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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2022
Dausend, Peter;Knaup, Horand

"Alleiner kannst du gar nicht sein"


ausgezeichnet

Wir wünschen uns Politiker mit vielen Stärken und wenig Schwächen. Sie sollen vertrauenserweckend und uneitel, emphatisch statt narzisstisch oder gefühlskalt sein. Abgeordnete sollen souverän, strukturiert, strategisch denkend, natürlich durchsetzungsstark sein und dabei gelassen, abwägend und klug bleiben. Stimmen Wunsch und Wirklichkeit überein? Sind die politischen Entscheider wirklich so, wie wir sie uns wünschen? Gibt es solche Menschen überhaupt? Und wie haben die sozialen Medien unsere Volksvertreter verändert? Die Autoren Peter Dausend und Horand Knaup haben in ihrem Buch 50 Abgeordnete zu solchen Fragen interviewt, aktive wie ehemalige, direkt gewählte oder Listenmitglieder, Frauen und Männer, quer durch alle Fraktionen und Altersgruppen, vom Neuling bis zum alten Hasen, vom (fraktionslosen) Hinterbänkler bis zum (ehemaligen) Bundestagspräsidenten. Die meisten Interviewten nennen sogar ihren Namen, was bei den teils sehr persönlichen Aussagen erstaunlich ist.

In jedem der 17 Kapitel widmen sich die Autoren einem anderen Schwerpunkt. Ausgehend von der Bundestagswahl zeigen sie z. B., wie Neugewählte mit frischem Schwung etwas verändern wollen, dann aber schnell durch etablierte Strukturen und Abläufe ausgebremst werden. Es gibt viele ungeschriebene Regeln. Proporzregeln (politische Gesinnung, Geschlecht, Herkunft, Religion...) und Netzwerke sind viel wichtiger als Fachwissen. Der Bundestag hat seine eigene Machtarithmetik. Entweder passt sich der Neuling diesen Gepflogenheiten an oder er rebelliert - mit der Gefahr, dass die Karriere häufig im Schattendasein eines unwichtigen Ausschusses endet. Es sei denn, er versteht etwas von Selbstvermarktung und nutzt die sozialen Medien, um auf sich aufmerksam zu machen. Das ist aber ein zweischneidiges Schwert: Die Abgeordneten leiden an der ständigen Öffentlichkeit und können den Medien auch zum Opfer fallen (heute-show, Facebook, BILD etc.). Der räumliche Abstand zu ihren Familien macht sie oft einsam, sie greifen zum Alkohol oder suchen Ablenkung in einer Affäre. Bleiben dann noch die politischen Erfolge aus, merken sie schnell, dass sie nicht die Verhältnisse verändern, sondern die Verhältnisse sie.

In der Politik gibt es zwei Triebfedern, die alles andere bestimmen: nach oben kommen und oben bleiben. Wer ganz nach oben kommen will, braucht den absoluten Willen zur Macht. Dabei verläuft die Grenze zwischen der Gestaltungsmacht und der Macht als Selbstzweck fließend, genau wie die zwischen einem hilfreichen Narzissmus und abgehobener Selbstherrlichkeit (Stichwort Lauterbach). Die Autoren zeigen auch, warum Freundschaften in der Politik selten sind, Konkurrenz einsam machen kann und der Charakter fast immer auf der Strecke bleibt. Absolut lesenswert – auch wegen der vielen Anekdoten aus Bonner Zeit z. B. von Wehner und Müntefering, die noch nicht so konturlos waren, wie heutige Politiker.

Peter Dausend und Horand Knaup bringen den Leser hoffentlich zum Nachdenken und fördern damit das Verständnis für die Arbeit der Abgeordneten. Sie machen die ungeschriebenen Regeln des Politikbetriebs sichtbarer, zeigen aber auch, wie der Wille zu Macht einen Menschen verändert und dass die Politik ein Sammelbecken für Persönlichkeitsstörungen ist.

Das Buch ist kurzweilig, informativ, abwechslungsreich und uneingeschränkt empfehlenswert, sowohl für Wähler als auch angehende Politiker.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.07.2022
Tausend Dank, Jeeves!
Wodehouse, P. G.

