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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 743 Bewertungen
Bewertung vom 05.11.2017
Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?

Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?


gut

Der Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI)

Die Idee, einer großen Anzahl von Wissenschaftlern verschiedener Fakultäten die gleiche Frage zu stellen und die Ergebnisse in einem Buch zusammenzufassen, ist genial. Mehrere Bücher dieser Art sind bereits entstanden. Die Frage des Jahres 2015 lautet: „Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?“

Entstanden ist ein 600 Seiten umfassendes Kompendium mit den Meinungen von fast 200 Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen (Physik, Biologie, Philosophie, Psychologie, Mathematik, Wirtschaft, Informatik, Geschichte, Sprache, Soziologie) zum Thema KI. Der Aufbau des Buches erlaubt es, an verschiedenen Stellen einzusteigen.

Die Meinungen zum Thema driften weit auseinander. Je nach dem, wie KI definiert wird, ist für die einen die KI-Entwicklung schon lange im Gange und für die anderen liegt sie weit in der Zukunft. Die einen sehen Verbesserungen, die anderen Gefahren. Jedenfalls dürfen wir uns nicht wundern, wie Paul Davis es zum Ausdruck bringt, wenn außerirdische Besucher nicht aus Fleisch und Blut bestehen. (62)

Die spannende Frage lautet, ob eine Maschine jemals ein Bewusstsein entwickeln kann. Da wir nicht wissen, was Bewusstsein ist und wie es entsteht (außer durch natürliche Reproduktion von Menschen), kann diese Frage nicht beantwortet werden. Tendenziell wird diese Frage negiert. Es gibt kein Ich im Computer (109) und Maschinen denken nicht über die Zukunft nach (120)

Ob man einfach den Stecker ziehen kann, wie Leo M. Chalupa es zum Ausdruck bringt (122), bezweifele ich, da die Abhängigkeit zu Maschinen viel zu groß ist (s.a. die Finanzkrise (131)). Auch muss man sich fragen, ob Denkmaschinen gefährlicher sind, als gedankenlose Menschen. (128) Oder ist sowieso alle Intelligenz maschinelle Intelligenz, die sich nur in der Herstellung unterscheidet, wie Francis Crick es sieht. (163)

Datenschutz bleibt in einer vernetzten Welt ein zentrales Thema (249) und man muss befürchten, dass dieser ausgehöhlt wird, dank der freiwillig abgegebenen Informationen ans Internet. Auch ist bereits heute nicht mehr klar, ob man es im Netz mit Menschen oder Maschinen zu tun hat. Im Hinblick auf bestehende und entstehende Machtkonzentrationen (346) muss die Frage gestellt werden, ob die Welt demokratisch bleibt.

Das Buch ist kein Ratgeber, kein Fachbuch, kein Lexikon und auch kein typisches populärwissenschaftliches Buch. Dennoch ist es sehr informativ. Durch die eng eingegrenzte Fragestellung halte ich es aber für weniger interessant, als die Vorgängerbücher dieser Reihe. Fazit: KI auf menschlichem Niveau ist noch nicht zum Greifen nah. (621)

Bewertung vom 04.11.2017
Zwischenwelten
Owen, Adrian

Zwischenwelten


ausgezeichnet

Was fühlen Wachkomapatienten?

Neurowissenschaftler Adrian Owen vermittelt den Lesern eine Reise in eine unbekannte Welt. Auch wenn man von Wachkomapatienten schon gehört hat, haben die wenigsten Menschen realisiert, in welchem Bewusstseinszustand sie sich – manchmal über Jahre hinweg – befinden. Owen öffnet ein Tor in eine unbekannte (Insel-)Welt.

Es handelt sich um ein sehr persönliches Buch, in dem der Autor die Entwicklung seiner Karriere als Forscher beschreibt in Verbindung mit Fallbeispielen seiner neurowissenschaftlichen Arbeit. Im Fokus stehen die Menschen, die Owen untersucht einschließlich ihrer Angehörigen.

