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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 30.04.2021
Französisches Roulette / Bruno, Chef de police Bd.13
Walker, Martin

Französisches Roulette / Bruno, Chef de police Bd.13


weniger gut

Überschreiben könnte man die dünne Story mit „Die bösen Russen und ihre internationalen Verflechtungen“. Ausgangspunkt für Brunos Ermittlungen ist der Tod eines Bauern, der seinen gesamten Besitz einer dubiosen Versicherungsgesellschaft - mit Verbindungen zu einem russischen Oligarchen - im Austausch gegen Wohnrecht in einem luxuriösen Seniorenheim überschrieben hat. Dann ist da noch der alte Rockstar, der sein prächtiges Chateau verkaufen möchte. Aber zuvor kommt dessen Familie noch einmal für einen gemeinsamen Urlaub zusammen, wobei der Sohn, welch Überraschung, seine russische Freundin mitbringt.

Leider verlieren sich die Zusammenhänge immer wieder in Banalitäten und langatmigen Beschreibungen der Kontakte, die Bruno zu den Damen in seinem Umfeld unterhält. Ausritte mit Pamela, Schwimmlektionen für Florence‘ Kinder und natürlich der unvermeidliche Besuch der alten Flamme Isabelle. Dazwischen erfahren wir in aller Ausführlichkeit, wie man einen Hühnerstall baut, wie sich der Weinbau im Périgord verändert hat und wie das mit dem Nachwuchs bei den Bassets funktioniert. Und als ob das noch nicht genug wäre, folgen in regelmäßigen Abständen en détail beschriebene Mahlzeiten und Menüfolgen mit den dazugehörigen Rezepten.

Walker hat viele Jahre als politischer Journalist gearbeitet und offenbar noch Kontakte zu ehemaligen Kollegen, deren Erkenntnisse und Meinungen zu russischen Aktivitäten er unbedingt, wie im Nachwort zu lesen, in diesen Roman einarbeiten wollte. Er wäre besser beraten gewesen, auf dieses ideologische Geschwurbel zu verzichten.

Wenn ich einen Kriminalroman lese, möchte ich unterhalten werden. Gerne darf am mich dabei mit gesellschaftspolitischen Problemen konfrontieren, auf Missstände aufmerksam machen und so zum kritischen Hinterfragen anregen. All dies leistet dieses Buch leider nicht. Im Gegenteil, es ist ein Ärgernis und für mich der Tiefpunkt der Reihe.

9 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.04.2021
Der Abstinent
McGuire, Ian

Der Abstinent


ausgezeichnet

Durch die Industrialisierung ist Manchester im 19. Jahrhundert eine Stadt im Aufwind. Die Textilfabriken versprechen Arbeit und ziehen Einwanderer aus allen Ecken des Königreiches an. Auch viele Iren folgen dem Ruf, müssen aber bald feststellen, dass sich ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben nicht erfüllen. Sie werden für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt und kärglich entlohnt, ihre Lebensumstände sind erbärmlich, Diskriminierungen an der Tagesordnung. Unmut macht sich breit, im Untergrund versammelt die Irisch-Republikanische Bruderschaft ihre Anhänger um sich. Die Polizei hat alle Hände voll zu tun, denn es kommt immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, die mit aller Härte niedergeschlagen und bestraft werden.

1867 werden im Morgengrauen drei irischen Rebellen in Manchester hingerichtet, denen man den Mord an einem Polizeibeamten anlastet. Ein von der englischen Obrigkeit unterschätztes Fanal, das einen verheerenden Kreislauf der Gewalt in Gang setzt. Auf englischer Seite steht James O'Connor, der titelgebende „Abstinent“, ein irischer Außenseiter aus Dublin, strafversetzt zur Manchester Division, der diese im Kampf gegen seine Landsleute unterstützen soll. Ein Informant berichtet ihm von einer Racheaktion der Fenians, die offenbar einen Veteranen aus dem US-Bürgerkrieg ins Boot geholt haben. Sein Name: Stephen Doyle. Seine Profession: Skrupelloser Auftragsmörder. Zwischen diesen beiden Männern entspinnt sich ein tödliches Katz-und-Maus Spiel, indem insbesondere O'Connor einmal mehr Verluste beklagen muss.