Tausend Dank, Jeeves!


ausgezeichnet

Neben einem Haufen neuer Feinde hat Bertie Wooster auch eine abscheuliche Unart aus den USA mitgebracht: Er spielt mit steigender Begeisterung die Banjolele, eine Begeisterung, die Jeeves weder zu teilen noch zu tolerieren beabsichtigt. Seine Kündigung ist so konsequent wie formvollendet und bewerben muss er sich auch nicht mehr: Lord „Chuffy“ Chuffnell, Berties alter Busenfreund, nimmt das Genie mit Kusshand und Bertie lässt ihn ohne Bedauern ziehen. Wo kämen wir denn hin, wenn die Dienerschaft über den Musikgeschmack ihrer Arbeitgeber bestimmte? Aber Bertie wird seine Halsstarrigkeit bald bitter bereuen, denn überraschend tauchen alte Bekannte auf: J. Washburn Stoker, der hitzköpfige Millionär aus den Staaten, kreuzt unerwartet im beschaulichen Somerset Berties Weg, und Ersterer hat noch eine bis zwei Rechnungen mit zweitem offen.

„Tausend Dank, Jeeves“ erschien 1934 als erster Jeeves Roman mit durchgehender Handlung. Davor hatte P. G. Wodehouse bereits Berühmtheit mit seinen pointierten Kurzgeschichten erlangt, in denen der geniale Kammerdiener die Pannen seines tollpatschigen Herrn mit Stil und Kreativität ausbügelte. Das Thema kreist auch dieses Mal darum, Verlobungen einzugehen, sie wieder zu lösen und ganz nebenbei von einer peinlichen Situation in die nächste zu stolpern. Das macht Wodehouse im wunderbar schnodderigen Stil der englischen Oberschicht, lakonisch bis zum Anschlag und mit einem Dialogwitz, der auch heute noch jedem Drehbuchschreiber zur Ehre gereicht. Wie Thomas Schlachter diese eleganten Wortgefechte und skurrilen Entwicklungen ins Deutsche übersetzt hat, ist einfach nur brillant. Da funkelt jeder Satz, da stimmen Rhythmus und Sprachmelodie und ich habe nicht an einer einzigen Stelle auch nur entfernt den Eindruck gehabt, dass hier etwas sprachlich holpert. Schlachter trifft Wodehouses lakonischen Humor auf den Punkt, stilvoll und mit dem Florett gefochten, nicht mit dem deutschen Säbel. Wie sagte Harry Rowohlt, hab ihn selig, einmal so schön: „Sie müssen die Übersetzung lesen! Im Original geht viel verloren.“ Genau.

Bewertung vom 04.07.2022
The Watch
Dormer,Richard/Rossi,Lara/Corlett,Marama/+

The Watch


gut

The Woke. Nein, The Watch ...
... wo soll ich anfangen? Terry Pratchett hat mit seinen Scheibenwelt-Romanen nicht nur ein eigenes Universum geschaffen, sondern auch einen sehr eigenen Stil. Die Geschichten sind satirisch überdreht, unglaublich phantasievoll konstruiert und er hat eine äußerst lakonische Art gefunden, sich auszudrücken. Es ist schwierig, solche Stoffe zu verfilmen und nicht immer gelingt es so überzeugend wie kürzlich bei „Good Omen“.

„The Watch“, so lässt schon der Vorspann wissen, ist nur „based on Sir Terry Pratchett“, es ist also keine 1:1-Verfilmung der Romane, aber die Änderungen sind einschneidend: Aus der Zwergin Cheery wurde eine hünenhafte Transe mit Fummel und Nasenring und Lady Ramkin mutiert von der fürsorglichen Mutterfigur zur messerschwingenden Kill-Bill Rächerin. Da wird Pratchett ganz ordentlich durch den Woke-Fleischwolf gedreht.

Wer das akzeptieren kann, bekommt Pratchetts abgedrehte Ideen allerdings mit viel Liebe zur Ausstattung präsentiert. Kulissen und Kostüme sind ordentlich, die Digitaltricks haben Niveau und beeindrucken, jedoch werden nicht alle Schauspieler der gestellten Aufgabe gerecht. Vor allem Richard Dormer als Vimes neigt zu einem fast unerträglichen Overacting, frei nach dem Motto „schaut mich an, ich bin ja so was von kaputt und irre lustig!“. Popeye ist ein Charaktermine dagegen. Jo Eaton-Kent als non-binärer Constable Cheery mit Brusthaar und Lippenstift konzentriert sich dagegen erkennbar darauf, in den High-Heels nicht umzukippen und seinen Text richtig aufzusagen. Von Schauspielen ist das so weit entfernt wie die Oberammergauer Festspiele vom Globe Theater. Aber die restlichen Rollen sind im Typ gut besetzt, da gibt es nichts zu kritisieren.

