «Gleich wird Philipp auf dem Giebel seines Großelternhauses in die Welt hinausreiten», heißt es träumerisch.

Das Besondere an diesem Roman, dessen Thematik so neu ja nicht ist, sind die geistreichen und bissigen Diskussionen, die da schlagfertig ausgefochten werden. Besonders zwischen Ingrid und ihrem stockkonservativem Vater fliegen die Fetzen, sie ist trotz der finanziellen Abhängigkeit während des Studiums zu keinen Zugeständnissen bereit und kontert seine Vorhaltungen souverän. Gleiches gilt für Alma, die ihrem Mann auch keine Antwort schuldig bleibt, sich aber konzilianter verhält. Ihr grandioser innerer Monolog am Sterbebett ihres dementen Mannes ist eine geistreiche Aufarbeitung jahrzehntelanger Rücksichtnahme und Unterdrückung, - ein gelungenes Fazit des gesamten Romans.

Eheschlamassel, Alltagssorgen, die mühsame Emanzipation der eigentlichen Heldinnen Alma und Ingrid, geschickt verzahnt mit dem historischen Hintergrund, ist das wirklich Tragende bei diesem Roman. Die sympathischen Figuren und ein polyperspektivisch in Montagetechnik geradezu beiläufig erzählter, stimmiger Plot mit einer Fülle von Motiven machen diese Chronik zu einem äußerst bereichernden Lesevergnügen.

Bewertung vom 08.12.2019
Hunger
Hamsun, Knut

Hunger


ausgezeichnet

Weitab von der Spitzweg-Idylle

In seinem 1890 erschienenen Debütroman «Hunger» hat der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun eigene Erfahrungen als Arbeitsloser aus dem Jahre 1886 verarbeitet. «Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist…» heißt es im ersten Satz dieses berühmten Romans, den viele Kritiker für sein bestes Werk halten. Der 1920 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor gilt mit seinem ersten Roman als ein bedeutender Wegbereiter der neuen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, er hat viele prominente Kollegen entscheidend beeinflusst damit.

Ich-Erzähler ist ein junger Schriftsteller, der hungernd und frierend durch Kristiania streunt, dem heutigen Oslo, das sich, im Zeitalter der industriellen Revolution, im Wandel befindet. Nur selten gelingt es ihm, einen Artikel in einer Zeitung unterzubringen für ein Salär, von dem er gerade mal einige wenige Tage sehr bescheiden leben kann. Es gelingt ihm auch nicht, irgendeine noch so gering bezahlte Arbeit zu finden, er scheitert immer wieder geradezu schicksalhaft. Außer dem, was er auf dem Leibe trägt, seiner abgerissenen, fadenscheinigen Kleidung, sowie Papier und Bleistift für seine Artikel, besitzt er nichts. Meist ist er obdachlos, weil er die Miete auch für die primitivsten Schlafplätze nicht aufbringen kann, die selbst mitzubringende Schlafdecke hat er von einem Freund geliehen. Er streift hungergequält durch die Stadt, um irgendwie Geld aufzutreiben. Sein Stolz lässt es aber nicht zu, betteln zu gehen, und auch vor der Polizei hat er große Angst, nachdem er einmal als zerlumpter Obdachloser aufgegriffen wurde und eine Nacht in der Zelle verbringen musste. Immer wieder begegnet er Leuten, die er kennt, die er anpumpen kann, aber ganz selten bekommt er dann mal ein paar Kronen. Als er eine junge Frau trifft, endet auch diese kurze Episode ohne Fortune.

Diese handlungsarme Geschichte vom äußersten Rand der Gesellschaft wird ohne Pathos oder soziale Anklage nüchtern und sachlich erzählt, überwiegend als nicht abreißender Gedankenstrom. Sie zeichnet das Zerrbild einer fremden, unmenschlichen Welt, die sich für den dahinvegetierenden Protagonisten als Labyrinth erweist, in dem er auf der Suche nach dem Ich orientierungslos herumirrt. In die Zuschauerrolle gedrängt, erscheint er aus der Zeit gefallen, ein hoffungsloser Phantast und ewiger Fabulierer, der den Anschluss verloren hat, ein menschlicher Typus, wie ihn nur die anbrechende moderne Zeit hervorzubringen vermag. Er ist ein Intellektueller am Rande des Wahnsinns, der von Ängsten geplagt körperlich und seelisch immer mehr verfällt, gefangen in einem Strudel aus Hoffnung, Zweifel und Scham. Aufmerksam und sensibel beobachtend kreisen seine Gedanken, gesteuert vom puren Selbsterhaltungstrieb, unablässig um die nackte Existenz, um Essen und Obdach.

Es ist die äußerst realistische, ans Kannibalische grenzende Darstellung des Hungers, die hier zutiefst beklemmend und mit bitterer Komik erzählt wird. So wenn der verzweifelte Held um Knochen für den Hund bittet, die er dann selber abnagt, oder wenn er aus lauter Verzweiflung Holzspäne kaut, um seinen leeren Magen zu täuschen, wenn er schließlich sogar einen Stein in den Mund nimmt, um mit Kaubewegungen dem malträtierten Körper etwas vorzutäuschen. Im ständigen inneren Dialog mit sich selbst ergeht er sich in Befürchtungen, Selbstzweifeln, Wahnvorstellungen und wilden Assoziationen, ein traumatisches Chaos an Gedanken, denen eine abweisende, kalte Stadt als brutale Realität gegenüber steht. Der Leser erfährt nichts von der Vorgeschichte dieses Mannes, es gibt keine Rückblenden, Knut Hamsun erzählt nur von dessen ausweglos scheinender Not weitab von jedweder Spitzweg-Idylle, beendet seine Geschichte aber immerhin mit einem Hoffnungsschimmer. Eine literarisch hochstehende, anspruchsvolle Lektüre mithin, die alles kann, - nur nicht angenehm unterhalten!

