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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Agfa Leverkusen
Hillen, Boris

Agfa Leverkusen


ausgezeichnet

Kishone Kumar ist Hochzeitsfotograf in der indischen Provinz Rajasthan. Obwohl der junge Mann in Zeiten der Schwarzweiss-Fotografie stolz auf seine Arbeit sein könnte, fühlt er sich nicht wirklich anerkannt. Mit der Entwicklung des Farbfilms verlangen Kishones Kunden Farbfotos und setzen ihn damit in Zugzwang. Farbfilme kann er jedoch nicht selbst entwickeln, das Entwickeln in der nächsten Stadt würde den Hochzeitspaaren viel zu lange dauern. Kishone ist Schwarz-Weiss-Fotograf mit Leib und Seele; denn 'ein farbiges Bild duftet nicht'. Seine Begegnung mit der amerikanischen Fotojournalistin Joan zeigt Kishone, dass Geschwindigkeit für einen Fotografen keine Hexerei sein muss; Joan lässt im Fotolabor ihrer Redaktion entwickeln. Durch einen Farbfilm, den Kishone von Joan erhält, entsteht die verrückte Idee, gemeinsam mit seinem Freund Amitabh per Motorrad nach Leverkusen in Deutschland zu fahren, wo Farbfilme produziert werden. Kishones bildliche Vorstellung von Europa als Landkartenausschnitt in Daumengröße illustriert die Verrücktheit seines Plans. Am Ende seiner abenteuerlichen Reise über Kabul und Istanbul landet Kishone in einer Berliner WG. 30 Jahre später begibt sich (unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter) Saxona aus Deutschland in der Gegenrichtung auf eine Reise nach Indien. Die junge Frau folgt ihrer sehr märchenhaften Vorstellung von Indien, reist aber auch auf den Spuren ihrer Eltern. Ihren Reisebegleiter Tom hat Saxona kurzfristig per Kleinanzeige gefunden; finanziert werden soll die Tour durch die Überführung zweier Motorräder. Istanbul wird für das Paar aus Deutschland zur Drehscheibe zwischen Orient und Okzident, wie damals schon für die beiden jungen Inder.

Kishone als wertkonservativer Fotograf war in diesem Roman mein Held und zugleich Prophet wider Willen. Der abenteuerlustige Inder lieferte seinen Kunden Fotos, die für die Ewigkeit gemacht waren. In den 70ern konnte Kishone noch nicht ahnen, dass die für ihn existenzbedrohende Farbfotografie nur eine kurze Episode in der Geschichte der Fotografie sein würde. Die Qualität der farbigen Abzüge war Kishones Arbeiten weit unterlegen, die Farben verblassten oft noch zu Lebzeiten der Portraitierten.

Boris Hillen schlägt mit seiner verschachtelten Abenteuergeschichte einen an die Entwicklung der analogen Farbfotografie angelehnten zeitlichen Bogen, der zugleich mit dem Ende dieser Technologie (2009 bei Kodak in den USA und 2005 bei Agfa in Deutschland) abschließt. Handlungsfäden auf zwei Zeitebenen laufen aufeinander zu, bis die Identität der Figuren und ihre Beziehung zueinander geklärt ist. Hillen entmystifiziert aus der Distanz der Gegenwart die Tätigkeit des Fotojournalisten mit einem kritischen Blick auf Joan, die wie ferngesteuert von Einsatz zu Einsatz jettet, "um neue Watergates zu entlarven und korrupte Regierungen erzittern zu lassen". (S. 202) Joans sinkender Stern als Journalistin beschert ihr eine berufliche Sinnkrise, als sie vor der Wahl steht, nach Kambodscha oder Nicaragua gehen müssen, wenn sie weiter in der Spitzengruppe ihres Berufs mitmischen will. Für mich als Leserin und Zeitschriftenkäuferin bietet die Begegnung mit Joan einen Perspektivwechsel zur Branche, die Nachrichten und Fotos liefert, regt aber auch zum Nachdenken über USA- und Indien-Bilder der 70er in den Köpfen der Hippie-Generation an.