Die Geschichte ist spannend, hat einige unerwartete Wendungen (ich will gar nicht erst ansatzweise etwas nacherzählen, es würde schnell wirr klingen. Sir Terry halt...) und der absurde Witz von Pratchetts Romanen wird aus meiner Sicht gut ins Bild übersetzt. Es gibt viele skurrile Wesen in der apokalyptischen Handelsmetropole Ankh-Morpork, die Freunde des britischen Humors ganz sicher mögen werden. Wenn man die woke-aktivistischen Untertöne bei der freien Bearbeitung der Originalgeschichte einmal weglässt, ist die Verfilmung eigentlich gar nicht so übel, für Pratchett-Jünger ist es aber wahrscheinlich schwer erträglich. Die BBC hat keine weitere Staffel in Planung.

Bewertung vom 02.07.2022
Museum Schnütgen

Museum Schnütgen


ausgezeichnet

Das Museum Schnütgen besitzt eine der bedeutendsten Mittelalter-Sammlungen christlicher Kunst Europas, mit einem besonderen Fokus auf dem Rheinland. Es ging hervor aus der enzyklopädischen Privatsammlung des Stifters Alexander Schnütgen und der späteren Verschmelzung mit Teilen der Bestände des Wallraff-Richartz-Museums und des Kunstgewerbemuseums, die im Gegenzug die mittelalterlichen Gemälde und Alltagsgegenstände erhielten. Heute befindet sich die Dauerausstellung in der romanischen Cäcilienkirche, wobei nur ein Ausschnitt aus dem über 13000 Objekte umfassenden Bestand gezeigt werden kann.

Das „Handbuch zur Sammlung“ stellt keinen vollständigen Bestandskatalog dar, sondern steht in der Tradition des an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Auswahlkatalogs von Hermann Schnitzler, der allerdings 1968 das letzte Mal erschien. Es wurde also höchste Zeit für eine Aktualisierung.

Auch wenn die Bezeichnung „Handbuch“ etwas anders nahelegt, präsentiert sich der Katalog in einem ganz und gar unhandlichen, fast schon Halbfolioformat, das den einzelnen Objekten viel Raum für eine angemessene Wirkung lässt. Die Zielrichtung ähnelt damit der Dauerausstellung, die ebenfalls keine enzyklopädische Vollständigkeit, sondern eine optimale Präsentation und Wirkung beabsichtigt (anders als die ursprünglich sehr überladene Aufstellung, die noch Alexander Schnütgen persönlich inszenierte). Das Handbuch ist chronologisch aufgebaut und lässt damit auch den Leser an kunstgeschichtlichen Entwicklungen teilhaben, sowie Stilentwicklungen und Typologien erkennen. Die technisch und ästhetisch makellosen Abbildungen zeigen oft auch Details und Rückseiten, wodurch sich frühere Nutzung oder Konstruktionen erschließen. Erfreulich umfangreich sind die Kommentierungen, die thematisch auch in die Tiefe gehen, ohne je weitschweifig zu sein. Problematisch ist die fast immer fehlende Provenienzgeschichte, die sich meistens auf den Erwerb im Kunsthandel beschränkt und damit regional kaum Informationen bietet. Die Autoren erklären sehr gut nachvollziehbar, wie sich Datierungsvorschläge und regionale oder künstlerische Zuschreibungen im Lauf der Zeit geändert haben, welche Vergleiche für die Argumentation herangezogen wurden und wie der aktuelle Stand der Forschung ist. Da mittelalterliche Kunst fast immer religiös geprägt ist, kommen natürlich auch liturgische Aspekte und Volksfrömmigkeit mit ins Spiel. Ungewöhnlich für eine an Laien gerichtete Publikation ist die sorgfältige Behandlung des Themas „Originalität“. Gerade Objekte aus religiösem Kontext wurden immer wieder restauriert, überarbeitet und verändert, was die Autoren stets vermerken. In Kombination mit den ausgezeichneten Fotos lernt der Betrachter solche Spuren selber zu lesen, was auch bei anderen Museumsbesuchen zum genaueren Hinsehen einlädt. Eine ausführliche Bibliografie beschließt die einzelnen Kapitel.