Was die beiden Protagonisten angeht, belässt es McGuire weitgehend bei Andeutungen. Biografische Details erfährt man peu à peu, die Trostlosigkeit beider Existenzen erschließt sich aus dem Kontext. Wie bereits in seinem 2016 für den Booker Prize nominierten Roman „Nordwasser“ überzeugt der Autor vor allem durch seine atmosphärischen Beschreibungen jenseits von Militärparaden und Afternoon-Tea. Die düsteren Ecken der viktorianischen Industriestadt, den Gestank, die verratzte Kneipen und die Rattenkämpfe zur Unterhaltung. Er zeigt die Armut, den täglichen Überlebenskampf und die daraus entstehende Gewalt, die die Bedeutung von Menschenleben auf ein Minimum reduziert. Lesen!

Bewertung vom 22.04.2021
Echt sizilianisch kochen
Sammarco, Marinella;Ziltz, Natascha

Echt sizilianisch kochen


ausgezeichnet

Italienische Küche hat so viel mehr als Pasta mit Tomatensugo und Pizza zu bieten. Das wird jede/r bestätigen können, der schon einmal abseits touristischer Pfade in dem Land „wo die Zitronen blühen“ unterwegs war. Marinella Sammarco ist Sizilianerin mit Leib und Seele und Wahl-Stuttgarterin. Sie ist keine ausgebildete Köchin, sondern hat ihr Handwerk von ihrer Oma auf dem Bauernhof und „learning by doing“ von Angelo, ihrem Mann gelernt, mit dem sie nach verschiedenen Stationen mittlerweile in Stuttgart das Restaurant „Il Ritorno“ führt.

Ihr Kochen ist geprägt von den traditionellen Rezepten der Inselküche, die sich schon durch die Einflüsse der unterschiedlichen Völker, die sich im Lauf der Geschichte in Sizilien niedergelassen haben, von der klassischen italienischen Küche unterscheiden. Aber sie ist auch aufgeschlossen für deren Veränderung, wechselt zwischen Tradition und kreativer Innovation, und das schlägt sich auch in der Gestaltung ihres Kochbuchs nieder, das neben Rezepten angefüllt ist mit ihren individuellen Beschreibungen und jeder Menge Tipps.

Zwei große Blöcke bestimmen die Auswahl der vorgestellten Gerichte: Tradizione und Innovazione, die sie auch innerhalb der in italienischen Restaurants üblichen Speisefolge beachtet. Antipasti, Primi Piatti, Secondo Piatti sowie Dolci. Natürlich sind die Klassiker vertreten, aber es gibt auf viel Neues zu entdecken, sei es in der Art der Zubereitung oder auch bei den verwendeten Gewürzen. Ansprechende Fotos runden die Beschreibung der benötigten Zutaten sowie die detaillierten Angaben zur Zubereitung ab.

Gerade in der aktuellen Situation ein höchst willkommenes Koch- und Lesebuch, mit dem man sich ohne großen Aufwand ein Stück Sizilien auf den Teller holen kann. Sehr empfehlenswert!

Bewertung vom 20.04.2021
Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5
Atkinson, Kate

Weiter Himmel / Jackson Brodie Bd.5


ausgezeichnet

Endlich! Neun Jahre hat es bis zur Rückkehr von Jackson Brodie gedauert, obwohl er im fünften Band der Reihe nur eine Nebenrolle einnimmt. Mittlerweile führt der Ex-Polizist, Privatermittler und Teilzeitvater ein ziemlich unspektakuläres Leben in Yorkshire, spricht noch immer mit seinen Hund und setzt sich mit seinem pubertierenden Sohn auseinander. Einige Kilometer weiter gehen in Whitby die drei gutsituierten Freunde Tommy, Andy und Steve unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit ihren schmutzigen Geschäften nach.

Soweit der Rahmen innerhalb dessen Kate Atkinson eine Story entwickelt, deren Bezug zu einem realen Missbrauchsskandal offensichtlich ist. In den Jahren zwischen 2012 und 2015 wurden im Zuge der „Operation Yewtree“ damals ein Pädophilenring gesprengt und zahlreiche prominente Personen verhaftet, angeklagt und verurteilt.