Die zentrale Frage, um die es in diesem Buch geht, ist die, in welchem Bewusstseinszustand sich Wachkomapatienten befinden. Owen hat mit seinem Team Methoden entwickelt, mit den Patienten, die reaktionslos im Bett liegen, in Kontakt zu treten. Die Ergebnisse beeinflussen wesentlich den Umgang mit den Patienten.

„Wir mussten einen Wachkomapatienten dazu bringen, auf eine Anweisung zu reagieren, die einen bewussten Vorsatz zu entsprechendem Handeln erforderte. Es durfte keine automatische Reaktion sein; es musste eine Handlung sein, zu der er sich entschließen konnte oder nicht.“ (120) Das ist Owens Team mit Hirnscans gelungen, die zwecks Interpretation mit Referenzvermessungen gesunder Patienten verglichen werden.

Es verursacht selbst beim Leser einen kalten Schauer, wenn nach zehn Jahren Isolation mit einem Patienten Kontakt aufgenommen wird. Erstaunlich auch, dass die Patienten (zumindest in den beschriebenen Fällen) mit ihrer Situation zufrieden scheinen und sich nicht beklagen. Dass Owen viele seiner Untersuchungen vorab von einer Ethikkommission genehmigen lassen muss, wundert nicht.

Owen überfordert die Leser nicht mit medizinischen Fachbegriffen. Dennoch hätte ein Einschub über zentrale Begrifflichkeiten nicht geschadet. Das Buch liest sich wie ein Roman, da Emotionen geweckt werden und die Leser neugierig auf die Entwicklung der Geschichte sind. Die Ergebnisse der Forschungen dürften den Beginn markieren für Verbesserungen der Situation von Patienten mit schweren Hirnschädigungen.

Bewertung vom 28.10.2017
Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Roth, Gerhard

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten


sehr gut

Wie entscheidet der Mensch? Wie veränderbar ist er?

Bereits in seinem früheren Buch „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ [1] vertritt der Biologe, Philosoph und Hirnforscher Gerhard Roth die These, dass das Verhältnis von Geist und Gehirn eine interdisziplinäre Angelegenheit ist. Gefordert sei ein Brückenschlag zwischen Neurobiologie, Psychologie und Philosophie. Das dürfte der Grund dafür sein, dass Roth in „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten“ Fragen interdisziplinär angeht. Vielleicht würde man diesem Anspruch durch einen Sammelband von Autoren unterschiedlicher Disziplinen noch mehr gerecht werden können (s. z.B. [2]).

Es geht um Entscheidungsprozesse und um die (klassische) Frage, wie Verstand und Gefühl daran beteiligt sind (Exkurs 2) und darum, wie veränderbar der Mensch ist (Exkurs 3). Doch bevor diese Fragen behandelt werden, fordert Roth die Leser bei der Vermittlung von Grundlagen über den anatomisch-funktionellen Aufbau des Gehirns und Methoden der Hirnforschung. Die Ausführungen sind aus Sicht eines interessierten Laien fremdwortlastig und recht anspruchsvoll.

„Geht es aber um komplexe Entscheidungen, insbesondere von großer Tragweite, dann appelliert man weiterhin intensiv an Verstand, Vernunft und Einsicht.“ (149) Genau diese These wird empirisch nicht bestätigt. Das rationale Vorgehen stößt an seine Grenzen, wenn Situationen zu komplex sind. (173) Aufschlussreich sind zu diesem Thema die Untersuchungen von Ap Dijksterhuis [3], auf die sich Roth bezieht. Es bleibt also schwierig und Roth stellt in Kapitel 8 Entscheidungsstrategien (Kopf, Bauch, Intuition) mit ihren Vor- und Nachteilen gegenüber.