Das „Handbuch“ ist aufgrund seines Formats eher weniger geeignet, um vor Ort wie ein Museumsführer genutzt zu werden, aber es ist eine umfassende, fachlich aktuelle und vor allem sehr anschauliche Quelle für die Vorbereitung eines Besuchs, der über das reine Bewundern der Exponate hinaus geht.

Bewertung vom 27.06.2022
Kentaro Kumon
Kumon, Kentaro

Kentaro Kumon


ausgezeichnet

Die Fähre nach Teshima fährt einmal am Tag und sie hat selten Passagiere für die kleine Insel in der Seto-Inlandsee. Hier leben nur noch ein Dutzend Einwohner, der letzte Fischer ist vor einem Jahr gestorben.

Als Kentaro Kumon zum ersten Mal einen Fuß auf Teshima setzt, betritt er ein fremdes Land. Hier ist die Zeit zum Stillstand gekommen. Die Fähre legt ab und es breitet sich eine unendliche Ruhe über die Insel aus, welche sich die Natur langsam zurückerobert. Die verlassenen Häuser mit ihren kunstvollen Giebeldächern sind von blauen Königswinden überwuchert, Bambus bedeckt die offengelassenen Feldern. Die wenigen Einwohner sind hochbetagt und gerade noch in der Lage, ihre kleinen Gärten zu pflegen. Teshima wird in absehbarer Zeit unbewohnbar sein. Selbst die Straßen, die in Japan selbst in sehr entlegenen Regionen in gutem Zustand gehalten werden, lösen sich auf.

Ich habe im japanischen Bergland solche fast vergessenen Ortschaften schon gesehen und war immer fasziniert von der melancholischen Atmosphäre, die von ihnen ausgeht. Kentaro Kumon gelingt es, in seinen Bildern eben diese Melancholie, die Stimmung des Verfalls perfekt einzufangen. Die Einwohner wirken schicksalsergeben, aber man hat trotzdem nie den Eindruck, dass sie mit ihrem Schicksal hadern. Die Räume in den traditionellen Holzhäusern sind sauber und ordentlich, verwahrlost ist nichts, nur das alte Fußballtor rostet und der Platz ist mit Unkraut überwuchert. Die Natur hat immer den längeren Atem, auch das zeigen Kumons Momentaufnahmen.
Vielleicht liegt es daran, weil ich solche Bilder schon selber gesehen habe, dass sie in mir diese starken Gefühle auslösen, aber es ist nicht nur das. Sie stehen auch exemplarisch für Japans alternde Gesellschaft, die kaum noch in der Lage ist, die bestehende Infrastruktur zu erhalten. Teshima ist schwer zu erreichen, aber sie zeigt nur den Beginn eines unaufhaltsamen Prozesses, der bald auch die größeren Nachbarinseln erfassen wird. „Nemurushima“, die schlafende Insel, wie der Titel sagt, schläft nicht wirklich. Nur kommt der Zyklus der menschlichen Existenz auf Teshima zu einem natürlichen Ende, und dass dies hier so friedlich und schleichend passiert, hat nichts Trauriges an sich, sondern hinterlässt beim Betrachter eher ein Gefühl meditativer Gelassenheit. Der Tod steht in Japan ganz im Zeichen des Buddhismus. Kumons Bilder auch.

Bewertung vom 26.06.2022
Altarpracht in Regensburg
Mayerhofer, Matthias

Altarpracht in Regensburg


ausgezeichnet

Das ehemalige Reichsstift St. Emmeram in Regensburg besaß einst eine prachtvolle liturgische Ausstattung, von der heute nur noch das im Bayerischen Nationalmuseum erhaltene Schatzbuch Zeugnis abgibt. Die meisten der hochwertigen Gold- und Silberschmiedeerzeugnisse wurden während der französischen Besatzung säkularisiert, in der bayerischen Münze zerlegt und 1811 eingeschmolzen. Von diesem Schicksal blieben allerdings die wertvollen Paramente verschont, die ebenfalls im Schatzbuch erwähnt werden und zum Teil bis heute erhalten sind. „Altarpracht“ dokumentiert zu ersten Mal seit der in der Mitte des 18. Jahrhunderts erfolgten, umfangreichen Erfassung im Schatzbuch, den aktuellen Bestand der Textilien, erforscht die Provenienzgeschichte, Materialien und Verarbeitung in allen Details. Im Fokus steht dabei auch die Zweitverwertung der verwendeten Materialien und natürlich ihr liturgischer Gebrauch.