'Agfa Leverkusen' entwickelt sich zu einer teils grotesken Spurensuche und zu einer Abenteuergeschichte, in der unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen. Interesse an Fotografie und Zeitgeschichte sollten Leser des Romans mitbringen. Auch Leidensfähigkeit gegenüber den Perspektiv- und Zeitwechseln des Buches ist nötig; denn zu Beginn der Kapitel war mir nicht immer sofort deutlich, wer sich gerade wo und mit wem befand.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Junge, den es nicht gab
Sjón

Der Junge, den es nicht gab


sehr gut

Nach dem Tod seiner Mutter hat man Máni zu seiner Urgroßtante Karmilla gegeben, mit der auf einem Dachboden lebt. Der 16-Jährige verdient ab und zu Geld als Stricher, für die Verhältnisse im Jahr 1918 erzielt er damit hohe Einnahmen. 1918 erlebt Island durch die Einschränkung des Schiffsverkehrs als Folge des Ersten Weltkriegs eine Wirtschaftskrise. Im Dezember des Jahres wird die Insel unabhängig von Dänemark werden, das Land mit knapp 100 000 Einwohnern gehört damals zu den ärmsten Ländern Europas. Von einem Schiff im Hafen Reykjaviks aus breitet sich die Influenza aus, die Spanische Grippe. In kurzer Zeit ist Stadt wie leergefegt. Angesichts der vielen Kranken bricht die Versorgung (auch der gesunden Bevölkerung) zusammen; es wird nicht mehr gebacken und gewaschen. Da zur Zeit der Handlung der Vulkan Katla ausgebrochen war, lag durch die Aschewolke die Stadt im Dunkeln. In einer Art trotzigem Widerstand gehen die jungen Leute trotz der Ansteckungsgefahr durch die Grippewelle weiter ins Kino. Mánis erste Sucht, das Rauchen, wird schon bald von der Sucht nach Kinofilmen abgelöst. Es ist die Zeit des Stummfilmes und Reykjavik (mit damals gerade 15 000 Einwohnern) hat zwei Kinos. Als Máni aus üblen Alpträumen erwacht, sitzt ein völlig erschöpfter Arzt an seinem Bett, von seiner schweren Erkrankung hat der Junge nichts mitbekommen. Máni hilft beim Abtransport der vielen Grippetoten. Als Mánis Homosexualität offensichtlich wird, führt Dr Garibaldi die sexuelle Orientierung des Jungen auf den schlechten Einfluss der Filme zurück. Schließlich ist er sowieso gegen Kinofilme und ruht nicht, davor zu warnen. Jahre später kommt ein Filmteam nach Reykjavik, und in Mánis Vorgeschichte klärt sich überraschend, was mit Mánis Mutter geschehen war.

Sjón erzählt in seiner Novelle von knapp 150 Seiten kühl und distanziert das Schicksal eines elternlosen Jungen in Reykjavik im Jahr 1918. Der historische Hintergrund (mit Ausbruch der 'Spanischen Grippe' und Ausbruch des Vulkans Hekla) ist authentisch. Schon bald nach Ausbruch der Pandemie erkannten Ärzte die Rolle von Hafenstädten für die Verbreitung der schweren Grippeerkrankung, eine Schließung von Häfen zur Verhinderung weiterer Grippetoten konnten sie jedoch nicht durchsetzten. Die Verdichtung der Ereignisse auf die Stadt Reykjavik und auf die Person des betroffenen Jungen liest sich beeindruckend und hat meine Neugier für das historische Thema Influenza geweckt. Sjón, bekannt für seine knappe Sprache, erzielt mit diesem kurzen Text eine eigenartige Distanz zur Homosexualität seines jungen Protagonisten. Mánis Sexualität (außerhalb der Stricherszenen) wirkt wie etwas, das ihm zustößt, an dem er kaum beteiligt ist.