„Weiter Himmel“ ist kein Kriminalroman, obwohl die Autorin schon allein aufgrund der Thematik Anleihen bei diesem Genre macht. Sie zeigt uns die Abgründe, die innerhalb wohlanständiger Familien lauern, und das macht sie äußerst geschickt. Es dauert, bis ein roter Faden erkennbar ist und alle Akteure ihren Platz finden. Auf den ersten hundert Seiten gibt es viele Andeutungen, Informationen, deren Relevanz sich erst allmählich erschließt. Manch eine/r mag es als Detailverliebtheit bezeichnen, aber was mich immer wieder begeistert ist die Sorgfalt, mit der die Autorin den Charakter der jeweiligen Person ausarbeitet. Jede/r hat eine Vergangenheit, Geheimnisse, eine persönliche Geschichte, die sein/ihr Handeln im banalen Alltag prägen und nachvollziehbar machen. Besonders deutlich wird das im Fall von Crystal und Harry.

Atkinson ist eine ausgezeichnete Autorin und versteht es, ein ernstes Thema mit Fingerspitzengefühl in eine gut durchdachte Handlung einzuarbeiten. Passend dazu die Schilderungen einer Region, die schon bessere Tage gesehen hat, sowie die melancholischen Rückblicke in die Vergangenheit der Akteure. Dazu eine gehörige Prise englisch-trockener Humor, und fertig ist ein großartiger Roman, den ich in einem Rutsch gelesen habe.

Bewertung vom 19.04.2021
Einfach indisch - Kochen mit 7 Zutaten
Bharadwaj, Monisha

Einfach indisch - Kochen mit 7 Zutaten


ausgezeichnet

Indisches Essen? Sehr lecker. Indisch kochen? Sehr aufwendig. Komplexe Zutatenlisten, gespickt mit Gewürzen, deren Beschaffung endlos Zeit in Anspruch nimmt, sowie Kochzeiten, die es fast unmöglich machen, auf die Schnelle eine warme Mahlzeit auf den Tisch zu bringen. Aber dies gehört nun glücklicherweise seit Monisha Bharadwajs „Einfach indisch – Kochen mit 7 Zutaten“ der Vergangenheit an, denn die mehrfach ausgezeichnete Kochbuch-Autorin hat ihre Rezepte den Anforderungen der Zeit angepasst und eine Vielzahl von Gerichten kreiert, deren Zubereitung sich weitgehend problemlos in den Alltag integrieren lässt.

Vorausschicken muss man allerdings noch, dass es zusätzlich drei Basis-Zutaten gibt, die zwar in den Auflistungen nicht vorhanden sind, aber häufiger in den Zubereitungsempfehlungen auftauchen, als da wären Sonnenblumenöl, Salz sowie Ingwer-Knoblauch-Paste, für deren Herstellung es eine Anleitung gibt. Auf DIY kann/muss man auch bei dem öfter verwendeten und nicht überall erhältlichen indischen Frischkäse Panir (oder Paneer) zurückgreifen. Hier fehlt leider das Rezept (Vollmilch plus Zitronensaft), ist aber in anderen indischen Kochbüchern oder im Internet zu finden.

Zur Einleitung gibt es eine kleine Gewürzkunde sowie einen Blick in den Vorratsschrank. Die Rezepte sind nach ihren Eigenschaften gegliedert: Frisch, Tröstlich, Schnell, Herzhaft, Süß. Einzig One Pot und Vegan tanzen hier aus der Reihe. Currys und Eintöpfe mit viel Gemüse überwiegen, die Zutatenlisten sind durch die Verknappung auf 7 Komponenten übersichtlich und die Zutaten preiswert(oft Hülsenfrüchte). Die Zubereitung ist gut beschrieben und unkompliziert, erfordert keine besonderen Kenntnisse. Der Zeitaufwand ist übersichtlich, und so steht nach maximal 60 Minuten ein leckeres indisches Essen auf dem Tisch. Indisches Fast Food im besten Sinne. Guten Appetit!