Zweitverwendungen sind nicht selten, sei es, dass alte Messgewänder auseinandergenommen und in neuer Form wieder zusammengenäht, oder kostbare Stoffe aus weltlich-zeremoniellem Zusammenhang als Parament weiterverwertet wurden. Insbesondere nach der französischen Revolution wurden enorme Mengen hochwertigster Stoffe aus Adelsroben auf den Markt geworfen und die Preise stürzten damals ins bodenlose, was den Kirchen neue Möglichkeiten erschloss.
Auch nach 1812 gab es bedeutende Stiftungen, wobei als Kuriosum sicher die beiden Kaseln gelten können, die Fürstin Margarethe von Thurn und Taxis um 1900 in avantgardistischem Design und Collagetechnik mit eigener Hand schuf.

Nach einleitenden, summarischen Kapiteln zur Geschichte des Stifts und der bedeutendsten Stifter der Paramente folgt der chronologische Katalog. Neben den fotografischen Abbildungen sind für Objekte des 18. Jahrhunderts als Vergleich die entsprechenden Seiten aus dem Schatzbuch gestellt, außerdem gibt es vereinzelt Detailvergrößerungen, die die komplizierten Sticktechniken dokumentieren. Insgesamt sind es 78 Positionen, die selber z. T. wieder kleinere und größere Konvolute umfassen, darunter auch Posamente und einige textile Klosterarbeiten. Die Steckbriefe enthalten ausführliche Angaben zu Art und Herkunft der Materialien und ihrer Verarbeitungstechniken, Datierungen, sowie der Provenienz- und Nutzungsgeschichte. Die schriftliche Quellenlage wird bibliografisch aufgearbeitet. Erstaunlich ist die oft bemerkenswerte Farbfrische der alten Textilien, die von hoher Wertschätzung und umsichtiger Handhabung zeugen.

Die noch nicht im Katalogteil abgebildeten Objekte aus dem Schatzbuch (Gold- und Silberschmiedearbeiten) sind in einem separaten Kapitel faksimiliert und es werden Versuche unternommen, die dargestellten liturgischen Geräte in einen kunsthistorischen Kontext zu stellen. Zum Teil lassen sich auch noch Stifter benennen. Im Anhang finden sich zwei transkribierte Archivalien aus dem 18. und 19. Jahrhundert, die den Paramentenbestand in St. Emmeram zu diesem Zeitpunkt festhalten.

Der Band ist sehr hochwertig ausgestattet, mit einem stabilen Schuber und großzügigem Seitenlayout. Man spürt beim Lesen, dass den Herausgebern mehr an diesem Werk liegt als die rein wissenschaftliche Aufarbeitung des Bestandes. Es ist im übertragenen Sinn das „Schatzbuch des 21. Jahrhunderts“, das die Errungenschaften aber auch die Glaubenspraxis der früheren Generationen würdigt. Darüber hinaus belegt es in besonderer Weise den reichsfürstlichen Repräsentationsanspruch Emmeramer Fürstäbte und die Pracht sakraler Festkultur im 18. Jahrhundert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.06.2022
Der Kaiser reist inkognito
Czernin, Monika