Bewertung vom 04.01.2017
Leben ist nicht schwer
Beaulieu, Baptiste

Leben ist nicht schwer


sehr gut

Der Tagebuchschreiber und Erzähler, der sich im Buch Samuel nennt, arbeitet als Assistenzarzt in einem französischen Krankenhaus. Die Tagebuchstruktur seiner Erlebnisse gibt die Schlagzahl seines Berufslebens während einer Arbeitswoche wieder. Gearbeitet wird von 7 bis 21 Uhr in geteiltem Dienst mit längerer Mittagspause; die jungen Ärzte wohnen auf dem Krankenhausgelände in bescheidenen Verhältnissen im Wohnheim. Samuel wechselt jeden Tag zwischen der Notaufnahme und anderen Stationen hin und her, u. a. der Geriatrie und der Palliativstation. Der junge Mediziner ist sich der Tatsache bewusst, dass die Person des Arztes als Plazebo eingesetzt werden kann, er erklärt und tröstet mit Geschichten. Meist wissen Arzt und Patient, wenn ein Patient am Ende seines Lebens angelangt ist, ohne diese Erkenntnis auszusprechen. 'Wenn ich [den Patienten] nicht heilen kann, begleite ich ihn so friedlich wie möglich bis zu seinem Tod', ist Samuels Devise. (S. 192) Samuels Geschichten haben inzwischen ein Eigenleben entwickelt, er tauscht sie mit Kollegen aus, die wiederum Samuels Geschichten nutzen, um Schwerkranke und Sterbende zu unterhalten. Ziel der Ärzte ist dabei u. a. die Einsicht zu vermitteln, dass es immer jemanden gibt, dem es noch schlechter geht als dem Betroffenen. Samuel scheint ein Mensch zu sein, der vom Leben dringend Wunder erwartet. Innerhalb der geschilderten Arbeitswoche wird deutlich, dass der junge Arzt bereits gelernt hat, was es bedeutet, alt und hilfebedürftig zu sein. Wie eine Art Subtext zeigt Samuels Tagebuch die sozialen Ursachen auf, warum Patienten in die Notaufnahme kommen anstatt zum Hausarzt zu gehen, und man erhält Einblick in die Familienverhältnisse der Kranken, die sich in hohem Alter zum Teil nicht mehr bewusst sind, dass ihre Kinder längst nicht mehr leben.

Notärzte in aller Welt haben einen sehr speziellen Humor, Franzosen haben ihre spezielle Art, makabre Geschichten zu erzählen. Als Assistenzarzt in einem französischen Krankenhaus konzentriert Baptiste Beaulieu die Essenz aus beiden Perspektiven. Kenntnisse des Französischen und über Frankreich schaden nicht, um seine Sicht der Dinge nachvollziehen zu können. Als Zielgruppe des Buches kann ich mir Leser vorstellen, denen die heitere Atmosphäre aus 'Ziemlich beste Freunde' gefällt. Beaulieus Sinn für Humor konnte ich nicht immer folgen; von alten Menschen als 'Oma' oder 'Opa' zu sprechen, finde ich beispielsweise überhaupt nicht witzig.

Bewertung vom 04.01.2017
DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Bretagne
Görgens, Manfred

DuMont Reise-Taschenbuch Reiseführer Bretagne


ausgezeichnet

Mit allein 1200km Meeresküste ist die Bretagne im Nordwesten Frankreichs ein ausgedehntes Urlaubsgebiet, in dem man Jahr für Jahr Neues entdecken kann.

Gliederung und Inhalt
Manfred Görgens teilt seinen Reiseführer in 7 Regionen, die er im Buch wie eine grobe Reiseroute vom äußersten Nordosten (Rennes und Umgebung) bis zum Südosten (Quiberon und Morbihan) anordnet. Reisende müssen für einen Bretagne-Urlaub aus einer Vielzahl von Sehenswürdigkeiten auswählen. Die Orientierung unterstützt der Autor durch seine Beschreibung vom Allgemeinen bis zum konkreten persönlichen Tipp. Da ein großer Teil der vorgestellten Sehenswürdigkeiten an der Küste liegt, nähert Görgens sich 'seiner' Bretagne von allgemeinen Informationen zu Stränden, Wanderwegen und Wetterverhältnissen zu konkreten Tipps für Hotels, Restaurants und (wenige) Campingplätze. Empfohlen werden auch günstige Gästezimmer. Bei der Bewertung der Unterkünfte nimmt er kein Blatt vor den Mund und nennt auch Nachteile seiner ausgewählten Adressen.

Die Infos zu Orten, Landschaften und Sehenswürdigkeiten sind sehr kurz, teils nur eine halbe Spalte, die ausführlicheren Reportagen und Essays umfassen eine Doppelseite. Zweiseitige Texte gibt es z. B. zu Calvaires, der Bretonischen Sprache, keltischer Identität und der Amoco-Cadiz-Katastrophe. Für den groben Überblick genügt das, nicht jedoch, wenn man genauer über Wirtschaft und Geschichte seiner Urlaubsregion informiert werden will. Unter Görgens Auswahl an Aktivitäten sind mir positiv Flusskreuzfahrten und Reisen mit dem Hausboot aufgefallen, die eine Region von einer ungewohnten Seite zeigen.