Roth beschäftigt sich ausführlich mit der Veränderbarkeit des Menschen. Die Ausführungen liefern Grundlagen für psychologische Ratgeber zur Personalführung, wobei letztere manchmal Möglichkeiten suggerieren, die aus Sicht der Hirnforschung nicht bestätigt werden können. Der Mensch ist geprägt durch seine genetisch-epigenetische Ausstattung, durch vorgeburtliche und nachgeburtliche Hirnentwicklungen und Erfahrungen und durch psychosoziale Einflüsse während der Kindheit und Jugend. Da bleibt wenig Spielraum für Veränderungen im Erwachsenenalter. Damit liefert die Hirnforschung die wissenschaftlichen Grundlagen für eine Erkenntnis, die im Volksmund weitgehend unbestritten ist.

[1] Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Seiten 12/13
[2] Christian Geyer (Herausgeber): Hirnforschung und Willensfreiheit
[3] Ap Dijksterhuis: Das kluge Unbewusste

Bewertung vom 05.10.2017
Kommen drei Logiker in eine Bar... / Aus der Welt der Mathematik Bd.3
Dambeck, Holger

Kommen drei Logiker in eine Bar... / Aus der Welt der Mathematik Bd.3


sehr gut

Gehirnjogging

Das Buch enthält hundert überwiegend mathematische Rätsel einschließlich ausführlicher Beschreibungen ihrer Lösungen. Die Aufgaben sind thematisch gegliedert. Im Gegensatz zu vielen sonstigen Rätselbüchern stellt der Autor zu Beginn auf ca. zwanzig Seiten Lösungsstrategien vor. Deutlich wird, dass neben mathematischem und logischem Grundwissen insbesondere Querdenken und Kreativität gefragt sind. Das macht die Aufgaben für Rätselfreunde interessant.

Wer sich häufiger mit Rätseln beschäftigt, wird ein paar bekannte Klassiker wiederfinden wie z.B. das Mischungsproblem „Wasser im Wein – Wein im Wasser“. Auch gibt es Rätsel, die ein neues Design erhalten haben, ohne dass sich die Lösungsstrategie geändert hat wie z.B. „Fünf Mützen und drei Gefangene“. Die meisten Rätsel sind mir jedoch nicht bekannt, obwohl ich mehrere Rätselbücher kenne. Es ist ein Buch, welches die grauen Zellen im Kopf in Schwung bringt und das über mehrere Wochen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.10.2017
Die sechs Freiheitsgrade
Dickner, Nicolas

Die sechs Freiheitsgrade


gut

Abenteuer im digitalen Zeitalter

Die Zeiten von „Robinson Crusoe“, „Schatzinsel“, „Tom Sawyer“ und „Onkel Toms Hütte“ sind vorbei, wenngleich es in diesen Werken um Abenteuer und Freiheit geht. Digitalisierung, Automatisierung, Internet und GPS verändern das Leben und so wundert es nicht, dass Abenteuer und Freiheit von kreativen Autoren in einen aktuellen Bezugsrahmen transformiert werden.

In diesem Sinne sind die sechs Freiheitsgrade technisch zu verstehen – aber nicht nur. Lisa Routier und Freund Éric Le Blanc, zu Beginn der Erzählung 15 Jahre alt, wachsen in dem Trailerpark Domaine Bordeur, im Süden von Québec, Kanada, nahe der amerikanischen Grenze, auf. In der Gegend ist nicht viel los und so beschäftigt sich Lisa mit praktischer Technik und der introvertierte Éric mit Computern.

Éric zieht 2006 um nach Kopenhagen und gründet eine Firma. Durch ihre gemeinsamen Interessen bleiben Lisa und Éric in Kontakt. Dabei spielt ein mysteriöser Container, der die Aufmerksamkeit der Hafenpolizei erregt, eine bedeutende Rolle. An dieser Stelle beginnt ein zweiter Erzählstrang, der von der vierzigjährigen Jay, einer ehemaligen Kreditkartenbetrügerin, handelt.