Der Kaiser reist inkognito


ausgezeichnet

Joseph II. war im 18. Jahrhundert eine Ausnahmeerscheinung. Im wahrsten Sinn war er ein aufgeklärter Monarch, der sich um das Wohl seiner Untertanen sorgte, Armut aktiv bekämpfte und die Privilegien des Adels einschränkte. Schon während der Coregentschaft mit Maria Theresia legte er sich oft mit seiner reaktionären Mutter an, um soziale Reformen durchzusetzen. Ebenfalls außergewöhnlich waren seine ausgedehnten Reisen durch ganz Europa, die er meist „inkognito“ absolvierte, wobei man das Wort nicht auf die Goldwaage legen darf. Jeder wusste, wer „Graf Falkenstein“ wirklich war und ihm wurde an jeder Station gehuldigt, auch wenn er sich das ausdrücklich verbat. Das „inkognito“ betraf vor allem seine Entourage: Der Kaiser reiste mit zwei oder drei Begleitern, in kleinstem Rahmen, er übernachtete auf Feldbetten und in Gasthöfen. Als er seine Schwester in Versailles besuchte, bestand er darauf, jeden Abend in sein Hotel nach Paris gebracht zu werden, im königlichen Palast verbrachte er so wenig Zeit wie möglich. Er war genügsam, nahbar, aufgeschlossen und nach allen Berichten ein ausgesprochen empathischer und sympathischer Mensch. Er war ein Glücksfall auf dem österreichischen Thron - nur leider ein Jahrhundert zu früh geboren.

Zwischen 1764 und 1787 machte er neun große Reisen, die ihn in alle Winkel seines Reiches und weit darüber hinaus führten. Er traf sich mit Friedrich II. von Preußen und Zarin Katharina, aber vor allem interessierte ihn, wie das Volk lebte. Er nahm Zehntausende Petitionen persönlich entgegen – und bearbeitete sie alle. Auch auf Reisen ließ er sich die Post und Akten aus Wien nachschicken, sein Fleiß war legendär.

Monika Czernin hat Josephs Reisen minutiös nachgezeichnet und ihm damit ein Denkmal gesetzt, das er zu seinen Zeiten nicht bekam. Er erscheint als überaus vorausschauender und mitfühlender Herrscher. Während „aufgeklärte“ Monarchen wie Friedrich II. die Aufklärung oft nur im Munde führten, war es Joseph mit seinen Reformen sehr ernst. Er betrachtete die Staatseinnahmen auch nicht als Privateigentum, sondern als Geld des Volkes. Sogar sein väterliches Erbe schenkte er größtenteils dem Staat, um Schulden zu tilgen. Monika Czernin hat unzählige Originaldokumente für die Biografie herangezogen und so sind selbst die Dialoge nicht erdacht, sondern tatsächlich belegt. Die Quellenlage ist überbordend und erlaubt ein Charakterbild, wie es in dieser Detailliertheit für das 18. Jahrhundert sehr selten ist. Czernin verschmilzt dabei sehr elegant Originalzitate mit romanartigen Verbindungstexten, greift auch in die Vergangenheit und Zukunft, um bestimmte Entwicklungen näher zu beleuchten, so dass am Ende nicht nur die zwanzig Jahre der Reisen, sondern Josephs ganzes Leben ausgebreitet wird. Aber die Reisen sind charakterprägend, das wird mit jeder Etappe deutlicher. Als er seine Schwester, die das Versailler Schloss nie verließ, zum Abschied vor der drohenden Revolution warnt, die er als schrecklich prophezeit, zeigt sich sein visionärer Blick, den er nur durch den direkten Kontakt zu Land und Volk bekommen hat.

„Der Kaiser reist inkognito“ ist brillant recherchiert und genial komponiert. Durch die vielen Originalzitate wird die Biografie lebendig und gibt besonders viel vom privaten Innenleben der Protagonisten preis. Gleichzeitig wird Josephs Weg über die Reiseroute mit den anderen Fürstenhöfen in Europa in Relation gesetzt und es lassen sich interessante Vergleiche ziehen. Das alles ist so geschickt verwoben, dass man das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen will.

Wäre Joseph II. älter geworden und hätten seine Reformen dauerhaft Erfolg gehabt, Europa wäre möglicherweise viel erspart geblieben. So bleibt er als Vorbild für eine ideale aufgeklärte Monarchie ein Leitstern, den man auch heute nur bewundern kann.

Bewertung vom 22.06.2022
Das Dresdner Schloss und seine Schätze
Bahr, Eckhard

Das Dresdner Schloss und seine Schätze


ausgezeichnet

Das Buch ist aufgebaut wie eine Schlossführung: Nach einer kurzen Einleitung zur Bau- und Nutzungsgeschichte beginnt der Rundgang in den Schlosshöfen, über die beiden Grünen Gewölbe, entlang der Fürstengalerie in den Renaissanceflügel und Georgenbau, die Paraderäume und weiter in die Türckische Kammer. Der Rundgang endet im Kupferstichkabinett.