Der Reiseführer aus der Reihe Dumont-Taschenbuch passt mit seinem sehr handlichen Format in die sprichwörtliche Jackentasche und enthält eine Karte (Stand 2014) im Maßstab 1:540 000 (ein Maßstab, mit dem allein man in der Bretagne nicht weit kommt). Farbige, sehr deutliche Detailkarten und Stadtpläne sind im Text enthalten, die Verknüpfung von Text und Karte ist mit farblich abgesetzten Ziffern übersichtlich. Die Stadtpläne entsprechen denen der grünen Reihe (Dumont Reisehandbuch).

Aktualisierungen
... können auf der Verlagswebseite ohne Registrierung als pdf, epub oder iMobi heruntergeladen werden. Zur vollständigen Nutzung der Aktualisierung muss man sich registrieren. Da sich z. B. Öffnungszeiten oder Urteile über Restaurants schnell ändern können, zeugt dieser Ansatz von Fairness gegenüber Anbietern und Interesse des Verlags, Buchkäufer als Stammkunden zu binden.

Fazit
Ansprechend finde ich den Tonfall des Reiseführers, als würde ein guter Bekannter seine persönlichen Erfahrungen vermitteln. Geeignet ist Görgens 'Bretagne' für Neulinge wie für erfahrene Reisende, die zusätzlich zum Reiseführer Hotel- oder Campingführer nutzen. Auch nach häufigen Bretagne-Urlauben und mit einem Meter Bretagne-Literatur im Regal habe ich Nutzen aus dem Reiseführer gezogen.

Bewertung vom 04.01.2017
Was wir nicht wussten
Nesbit, TaraShea

Was wir nicht wussten


sehr gut

Am Ende der Geschichte wird am 16.7.1945 südlich von Los Alamos die erste Atombombe mit einer Sprengkraft von 21 Kilotonnen TNT gezündet werden.

1943 werden unter höchster Geheimhaltung Wissenschaftler aus aller Welt mit ihren Familien in den Bergen New Mexicos nördlich von Santa Fe in einem Lager angesiedelt. Über das Projekt in der abgeschotteten Gebirgsfestung muss gegenüber Freunden und Verwandten eisern geschwiegen werden. Den Kindern wird beigebracht, sich außerhalb des Lagers Fremden gegenüber nicht zu verplappern, wo sie leben. Der Einfluss des Geheimdienstes führt z. B. zu der absurden Entscheidung, dass eine Engländerin keine amerikanischen Kinder unterrichten darf.

Die Erzählerin schreibt eine fiktive Geschichte aus der Sicht der Ehefrauen dieser Wissenschaftler in der Wir-Form. Alles scheint allen gleichzeitig zu geschehen. Die Ehefrauen sind teils selbst Wissenschaftlerinnen, die mit ihrer Heirat die eigene Karriere aufgeben. Diejenigen, die vor ihrer Heirat Physikerinnen waren, könnten sich theoretisch mit ihren Männern über deren Projekt unterhalten, wenn - das Projekt nicht höchst geheim wäre. Mit fortlaufender Handlung entlarvt sich das von außen aufgezwungene 'Wir' zunehmend als Farce; denn Frauen verschiedener Nationalitäten, mit und ohne Berufsausbildung, mit und ohne Kinder können sich kaum als homogene Gruppe erleben. Ihre Kinder werden zu 'unsere Michaels, unsere Cheryls'. Die USA befinden sich spürbar im Zweiten Weltkrieg, Benzin gibt es nur auf Bezugsschein. Die Brüder der Frauen sind noch im Krieg und die eigenen Ehemänner könnten jederzeit zur Armee eingezogen werden. Anfangs ist das Lager nicht viel mehr als eine Baustelle, Unterkünfte sind im Bau, Klassenschranken zwischen Steinhäusern und Spanplattenbauten nicht zu übersehen. Wenn das Wasser zur Neige geht, sind Badewannenbesitzer und Duschbesitzer wieder gleichgestellt. Das Leben der Ehefrauen scheint sich auf den Kampf mit der Armee als Behörde um Komfort und Versorgung mit Lebensmitteln zu beschränken. Ihre Ansprüche wirken kindlich-egozentrisch. Selbst wenn in den 40ern Hausarbeit weit aufwändiger war als heute, wirkt die Forderung nach einem Hausmädchen für eine Hütte in der Wüste sonderbar, das Jammern darüber noch exzentrischer, das Hausmädchen nicht von der Armee bezahlt zu bekommen. Am Ende der beiden Jahre in Los Alamos scheint das gesichtslose 'Wir' sich wieder in Einzelpersonen aufzulösen. Die Michaels und Cheryls werden selbst Wissenschaftler, die eines Tages eine Stelle suchen werden. Die Enkel der Frauen von Los Alamos werden eines Tages fragen: Oma, was hast du eigentlich während des Zweiten Weltkrieges getan ...