Bewertung vom 18.04.2021
Die Toten vom Gare d'Austerlitz
Lloyd, Chris

Die Toten vom Gare d'Austerlitz


ausgezeichnet

Am 14. Juni 1940 marschieren die Nationalsozialisten in Paris ein und übernehmen die Kontrolle. Ausgangssperre, massive Eingriffe in das öffentliche Leben, Sanktionen. Fluchtartig verlassen die Einwohner die Stadt, nur wenige bleiben zurück. Unter ihnen Eddie Giral, Kommissar der Pariser Polizei, der sich in seinem aktuellen Fall mit den neuen Machthabern in Gestalt des ambitionierten Major Hochstetter auseinandersetzen muss. Auf dem Gelände des Gare d’Austerlitz werden vier Tote in einem Eisenbahnwaggon gefunden, offenbar polnische Flüchtlinge, vergiftet mit Gas. Kurze Zeit später setzt ein weiterer Pole seinem Leben durch einen Sprung aus dem Fenster seinem Leben ein Ende und nimmt seinen kleinen Sohn mit in den Tod. Beiden Fällen gemeinsam ist die Verbindung zu der polnischen Stadt Bydgoszcz, in der die Nazis 1939 unvorstellbare Gräueltaten begangen haben.

Lloyd arbeitet mit zwei Erzählsträngen. Da ist zum einen die 1940er Gegenwart, die sich mit Girals Ermittlungen und seiner Suche nach Antworten auseinandersetzt. Gleichzeitig zeichnet er das authentische Bild einer Metropole, deren Alltag von vielerlei Einschränkungen, Schikanen und Erniedrigungen geprägt ist. In der die Besatzer unmissverständlich zeigen, wer das Sagen hat. Aber Giral hat seinen eigenen Kopf, schert sich wenig um Befehle und bringt sich so immer wieder in die Bredouille. Er scheut kein Risiko, was wohl auch seiner latenten Todessehnsucht geschuldet ist. Das bringt uns zur zweiten Zeitebene im Jahr 1925. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, in dem Giral Soldat war. Zwar hat er überlebt, kann sich aber von den peinigenden Erinnerungen nicht befreien. Sie zerstören seine Familie, nehmen ihm alles, was ihm wichtig ist. Aber vielleicht hat er ja doch noch eine Chance zur Wiedergutmachung.

Ein lesenswerter historischer Kriminalroman zwischen Besatzung und Widerstand, gekonnt mit Fakten und Fiktion spielend, atmosphärisch in Szene gesetzt, der einmal mehr den Fokus auf ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte richtet.

Bewertung vom 11.04.2021
Kill Time / Aidan Waits ermittelt Bd.3
Knox, Joseph

Kill Time / Aidan Waits ermittelt Bd.3


ausgezeichnet

In „Kill Time“, dem abschließenden Band der Aidan Waits-Trilogie, nimmt uns der Autor wieder mit nach Manchester. Er zeigt uns die Schattenseiten dieser Industriestadt im Nordwesten Englands und beweist, dass ein düsterer Thriller aus dem United Kingdom nicht zwingend in Schottland verortet sein muss, obwohl mich Waits stellenweise doch sehr an Alan Parks‘ Glasgower Detective Harry McCoy erinnert. Wie dieser ist er eine gebrochene Figur, seine psychische Verfassung ist fragil, die Dämonen seiner Vergangenheit lauern in jedem Winkel.

Drogen und Alkohol gehören zu seinem Alltag, Grenzüberschreitungen während seiner Einsätze sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Unkonventionell, hart, oft die Legalität vernachlässigend, aber immer getrieben von seiner eigenen Moral, seinem Mitgefühl für die Opfer. Und das gibt ihm die Richtung vor. Ob er damit Vorgesetzten auf die Füße tritt, kümmert ihn nicht. Verpflichtet fühlt er sich nur seinem eigenen Empfinden von Gerechtigkeit.

Versetzt in die Tagschicht und kürzlich zum DS befördert, soll sich Aidan Waits um den Fall des im Sterben liegenden Martin Wick alias „der Schlafwandler“ kümmern, der eine komplette Familie abgeschlachtet hat. Aber Lizzie Moore, eines der Kinder fehlt, ist nicht unter den Opfern zu finden. Bisher gibt es keinerlei Spuren, aber Waits hofft darauf, dass ihm der Killer Hinweise zum ihrem Verbleib geben wird. Vergebens, denn trotz einer Wache vor der Tür verschafft sich jemand Zutritt zu dem Krankenzimmer und tötet Wick, der mit seinen letzten Atemzügen seine Unschuld beteuert.