Jay arbeitet als verurteilte Straftäterin für die kanadische Hafenpolizei und hilft dabei, Betrügereien aufzudecken. So clever wie sie ist, so eigensinnig ist sie auch. Aktuell geht es darum, den Geistercontainer Papa Zulu, eingeschleust von Rokov Export, ausfindig zu machen. Ihre unkonventionelle Art bringt sie auf die richtige Fährte. Die beiden Zweige der Erzählung konvergieren.

Irritiert haben mich die unterschiedlichen zeitlichen Verläufe der beiden Erzählungen. Während die Geschichte von Lisa und Éric mehrere Jahre umfasst (mindestens 6 Jahre), sind es bei Jay nur ca. 4 Monate, erkennbar an der häufiger erwähnten Zeit, die sie noch absitzen muss. Da beide Erzählungen sich jeweils abwechseln, entsteht der Eindruck eines parallelen zeitlichen Verlaufs.

Der Plot ist originell und modern. Die stilistische Aufteilung in zwei konvergierende Handlungsstränge ist nicht ungewöhnlich; die unterschiedliche zeitliche Entwicklung sorgt eher für Verwirrung. Es entsteht der Eindruck, dass sich Jay bereits mit Papa Zulu beschäftigt, während Lisa noch Haus Baskine (als 15-jährige) leer räumt. Der literarische Markt wird durch dieses Buch erweitert, es macht neugierig, aber es fesselt nicht.

Bewertung vom 23.09.2017
Als Deutschland noch nicht Deutschland war
Preisendörfer, Bruno

Als Deutschland noch nicht Deutschland war


sehr gut

Alltag in der Goethezeit

Das Buch beschreibt die Zeit um 1800, die wegen der herausragenden Leistungen von Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) auch „Goethezeit“ genannt wird. Bruno Preisendörfer bezeichnet diese Zeit als „gefährlich, unberechenbar, unheimlich“. (17) Das ist nicht mehr als eine Binsenweisheit. Gab es jemals eine Ära, die ungefährlich, berechenbar und sicher war? - Die Leistung des Autors besteht darin, sehr detailliert darzustellen, warum diese Adjektive (auch) für die Goethezeit gelten.

Das Buch ist nicht chronologisch aufgebaut. Im Fokus stehen gesellschaftliche Fragen, die in der Summe den Alltag dieser Epoche erfahrbar machen. Zu den Themen gehören das Leben in der Stadt und auf dem Land, Reisen und Reiseerlebnisse, Essen und Trinken, Modeerscheinungen, Familienleben und Gesundheitsfragen. Wer von Operationen ohne Narkose und von reisenden Zahnbrechern hört, ist froh, in der heutigen Zeit zu leben. Auch waren längere Fahrten mit der Postkutsche mehr Abenteuer als Vergnügen.

Die Stärke des Buches ist gleichzeitig seine Schwäche. Der Autor verliert sich in Details. Auch führen die zahlreichen Zitate eher zu Unterbrechungen des Leseflusses als zur Aufklärung über den Zeitgeist. Das Buch würde ich daher eher Leserinnen und Lesern empfehlen, die es ganz genau wissen wollen. Auf der anderen Seite ist es wegen dem Erzählstil aber auch keine systematische Aufarbeitung der Goethezeit. Zielgruppe dürften Freunde der deutschen Kulturgeschichte sein.

Bewertung vom 11.09.2017
Unbegreifliche Realität
Ditfurth, Hoimar von

Unbegreifliche Realität


ausgezeichnet

„Der Platz zwischen allen Stühlen ist einer der honorigsten, die man heute einnehmen kann.“ (HvD)

Hoimar von Ditfurth (HvD) war ein verantwortungsvoller, kritischer Aufklärer, der über mehrere Jahrzehnte das Weltbild zahlreicher Menschen beeinflusst hat. Es gibt nur wenige Autoren, denen es gelingt, komplexe Wissenschaftsprobleme so anschaulich darzustellen, wie er es konnte. Dabei hat er stets über den Tellerrand geschaut und philosophische Betrachtungen einfließen lassen. Die Sinnfrage hat sein Wirken beeinflusst; sie gipfelte in einem „Plädoyer für ein Jenseits“ in „Wir sind nicht nur von dieser Welt“.