Die Gespräche und Gedanken dieser Frauen sind langweilig, sie nerven in ihrer Ichbezogenheit und Blauäugigkeit. Das Leben müsste nicht langweilig sein; denn sie stammen aus verschiedenen Ländern, könnten sich für ihre Umgebung und die dort gesprochene Sprache interessieren, aber sie jammern. Wenn man das Ereignis kennt, zu dem die Handlung führen wird, kann das sozialpsychologische Experiment hinter Stacheldraht aus der Sicht der Ehefrauen dennoch spannend sein. So wie Form und Abdruck ineinanderpassen, ergänzt der sehr kurze Text die Geschichte der Atombombe aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Das Buch hat mich genervt; dennoch bin ich froh, es gelesen zu haben.

Bewertung vom 04.01.2017
Begegnungen mit China und seinen Nachbarn
Mishra, Pankaj

Begegnungen mit China und seinen Nachbarn


gut

Im Kontakt zu fremden Kulturen erlebt fast jeder den Punkt, an dem man aufgrund der eigenen kulturbedingten Scheuklappen kritisiert, dass ein Staat irgendein Ziel "noch nicht" erreicht hätte, das einem selbst am Herzen liegt. Sei es Bildung, Gesundheit, Gleichstellung von Frauen, Tier- und Naturschutz, oder die von europäischen Politikern mit Blick auf die übrige Welt gern angemahnte Demokratisierung. Eigene Idealvorstellungen werden hier projiziert, anstatt sich mit Zielen zu befassen, die der betreffende Staat sich selbst gesetzt hat. - Bereits auf der ersten Seite seiner Essays zu China und dessen Nachbarstaaten stellt Pankaj Mishra die Bedeutung der eigenen kulturellen Brille für die Beurteilung anderer Staaten heraus. Als Bewohner des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh im Norden Indiens hatte Mishra sich zuvor nicht bewusst gemacht, dass andere Tibet als Wegkreuzung innerhalb des indischen Kulturraums wahrnehmen, weniger als "autonome Provinz" und Teil Chinas. - Mishra will seinen Lesern über das Verstehen Chinas Asien nahebringen. Bei seinen Reisen in Chinas Nachbarländer werden ihm Gemeinsamkeiten in der Geschichte Indiens und Chinas bewusst, aber auch Gegensätze, die ebenso schwer zu überwinden sind wie die Bergkette im Norden des indischen Kontinents. Zu den Gemeinsamkeiten gehören: das Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem als arrogant und herablassend empfundenen Westen, die vergleichsweise späte Entwicklung zum Nationalstaat, die späte Wendung zum Kapitalismus der Moderne, der indisch-chinesische Krieg (1962), korrupte dynastische Eliten als Fortschrittshemmnis, die schamlose Bereicherung dieser Prinzlinge an staatlichem Eigentum, wirtschaftlicher Fortschritt als Förderung von Gier und Umweltzerstörung, Fremdenfeindlichkeit (teils staatlich instrumentalisiert), unvorstellbare Armut der Landbevölkerung, die Situation der Frauen. Nicht für alle Entwicklungen im modernen China hat die indische Geschichte jedoch Erklärungsmuster zu bieten. Mishra sieht Indien als Vorreiter, der aufzeigen kann, wohin der chinesische Weg die neue Mittelschicht des Landes führen wird: In Indien tendieren Globalisierungsgewinner zu konservativen bis reaktionären Auffassungen (S. 118). Gemeinsam scheint beiden Staaten zu sein, dass in der Mittel- und Oberschicht die Aussicht auf persönliche Bereicherung den Wunsch nach persönlichen Freiheiten drastisch verringert. Wer als Gewinner der Verhältnisse selbst satt ist, zeigt kaum Interesse an Menschenrechten, Bildung und medizinischer Versorgung für alle. Mishras Beispiel Indien sollte all jenen eine Mahnung sein, die wider besseres Wissen Wirtschaftswachstum als Antrieb und Garanten für demokratische Prozesse in jungen Staaten sehen wollen. Natürlich fragt man sich bei der Gegenüberstellung Indien/China, wie kritisch die Analyse eines Autors überhaupt ausfallen kann, für den ein kleptokratischer Staat der Normalzustand ist, in dem Gewinne in private Taschen fließen, die volkswirtschaftlichen und menschlichen Kosten dagegen zum privaten Schicksal erklärt werden. Mishras Stärke, als Asiate China zu analysieren, ist aus europäischer Sicht zugleich seine Schwäche, wenn es um Gemeinsamkeiten beider Staaten geht. - Pankaj Mishra wird vom deutschen Feuilleton als brillanter Analyst gefeiert. Den eigenen beschränkten eurozentrischen Blick auf Asien kann einem der Autor durchaus bewusst machen. Auch seiner Suche nach Gemeinsamkeiten in der Entwicklung Indiens und Chinas bin ich interessiert gefolgt. Die Ankündigung, seinen Lesern China verständlich zu machen, setzt Mishra jedoch nur in Grenzen in die Tat um. Der Eindruck unvollkommen verknüpfter Fäden ergab sich bei mir, weil einige von Mishras Reisen schon länger zurückliegen (Tibet 2007, Taiwan 2008), wie auch aus dem Umfang, in dem Erkenntnisse anderer Autoren referiert werden, ohne die einzelnen Aspekte tiefer zu analysieren.