Misstrauisch geworden verbeißt sich Waits in den Fall, schaut sich nicht nur die Ermittlungen zum Mord an der Familie Moore genauer an, sondern auch die Umstände rund um Wicks Tod. Hätte er mal lassen sollen, denn das, was er zutage fördert, passt so manchem Vorgesetzten nicht in den Kram.

Bewertung vom 07.04.2021
Frühling / Jahreszeitenquartett Bd.3
Smith, Ali

Frühling / Jahreszeitenquartett Bd.3


ausgezeichnet

Ali Smith‘ Jahreszeitenquartett als Romane zu bezeichnen, wird diesen Büchern nicht gerecht. Es sind Chroniken, außergewöhnliche Belletristik, die von der Lage der Nation, von Strömungen und Stimmungen innerhalb der Gesellschaft berichten. Und ihre Aussagen sind, obwohl der Fokus auf Großbritannien liegt, dennoch übertragbar auch auf andere Länder.

„Frühling“, die Zeit der Hoffnung auf Veränderung. Zwei Erzählstränge und vier Menschen bestimmen die Handlung, die sich aus vielen Vignetten zusammensetzt: Paddy, die witzige, intelligente Drehbuchautorin, deren Tod ihren Freund und Kollegen Richard im Innersten erschüttert, ihn sich, sein Tun und sein Leben komplett in Frage stellen lässt. Der ohne konkretes Ziel in einen Zug gen Norden steigt, um seinem Leben dort ein Ende zu setzen.

Brit arbeitet seit kurzem für eine Sicherheitsfirma in einem sogenannten Durchgangszentrum für Asylbewerber nahe der englischen Hauptstadt, das längst seine ursprüngliche Funktion aufgegeben hat. Migranten werden in diesem völlig überfüllten Lager unter unmenschlichen Zuständen über lange Zeiträume interniert. Niemand interessiert sich für sie, für ihre Geschichte, die Gründe ihrer Flucht. Das Auftauchen der zwölfjährigen Florence setzt einen Prozess in Gang, gibt Denkanstöße. Sie überzeugt Brit, das Lager zu verlassen und mit ihr in einen Zug zu steigen. Nach Norden, wo sich ihr Weg mit dem von Richard kreuzen wird.

Die Autorin betrachtet die politische Gegenwart durch die Augen einer Kunstschaffenden, stellt Bezüge her zwischen Gesellschaft und Werken aus Literatur und Malerei, veranschaulicht dies durch Analogien, schleift so auf den ersten Blick die Kanten ab, macht sie aber im genaueren Hinsehen um ein Vielfaches eindrücklicher. Poetisch, empathisch und äußerst kraftvoll erinnert sie uns daran, dass wir zwar nur ein unbedeutendes Rädchen im Getriebe des Jahreslaufs sein mögen, aber dennoch die Möglichkeit haben, die Richtung zu bestimmen und Veränderungen einzuleiten.

Bewertung vom 05.04.2021
Bittersüße Zitronen / Capri-Krimi Bd.2 (eBook, ePUB)
Ventura, Luca

Bittersüße Zitronen / Capri-Krimi Bd.2 (eBook, ePUB)


sehr gut

Gleich vorweg: Alle, die von diesem Krimi Hochspannung erwarten, die zum Nägelbeißen verleitet, sind hier fehl am Platz. Wer sich aber in Zeiten der eingeschränkten Mobilität für einige Stunden in den italienischen Süden wegträumen möchte, kann hier unbesorgt zugreifen.

Bei einem Urlaubskrimi geht es in erster Linie darum zu unterhalten, die besondere Atmosphäre einer Region und die Eigenheiten ihrer Bewohner zu beschreiben, etwas familiären oder persönlichen Hintergrund des Ermittlers hinzuzufügen, plus das Ganze dann noch mit einem eher unspektakulären Mordfall zu garnieren, der den Leser nicht aus seiner Komfortzone reißt. Und das ist dem unter Pseudonym schreibenden Autor Luca Ventura gelungen, auch wenn diesmal nicht die Sonne rot im Meer versinkt und der Himmel angesichts der dunklen Jahreszeit eher grau als blau ist.