Die Baugeschichte ist sowohl eng mit den barocken Bauherrn und ihren Repräsentationspflichten verbunden, als auch mit der hochbedeutenden Sammlung, die schon 1724 öffentlich zugänglich wurde (wenn auch nicht für jedermann). Eckhard Bahr leitet aus dem, was man heute sehen kann, einerseits ab, wie es einmal war, zum anderen beleuchtet er exemplarisch herausragende Objekte aus den in den jeweiligen Räumen präsentierten Sammlungen. Natürlich sind der Wiederaufbau und die umfangreichen Restaurierungen des Schlosses nach der Wiedervereinigung berücksichtigt. Positiv ist mir aufgefallen, dass der Autor sehr genau protokolliert, was „neu“ und was historisch ist, damit der Besucher die geleistete Arbeit auch wertschätzen kann. Der Aufwand der kunsthistorischen Recherche und die handwerkliche Qualität der Rekonstruktion sind wirklich bemerkenswert. Genauso bemerkenswert ist die erhaltene Sammlung, die trotz Zwangsverkäufen, Verlagerungen und Diebstählen immer noch die bedeutendste Präziosensammlung Europas ist. Das gleiche gilt für die Renaissance- und Barockwaffen. Man muss das eigentlich mit eigenen Augen gesehen haben, aber die Begeisterung für „sein“ Schloss ist auch Eckhard Bahr in jeder Zeile anzumerken. Er vermittelt viel Hintergrundwissen, nicht zu überladen und detailliert, aber in einem Maß, dass man einen umfassenden Eindruck nicht nur von der Sammlung selbst bekommt, sondern auch von der Zeit, in der sie entstand und ihren Protagonisten. Da sind zum einen die Landesfürsten, allen voran August II., der zwar die Sammlung nicht begründete, aber sie entscheidend ausbaute, und zum anderen die handwerklichen Meister wie Johann Melchior Dinglinger, dem wohl bedeutendsten Goldschmied des Barock, oder dem Uhrmacher Hans Schlottheim mit seinen hochkomplizierten Prunkuhren. Einige Namen tauchen immer wieder auf und bilden so etwas wie den roten Faden, der die einzelnen Räume und ihre Kostbarkeiten miteinander verbindet.

Die Fotos sind durchweg gut, aber kommen aus sehr unterschiedlichen Kontexten (von WikiCommons bis zur kommerziellen Bildagentur), was visuell manchmal ein bisschen unruhig wirkt. Trotzdem bekommt man einen ausgezeichneten Eindruck vom Gesamtensemble und als Vorbereitung für einen Besuch ist das Buch hervorragend geeignet.

Bewertung vom 21.06.2022
Menschen des 20. Jahrhunderts
Sander, August

Menschen des 20. Jahrhunderts


ausgezeichnet

Zu seinen Lebzeiten konnte August Sander sein größtes fotografisches Projekt nur ansatzweise verwirklichen. Die „Menschen des 20. Jahrhunderts“ begannen 1927 als Ausstellung im Kölnischen Kunstverein, der 1929 eine erste Buchveröffentlichung mit 60 Fotos folgte. Das Konzept für einen umfassenden, gesellschaftlichen Spiegel seiner Zeit hatte August Sander da bereits entwickelt, doch hinderten ihn die politischen Umstände an der geplanten Umsetzung. Nach dem Krieg wurde das Projekt von ihm nicht weiter verfolgt, aber die nachfolgenden Generationen näherten sich über Sanders Archiv in mehreren fragmentarischen Publikationsversuchen dem heute anerkannten Konvolut, das mit über 600 Aufnahmen den Ruf August Sanders als einem der bedeutendsten Portraitfotografen des 20. Jahrhunderts mit begründet hat. Der Grundstein hierfür wurde 2002 in einer siebenbändigen Ausgabe gelegt, deren Illustrationen im aufwendigen Tritone-Druckverfahren realisiert wurden, mit dem Grauwerte äußerst präzise, fast wie bei einem Originalabzug übersetzt werden. Vor allem in den USA wurde Sander damit schlagartig bekannt und seine Originalabzüge gehören heute zu den teuersten Fotografien im Auktionshandel.