Bewertung vom 04.01.2017
Wie wir älter werden
Schweikert, Ruth

Wie wir älter werden


ausgezeichnet

Jacques und Friederike sind in eine altengerechte Wohnung gezogen. Das Leben des betagten Paars ähnelt dem vorsichtigen Balancieren auf einem Seil, das jederzeit mit dem Absturz in die Pflegebedürftigkeit enden kann. Friederike nimmt in Raten Abschied von Kompetenzen; wegen ihrer brüchigen Stimme hat sie ihren geliebten Chor aufgegeben. Nicht zu fallen, absorbiert einen großen Teil ihrer Aufmerksamkeit. Friederike braucht keine Anregungen mehr von außen, sie ist sich selbst Last genug. Ehemann Jacques scheint das verletzlich wirkende Arrangement noch zusammenzuhalten, auch wenn ihn beschäftigt, wie er einmal sterben wird. Zwischen beruflichen Terminen eilt Tochter Kathrin zu Kurzbesuchen herbei, die ihren Eltern kaum Unterstützung bieten. Rhetorische Manöver sollen beide Seiten beruhigen, doch längst ist nichts mehr zu beruhigen. - . Die Patchwork-Struktur ließ mich ab und zu innehalten, um mich zu fragen, von wessen Tochter mir da gerade erzählt wird. Den zeitlichen Rahmen bilden historische Ereignisse, weitausholend von Friederikes deutschem Vater als Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs, über die Mondlandung (1968) bis zum Attentat von Utøya (2011). Dem spürbaren Altern des Elternpaars im Prolog folgt das Schicksal der als Babyboomer geborenen Generation und ihrer Nachkommen. 1964, im Jahr von Kathrins Geburt, hat Jacques mit seiner Geliebten Helena eine weitere Tochter gezeugt, die von ihrem leiblichen Vater zunächst nichts weiß. Kathrin und ihre Halbschwester gehören zu einem zahlenmäßig starken Geburtsjahrgang, der einem sich abzeichnenden "Pflegenotstand" entgegen altert. Helena ist bereits verstorben, in beiden Familien gibt es erwachsene Enkel. - Das Altern der mittleren Generation war für mich das eigentliche Thema dieses Familienromans. Kathrin ist mit rund 50 Jahren beruflich zwar auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. Sie hat lange vor der Lebensmitte aber bereits den frühen Tod Gleichaltriger erlebt, den Abschied von Träumen und den Punkt, von dem an alles nur noch abwärts zu gehen scheint. Ein roter Faden im Buch war für mich die finanzielle Abhängigkeit dieser mittleren Generation von den Eltern. In beiden der von Jacques begründeten Familienzweige scheitert die folgende Generation daran, sich und ihre Kinder aus eigener Kraft zu ernähren. Erst Brennan, Iris Sohn, distanziert sich von der finanziellen Abhängigkeit und will unabhängig von seiner Mutter leben. Die Kinder scheinen nicht erwachsen zu werden, ihre Eltern können in hohem Alter immer noch nicht aufhören, sich um sie zu sorgen. Doch der Kokon zeigt erste Risse. Eine Gesellschaft von Erben, die Demokratie und Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht selbst erkämpft hat, ruht sich auf den von den Eltern gewonnenen Lorbeeren aus, zu kraftlos, um für sich selbst zu sorgen. Die Symbolik einer kindlich-fordernden, gefräßigen Göre als amerikanische Noch-nicht-Schwiegertochter verursachte mir eine Gänsehaut. Aufwachsen ohne Vater setzt sich in Jacques Clan über die Generationen fort. Kindern werden Lügen über ihre abwesenden Väter erzählt; Heimlichkeiten, Süchte, Selbstzerstörung und psychische Krankheiten prägen die Familienbeziehungen. - Ruh Schweikerts Bilder und Symbole haben mich sehr nachdenklich zurückgelassen: Der fast verlassene Ort in Italien, in den die ausgewanderten Bewohner nur noch in den Ferien zurückkehren, die Figur des Hausarztes, der einst als Flüchtling in die Schweiz kam; das Bild eines Elternhauses, das alles für einen aufbewahrt, das die eigenen Kinder einmal brauchen könnten - oder auch nicht. Ruth Schweikert sprachlich erzählt dicht, mit origineller Symbolik und liebevoll beobachteten Details aus einer Familie, deren Kinder zu den letzten geburtenstarken Nachkriegsjahrgängen gehören. Einer der besten Romane dieses Jahres.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Alt werden, ohne alt zu sein (eBook, ePUB)
Westendorp, Rudi