Das Buch enthält Reportagen, Aufsätze, Vorträge und Essays aus der Zeit von 1947 bis 1987. Die Leser erfahren, warum der Mensch zum Renner wurde und woran die sowjetische Akademie der Wissenschaften gekrankt hat. Freie Wissenschaft in einer Planwirtschaft ist ein Widerspruch in sich und funktioniert nicht. Ebenso lüftet HvD in seinen Reportagen das Geheimnis der Geistheiler auf den Philippinen, ohne den „Wunderheilern“ und den Menschen, die daran glauben, ihre Würde zu nehmen.

HvDs Aufsätze sind zeitlos. Besonders gefallen hat mir die Lebensgeschichte von Giordano Bruno, den HvD als den eigentlichen Revolutionär würdigt, im Gegensatz zu Kopernikus, Galilei und Kepler, die Bruno auf seinem Weg in letzter Konsequenz nicht folgen konnten. Bruno hat „die anthropozentrische, scheinbar auf das erlebende Subjekt bezogene Ordnung des Kosmos als perspektivische Illusion durchschaut“. (192) Er erkannte, dass die unzähligen Sterne am Himmel Sonnen sind, wie unsere eigene Sonne.

Aufschlussreich ist HvDs kritische Analyse des materiellen Monismus. Ist Leben eine bei entsprechendem Komplexitätsgrad neu auftretende Systemeigenschaft? HvD, selbst Dualist, listet Argumente auf, die gegen den materiellen Monismus sprechen, ist aber nicht blind gegenüber den Argumenten, die aus naturwissenschaftlicher Sicht gegen den Dualismus sprechen (Energieerhaltung, Kausalität). Wenngleich er Freiheit und Verantwortung verteidigt, hat die moderne Hirnforschung ihn auf diesem Gebiet eingeholt.

In seinen Essays deckt HvD eine große Bandbreite ab und die Themen haben es in sich. Er kritisiert die Esoterikwelle, schürt Zweifel an der Zwangsernährung inhaftierter Terroristen, bricht (als Grüner) eine Lanze für die Gen-Technologie und thematisiert die Kriegsangst und den Rüstungswahn aus psychologischer Sicht, um nur Beispiele zu nennen. Er geht keinen Konflikten aus dem Weg und tabuisiert keine Problemstellungen. Man muss seine Meinung nicht vertreten, man muss sich aber mit seinen Argumenten beschäftigen.

Nachdem ich „Unbegreifliche Realität“ nach vielen Jahren ein zweites Mal gelesen habe, bin ich überrascht, wie wenig sich die Menschheit weiterentwickelt hat und wie aktuell die Themen und Argumentationen geblieben sind. HvD kämpfte stets gegen die anthropozentrische Selbsttäuschung an. Er entwickelte sich vom naturwissenschaftlichen Aufklärer hin zum gesellschaftlichen Warner und Mahner. Ja, die Realität bleibt unbegreiflich.

Bewertung vom 06.09.2017
David Bowie - Die Biografie
Spitz, Marc

David Bowie - Die Biografie


weniger gut

Eine umfangreiche Datensammlung über Bowie

David Bowie zählt zu den kreativsten Künstlern der letzten Jahrzehnte mit einem hoch entwickelten Gespür dafür, ob ein Wandel in der Luft liegt und welcher Stil im Entstehen begriffen ist. Ist es Autor Marc Spitz gelungen, seinen Lebensweg überzeugend abzubilden? Hat er es geschafft, den Menschen hinter den Masken zu zeigen?