Unfall oder Mord? Diese Frage müssen sich der einheimische Agente Enrico Rizzi und seine aus dem Norden strafversetzte Kollegin Antonia Cirillo stellen, als Elisa Constantini mit einer Ape auf einer kurvigen Straße die Böschung hinunterstürzt und ums Leben kommt. Das Fahrzeug war manipuliert und gehört Aurora Bellini, der Eigentümerin einer Fabrik, die im großen Maßstab Zitronen diverser Zulieferer unter anderem zu Limoncello verarbeitet. Und auch die Constantinis beliefern Aurora seit Jahrzehnten. Stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang mit den Plänen der Familie Constantini gibt, die beabsichtigen in die Selbstvermarktung via Crowdfarming einzusteigen. Die Anzahl der Verdächtigen ist übersichtlich, ebenso die möglichen Mordmotive der Verdächtigen. Geht es um Geld? Um eine Familienfehde zwischen zwei Matriarchinnen? War es Eifersucht? Oder etwas ganz anderes?

Die Auflösung dreht sich mehrmals im Kreis und ist nicht gänzlich überraschend. Was mich allerdings erstaunt und was ich so in einem kuscheligen Urlaubskrimi nicht erwartet hatte, waren die kritischen Einschübe, die die Vorurteile der Capresen gegenüber den meist afrikanischen Pflückern thematisierten. Ebenso die Hinweise auf die schlechten Arbeitsbedingungen, die spärliche Entlohnung sowie die menschenunwürdigen Quartiere auf den Zitronenplantagen. Gut so, und ich hoffe, dass der Autor auch in künftigen Bänden der Reihe einen kritischen Blick auf das Urlaubsparadies im Golf von Neapel wirft.

Bewertung vom 04.04.2021
Jaffa Road
Speck, Daniel

Jaffa Road


ausgezeichnet

Berlin, Tunis, Haifa. Stationen, die den Hintergrund für diesen Roman bilden, der von Überlebensstrategien im Teil einer Welt erzählt, in der das Zusammenleben durch politische Einflussnahme und territorialen Anspruch vergiftet wurde. Wo man Intoleranz, Wut und Hass gesät und damit das friedliche Miteinander von Christen, Juden und Muslimen zerstört hat. Wo die Welt noch immer wegschaut, wenn tagtäglich Unrecht geschieht.

„Jaffa Road“ schreibt die Geschichte des ehemaligen Wehrmachtsfotografen Moritz Reincke fort, die 1942 in „Piccola Sicilia“, dem Einwandererviertel in Tunis, ihren Anfang genommen hat, und dessen Leben und Tod untrennbar mit den drei Personen verbunden ist, die sich in der alten Villa in Palermo begegnen. Nina, seine Enkelin und Erbin, ihre jüdische Tante Joëlle und schließlich Elias, der palästinensische Sohn, von dessen Existenz niemand wusste.

Nun könnte man annehmen, dass aus dieser Konstellation ein Roman nach dem üblichen 08/15 Schema wird, in dem es darum geht, ein lange verborgenes Familiengeheimnis zu lüften. Weit gefehlt, denn die Spurensuche dieser drei Beteiligten führt die Leser*innen mitten hinein in eine krisengeschüttelte Region des Nahen Osten und erzählt von einem Leben, geprägt von Brüchen, Widersprüchen und Geheimnissen.

Der Autor macht daraus einen Episodenroman, lässt seine Protagonisten abwechselnd zu Wort kommen, zeigt die Auswirkungen des Konflikts zwischen Israel und Palästina auf das Private, in dem die Zugehörigkeit nicht nur über Familie sondern auch über Nationalität definiert wird. Dieser Wechsel der Perspektive wirkt sich positiv auf den Spannungsbogen aus, hält das Interesse der Leser*innen bei der Stange und – was bei dieser Thematik nicht unwesentlich ist – vermeidet die Parteinahme. So entsteht aus den unterschiedlichen Steinchen der Erinnerungen nach und nach ein farbenprächtiges Mosaik, dessen zentrales Thema die Frage nach Heimat ist und so Herkunft und Identität eher nebensächlich erscheinen lässt.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.