Alt werden, ohne alt zu sein (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Nachdem der Mensch sich fortgepflanzt hat, wird sein Körper nicht mehr benötigt und könnte wie eine Verpackung entsorgt werden. Rudi Westendorp vertritt die nüchterne Ansicht, dass es sich beim Altern um das Versagen komplexer Systeme handelt, die wissenschaftlich kaum anders zu untersuchen sind als ein Flugzeugabsturz. Der niederländische Mediziner hat sich mit bevölkerungspolitischen Aspekten des Alterns befasst, mit der erblichen Disposition zur Langlebigkeit und mit der Zufriedenheit alter Menschen mit ihren Lebensumständen. Wer sich für die Bevölkerungsentwicklung interessiert, hat sicher von einigen angeführten Erkenntnissen bereits gelesen. Warum Frauen auch nach den Wechseljahren durch Unterstützung der jüngeren Generation das Überleben ihrer Art sichern, oder der Einfluss von Notzeiten auf die Lebenserwartung. Statistik und Epidemiologie liegen sicher nicht jedem Leser, doch Westendorp versteht seine Gedanken äußerst eingängig zu formulieren.

Unsere Lebenserwartung setzt sich aus genetischer Disposition, Umgebungseinflüssen und einem Zufallsfaktor zusammen. Geheimnisse für ein langes Leben oder Wundermittel konnte der Autor bisher nicht entdecken. Westendorp vermittelt in originellen Bildern, welchen sozialen Problemen sich eine Gesellschaft aufgrund steigender Lebenserwartung zukünftig stellen muss. Die Bürde einer alternden Bevölkerung bezeichnet er als 'grauen Druck', während der 'grüne Druck' in den ersten Lebensjahren geburtenstarker Jahrgänge entsteht. Die letzen Lebensjahre vor dem Tod, bis als Summe minimaler Schäden das 'System' schließlich versagt, nennt Westendorp das 'Ausfransen des Lebenssaums'. Von Medizinern fordert er einen Perspektivwechsel von rein medizinisch-technischen Erklärungen für Krankheiten hin zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit im Alter und zu gemeinsamen Entscheidungsprozessen von Arzt und Patient. Westendorps Buch verdeutlicht u. a. das Disability Paradox, die Situation betagter oder kranker Menschen, die sich trotz gesundheitlicher Einschränkungen als zufrieden bezeichnen, wie auch 'Ageism', das Vernachlässigen älterer Menschen in der medizinischen Forschung. Zukünftig werden Anpassungsprozesse zum Lebensende größere Aufmerksamkeit von Gesundheitspolitikern und Medizinern erfordern als die reine Organmedizin Patienten bisher zu bieten hatte.