Marc Spitz hat eine Fleißarbeit abgeliefert. Sein Buch ist informativ und umfangreich. Spitz zeichnet Bowies Lebensgeschichte nach, widmet seiner Jugendzeit viele Seiten und erläutert seine Alben und Filme. Aber das Buch ist auch zäh, langatmig und trocken. Es strahlt nicht die Kreativität und Lebendigkeit Bowies aus. Vielleicht liegt das daran, dass Bowie selbst nicht zu Wort kommt.

Während ich „Broken Music“ von Sting und „Life“ von Keith Richards verschlungen habe, musste ich mich durch dieses Buch – immerhin über einen meiner Lieblingskünstler – mühsam durchkämpfen. Es ist eine prosaisch aufbereitete Datensammlung, die den Leser nicht fesselt. Vielleicht hätten Interviews mit Bowie integriert werden müssen. Spitz hat zwar die eine oder andere Maske Bowies gelüftet, aber nicht den Menschen Bowie in seinem Kern erreicht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.09.2017
Der Geist fiel nicht vom Himmel
Ditfurth, Hoimar von

Der Geist fiel nicht vom Himmel


ausgezeichnet

„Auch wir sind in Wahrheit nur die Neandertaler unserer biologischen Nachfahren.“ (308)

„Unsere Wirklichkeit ist nicht identisch mit der realen Welt, und wir sind nicht identisch mit dem Homo sapiens, von dem die Philosophen der Aufklärung träumten.“ (314) Wissenschaftsautor Hoimar von Ditfurth (HvD) begründet in seinem Buch ausführlich auf Basis der biologischen Entwicklung im Zuge der Evolution, dass die rationale Natur unseres Welterlebens ein Vorurteil ist. Wesentliches Kriterium der Evolution ist das Überleben und nicht das Erkennen der realen Welt.

HvD spannt den Bogen von der Urzelle bis zur Entwicklung des Großhirns. Deutlich wird, dass in der Frühphase der Entwicklung Vorentscheidungen getroffen wurden (z.B. „So wenig Außenwelt wie möglich und nur so viel Außenwelt, wie unbedingt notwendig.“ (37)), die das Leben der höheren Arten einschließlich des Menschen noch heute bestimmen. Das gilt auch für die elementaren Kriterien „unterscheiden“, „erkennen“ und „auswählen“. Auch ist es kein Zufall, dass wir „süß“ als angenehmen Geschmack empfinden.

Das Gehirn lässt sich, vereinfacht gesehen, in Hirnstamm, Zwischenhirn und Großhirn gliedern, wobei das Großhirn den Endpunkt der bisherigen Entwicklungsgeschichte bildet. Dabei macht HvD deutlich, dass diese Einteilung nicht die einzig denkbare ist, aber auf Basis dieses Modells die Zusammenhänge anschaulich erläutert werden können. (276/277) HvD beschreibt die Funktionen von Stammhirn, Zwischenhirn und Großhirn und macht auf dieser Grundlage deutlich, warum der Mensch zu irrationalen Handlungen neigt.

Das Stammhirn ist für vegetative Funktionen und das Zwischenhirn für auf die Außenwelt gerichtete Verhaltensprogramme zuständig. Beide Gehirnteile sind nicht lernfähig; diese Leistung taucht erst beim Übergang zum Großhirn auf. Da alle Verbindungen zwischen dem Großhirn und der Außenwelt durch die älteren Hirnteile verlaufen, ist ein Verständnis menschlichen Verhaltens nur möglich, wenn auch die Abhängigkeiten zu diesen archaischen Gehirnteilen entsprechend berücksichtigt werden.

Was Bewusstsein letztlich ist, kann auch HvD nicht erklären. Er macht bereits im Vorwort deutlich, wo das Problem liegt. „Es fehlt uns, wie der Evolutionstheoretiker sagen würde, eine nächsthöhere, eine „Meta-Ebene“, von der aus allein wir umfassend überblicken könnten, was Psychisches ist.“ (15) Dennoch beschreibt er plausibel die Rahmenbedingungen, die für Bewusstsein auf Grundlage der Evolution gelten. Die objektive Welt ist für uns unerreichbar und dank HvD wissen wir auch warum.