Der vorliegende Band basiert auf dieser siebenbändigen Vorzugsausgabe, nur wurden die Fotografien im Duotone-Verfahren reproduziert (das heutzutage allerdings fast an die Leistung des Tritone-Drucks heranreicht) und von Sanders Vorgabe, nur jeweils ein Foto auf der rechten Buchseite zu zeigen, wurde zugunsten von doppelseitigen Abbildungen abgewichen. Auf diese Weise wird Sanders Werk auch größeren Leserkreisen zugänglich, denn die siebenbändige Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Die Fotos entstanden im Zeitraum von 1911-1914 und wieder nach dem Weltkrieg ab etwa 1920. Es sind Portraits aus allen Gesellschaftsschichten, vom Arbeiter bis zum Schauspieler, vom Bauern bis zum Stadtmenschen, Frauen und Männer, Kinder und Greise. Keines der Bilder entstand in einem natürlichen Kontext, sie sind alle inszeniert, sei es im Studio oder im Freien, und doch vereint alle Motive ein psychologisierendes Element: Sie alle geben eine individuelle Persönlichkeit wieder, die gleichzeitig stellvertretend für eine größere Gruppe steht. Sander hatte das Projekt von Anfang an in sozialen Schichten gedacht und diese Einteilung hat auch die Gesamtausgabe beibehalten. Jedes Portrait steht also für eine Person, aber auch für einen Stand, für eine Haltung, für ein soziales Umfeld, für eine Überzeugung. Die Untertitel unterstützen diesen generalisierten Blick, indem sie keine Namen nennen (außer in Einzelfällen als erklärende Ergänzung der Editoren), sondern Berufs- oder Klassenbezeichnungen. Auch heute grenzen sich Menschen durch Mode, Körpersprache und Verhalten von anderen sozialen Gruppen ab. August Sander hat diese Kennzeichen einer Gruppe durch seine Fotos in unserer Zeit lesbar gemacht. Trotz der Distanz zur Weimarer Republik fühlt man sich den Menschen verbunden, man sucht nach Gemeinsamkeiten und den „Codes“ ihrer sozialen Gruppe. Die Mechanismen sind erstaunlicherweise die gleichen geblieben, anders ausgeprägt natürlich, visuell verschieden, aber das Prinzip der Abgrenzung gegen andere scheint ein zutiefst menschliches Bedürfnis zu sein. August Sanders Fotos kann man als Sozialkritik lesen, was sie in Teilen sicher sind. Man kann sie aber auch als Suche nach Gruppenzugehörigkeit lesen, die sich in einer Zeit, in der soziale und kulturelle Unterschiede mit verbaler (und manchmal auch physischer) Gewalt unterdrückt werden, wie ein Mahnmal der Natur des Menschen ausnimmt. Erst die Unterschiede machen August Sanders Werk interessant. Alle Menschen haben die gleichen Rechte, aber dennoch sind nicht alle Menschen gleich. Das wird gerne verwechselt, sowohl von links, wie von rechts.

Bewertung vom 18.06.2022
Papier prägen
Falkenburger, Katja

Papier prägen


ausgezeichnet

Schon der Einband ist Teil des Programms: Mit der Prägung werden die grafischen Elemente betont und bekommen eine ganz neue Wirkung. Licht und Schatten werden plötzlich zu einem zusätzlichen Faktor und machen die Papieroberfläche lebendig.

Katja Falkenburger zeigt in ihrem Buch, wie man mit einfachen, selbstgebauten Stempelformen Papier (und insbesondere schwerem Büttenpapier) einen ganz eigenen Charakter einprägt. Mit viel Phantasie gestaltet sie Zierrahmen, interessante Oberflächenstrukturen und ganze Bilder, mal unter Zuhilfenahme von Farbe, mal monochrom. Sie nutzt Collagetechniken und betont Grafik geschickt mit flächigen, verblüffend effektiven Papierstrukturen. Mich sprechen einige von Katja Falkenburgers Werken deutlich mehr an als Günther Ueckers teure Nagelprägebilder in Papier, die letztlich auf demselben Prinzip beruhen. Wie einfach diese Techniken zu erlernen sind, zeigt die Autorin in unzähligen Varianten, mit Werkzeugen und Materialien, die für jeden erschwinglich und verfügbar sind: Viel Potenzial für kreative und attraktive Geschenke. Oder auch für Bilder für die eigene Wand.