Westendorps Blick ist charakteristisch für einen Niederländer. Mit der in unserem Nachbarland üblichen Selbstverständlichkeit ist er gewohnt, öffentlich über das Lebensende zu diskutieren. Das Abwälzen der Pflege betagter Menschen auf deren Kinder hält der Autor dagegen für typisch deutsch und für wenig zukunftsweisend. Sein teils deprimierendes, teils trockenes Thema vermag er so lebendig und bildhaft zu vermitteln, wie er vermutlich auch seine Medizinstudenten für die Geriatrie begeistern konnte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
HTML5 und CSS3
Wolf, Jürgen

HTML5 und CSS3


ausgezeichnet

Erstklassige Einführung in die neuen Versionen, Erfahrung in HTML4 und CSS2 ist dabei hilfreich
'HTML5 und CSS3' von Jürgen Wolf ist buchstäblich ein dickes Handbuch; denn eine Hand reicht kaum, um die über 1200 Seiten zu umfassen. Viel Platz also für das Thema, der vom Autor auch gut genutzt wurde. Zusätzlich zum Buch gibt es die zahlreichen enthaltenen Beispiele zum Downloaden oder direkten Ausprobieren im Internet, so dass man nicht alles abtippen muss.

Der Autor widmet sich sehr ausführlich dem Thema HTML5 und CSS3, weist dabei auch ausführlich auf die Unterschiede zu den Vorgängerversionen und Problemen mit alten Browsern hin. Ergänzend befasst er sich mit den Themen JavaScript, einschließlich Ajax und JQuery, Erläuterungen zu diversen Erweiterungen, Frameworks, sowie Tests für HTML und CSS. So wird nahezu alles abgehandelt, was clientseitig für die Erstellung von Webseiten von Belang ist. Vervollständigt wird das Buch durch eine sehr umfangreiche Tabellensammlung mit den HTML- und CSS-Referenzen sowie durch einen Index.

Anfangs wirkt das Buch sehr abstrakt, obwohl ich bereits einige Erfahrung mit der Erstellung von Webseiten habe und die Erläuterungen problemlos nachvollziehen konnte. Für einen Anfänger in dem Metier hätte ich mir allerdings für einen ersten schnellen (und bunten) Erfolg ein komplettes Beispiel gewünscht, in dem neben HTML auch schon CSS und das Boxmodell vorgestellt wird. So muss man erst mehr als 500 Seiten lesen, bis man wirklich versteht, wofür CSS gut ist und wie das Ganze mit HTML zusammenspielt.

Wer diese Hürde aber überwindet, bei der Stange bleibt und das Buch konsequent liest, bekommt einen exzellenten Einstieg in die Materie. Die Erläuterungen zu diesem extrem umfangreichen Thema sind sehr systematisch aufgebaut und anschaulich formuliert, ergänzt durch Beispiele zu jedem Bereich und Detail, so dass man das jeweilige Thema gut nachvollziehen kann. So gesehen kann ich das Buch auch Anfängern durchaus empfehlen.

Leser, die bereits Erfahrung mit HTML4 und CSS2 haben, bekommen mit dem Buch eine erstklassige Einführung in die neuen Versionen und die dahinter stehenden Paradigmenwechsel. Nicht zuletzt ist das Buch auch später als Nachschlagewerk gut geeignet; denn bei dem Umfang des Themas und der vielen Sprachen, die hier zusammenspielen, wird kaum jemand in der Lage sein, dies alles im Kopf zu behalten. Hat man das Buch erst einmal gelesen, wird auch die Systematik der detaillierten Kapiteleinteilung deutlich und man findet beim Nachschlagen schnell zum gesuchten Thema. Das Gleiche gilt auch für die umfangreiche Referenz und den Index am Ende des Buches. Ich habe während und nach der Lektüre jedenfalls gleich meine Webseite überarbeitet, mit dem neuen Wissen viele Fehler entdeckt, einiges vereinfachen und verbessern können und hatte etliche Aha-Effekte.

An einigen Kleinigkeiten möchte ich dennoch ein wenig Kritik üben::
- in der Referenz sind die HTML-Entitäten nur teilweise aufgelistet, was prinzipiell ok ist. Es fehlen jedoch ausgerechnet das Alphabet, die Zahlen und das "at"-Zeichen.
- trotz schnellen Lesens sind mir doch einige Fehler aufgefallen, unter anderem falsche Zuordnungen von Grafiken/Tabellen und Schreibfehler.
- Zumindest bei mir haben nicht alle Beispiele funktioniert, was teils an meinem Adblocker lag. Ein Hinweis darauf im Buch wäre gut.

Trotz der anfänglich schweren Kost ist es für mich ein sehr gutes, umfassendes Buch zu dieser Thematik, sehr systematisch, gut erklärt und sowohl für Anfänger als auch für fortgeschritten Webseitengestalter zu empfehlen.