Bewertung vom 02.09.2017
Homo hapticus
Grunwald, Martin

Homo hapticus


ausgezeichnet

"Es gibt viel zu tun, tasten wir uns voran!" (20)

"Ohne Tastsinn könnten wir nicht leben." (9) Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors in Leipzig, macht deutlich, dass wir ohne Tastsinn nicht einmal wüssten, dass wir existieren. Damit kommt dem Tastsinn eine Bedeutung zu, die weit über das hinausgeht, was man zum auditiven und visuellen Sinn sagen kann. Der Autor erklärt, warum das so ist.

Der Tastsinn ist das erste Wahrnehmungssystem, welches sich entwickelt; bereits das Embryo reagiert auf Berührungsreize. Grunwald beschreibt die drei Grundbausteine des Tastsinnessystems, die für die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins verantwortlich sind. Dazu zählen die Fähigkeit, den Zustand des Körpers wahrzunehmen, die Außenwahrnehmung sowie die Wahrnehmung von Bewegungen des Körpers im Raum.

Wer sein Kind in geistiger und körperlicher Hinsicht fördern möchte, benötigt dafür keine technischen Hilfsmittel wie z.B. Tablets. Ganz im Gegenteil wirken sich elektronische Geräte – zu früh eingesetzt - eher negativ auf die Entwicklung des Kindes aus. Das steht in Einklang mit dem, was Markowetz [1] und Spitzer [2] zum Thema veröffentlicht haben. Letztlich müssen die Umweltangebote stimmen. Kinder trainieren ihre Feinmotorik durch tastende Aktivitäten an verschiedensten Objekten.

Es gibt unterschiedliche Rezeptoren und die findet man überall, außer im Gehirn. Der Autor macht deutlich, dass der aufrechte Gang nicht nur die richtige Koordination von Muskeln und Knochen erfordert, sondern aus dem Blickwinkel des Tastsinns eine sensorische Meisterleistung darstellt. Berührungen führen zu bioelektrischen und biochemischen Veränderungen und wirken sich auf das Wohlbefinden aus. Massagestudios und Pflegeheime nutzen diesen Effekt.

Erkrankungen und Störungen des Tastsinnessystems können sehr schwerwiegend sein, wie der Autor an Beispielen deutlich macht. So bezeichnet der Autor Störungen des Körperschemas als Super-GAU, da diese dazu führen, dass Teile des Körpers als Fremdkörper empfunden werden. Grunwald entwickelt in seinem Labor Therapieansätze, wie mit solchen Störungen umgegangen werden kann. Es geht in seinen Ausführungen aber nicht nur um Erkrankungen, sondern auch um Gesundheitsvorsorge.

Die Gesundheit wird gefördert, wenn der Mensch in den Mittelpunkt gerückt wird und nicht die Produkte, die er nutzt. Die Produkte haben sich dem Menschen anzupassen. Das ist die Geburtsstunde des Haptik-Designs, bei dem der Fokus nicht auf der Optik liegt, sondern auf dem Tastsinn. Das Thema ist mittlerweile im Produkt-Design, in der Werbung und im Marketing angekommen. Produkte, die sich schlecht anfühlen, verkaufen sich auch schlecht.

Der Autor stellt in seinem Buch einige Projekte des Haptik-Forschungslabors vor. Es geht dabei um Grundlagenforschung und um konkrete Anwendungen. Letztere unterstreichen den Nutzen für den Menschen. Mit diesem Aufklärungsbuch richtet Grunwald den Fokus auf den Tastsinn. Das Thema ist nicht nur für Autobauer aufschlussreich, wenn es um Design-Fragen geht, sondern spricht in seiner Vielfalt jeden an. Die Ausführungen sind verständlich und die Beispiele prägnant.

[1] Alexander Markowetz: Digitaler Burnout
[2] Manfred Spitzer: Cyberkrank!