Bewertung vom 05.12.2019
Nana
Zola, Emile

Nana


ausgezeichnet

Lichtenberg bringts auf den Punkt

Der 1880 erschienene Roman «Nana» von Émile Zola gehört zu den erfolgreichsten des großen französischen Romanciers, er ist Teil des 20bändigen Zyklus ‹Rougon-Macquart›, einer breit angelegten Familiengeschichte aus dem Zweiten Kaiserreich, in deren Stammbaum auch eine gewisse «Anna Coupeau dite Nana» auftaucht. Als typischer Positivist hat der berühmte Autor seinen bekanntesten Roman als soziologische Milieustudie angelegt, in der eine Hundertschaft von Figuren aus der Pariser Halbwelt, von der Straßenhure bis zum Kammerherrn der Kaiserin, in ihren Lebensumständen und Beziehungen detailliert beschrieben werden. Er zeichnet eine promiskuitive großstädtische Gesellschaft, in die er die dekadente adelige Oberschicht ebenso mit einbezieht wie die Dirnen aus dem Rotlichtmilieu, weil sich deren Verhalten in nichts von dem der verheirateten, hochgestellten Damen unterscheide, wie er mehrfach betont. Der vorab im Tagesblatt ‹Le Voltaire› in Fortsetzungen veröffentliche Roman mit seiner anrüchigen Thematik wurde heftig umstritten und war, vielleicht gerade deswegen, ein Riesenerfolg, der für damalige Zeiten brisante Stoff wurde fürs Theater adaptiert und später auch mehrfach verfilmt, zuletzt im Jahre 2001.

Als blonde Venus bekommt die ehemalige Straßendirne Nana trotz völliger Talentlosigkeit eine kleine Rolle in einem Varietétheater. Ihr erster Auftritt bei der Premiere ist eine Schlüsselszene für den ganzen Roman: «Ein Schauer durchwogte den Zuschauerraum. Nana war nackt. Sie war völlig nackt und trug ihre Blöße mit ruhiger Kühnheit zur Schau, im sichern Selbstgefühl der Allmacht ihrer Fleischespracht. Einzig ein dünner Schleier hüllte sie ein.» Die Zuschauer waren wie berauscht, die Herren hatten rote Köpfe bekommen. «Unmerklich hatte Nana das Publikum erobert, hatte von ihm Besitz ergriffen, und jetzt waren ihr die Männer samt und sonders verfallen. Die geile Brunst, die von ihr ausging wie von einem läufigen Tier, hatte immer weiter um sich gegriffen». Fortan liegen ihr die Herren der Gesellschaft zu Füßen, sie genießt als Mätresse reicher Liebhaber einen nie gekannten Luxus und bekommt Zugang zur gehobenen Gesellschaft. Gleichwohl bleibt sie die strohdumme Dirne vom Land, verprasst völlig maßlos das viele Geld, das ihr zufließt, und ist immer pleite. Nachdem sie ihren wichtigsten Gönner, einen Bankier, in den Ruin getrieben hat, erleidet auch sie einen herben finanziellen Rückschlag und versucht mit einem ehemaligen Theaterkollegen in das einfache Leben zurückzufinden, was aber gründlich schiefgeht. Nach einem grandiosen Comeback hat sie im weiteren Verlauf des Romans schließlich etliche der ihr hörigen Männer bedenkenlos und selbstsüchtig ins Verderben gestürzt, ja sogar zum Selbstmord getrieben, muss am Ende aber völlig mittellos vor ihren Gläubigern aus Paris flüchten.

Das Besondere an «Nana» sind natürlich die Schilderungen der dekadenten Gesellschaft kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, «Nach Berlin!» skandieren die Massen auf der Straße am Ende des Romans. Neben aufschlussreichen Einblicken in die halbseidene Operettenwelt mit ihrem Lebemänner-Publikum werden auch die mondänen ‹Salons› der besseren Pariser Gesellschaft ausführlich beschrieben, man erlebt zudem hautnah und mitreißend die Faszination der Galopprennen, aber auch den wüsten Pöbel in den verruchtesten Hinterhof-Kaschemmen. Für die erwünschte Wahrhaftigkeit in der Darstellung hat Émile Zola einen erheblichen Recherche-Aufwand betreiben müssen, wie er berichtet hat.

Diese in vierzehn Kapiteln erzählte, bitterböse Gesellschaftskritik ist genial konstruiert, glänzt mit anschaulichen szenischen Beschreibungen und entlarvt unerbittlich die Dekadenz der Oberschicht jener Zeit. Der für seine köstlichen Aphorismen bekannte Georg Christoph Lichtenberg hat einst geschrieben: «Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an», - das kann ich hier wirklich auch empfehlen!