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Havers
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Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 24.03.2021
Über Menschen
Zeh, Juli

Über Menschen


ausgezeichnet

Dora will raus. Raus aus Berlin. Weg von Robert, den sie nur noch Robert Koch nennt. Ehemals Greta-Jünger, seit der Pandemie von Corona besessen. Der übergriffig wird, wenn sie seinen Anweisungen nicht folgt. Lange genug hat sie sich von ihrem politisch überkorrekten Freund vorschreiben lassen, was richtig und falsch ist. Hat sich verbogen, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Ein diffuses Gefühl, das sie schon seit längerer Zeit hat. Davonschleichen. Ein Ortswechsel könnte die Lösung sein. Eine Herausforderung. Das abgeranzte Haus mit dem verwilderten Grundstück in Brandenburg. Bracken im äußersten Nordwesten, Provinz.

„Über Menschen“. Bereits der Titel schafft die Verbindung zu dem Vorgänger, ist aber intimer, enger gefasst, da die Erzählperspektive sich ausschließlich auf Dora konzentriert. Stellt sich die Frage nach den Assoziationen. Was erwarten wir, wenn wir Dorf und Brandenburg hören? Richtig, AfD, Rechtsradikale, Nazis. Ein anderer Kosmos, Kulturschock, schwieriges Terrain für Dora aus Berlin. Wenn der Nachbar sich als Dorf-Nazi vorstellt, lässt Zeh sämtliche Klischees aus dem Sack. Aber Abgrenzung gilt nicht, Schwarz-Weiß-Denken hat hier keinen Platz, man ist mittendrin, ist weder Über- noch Unter- sondern einfach nur Mensch. Und deshalb verwundert es auch nicht, dass sich in den Beziehungen zu den Dorfbewohnern die Kategorien allmählich auflösen, die Schubladen an Bedeutung verlieren. Politische Weltanschauung wird von Alltagspragmatismus abgelöst, und wenn Hilfe benötigt wird, müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden.

Nun könnte man argumentieren, dass auch das klischeehaft ist, was natürlich stellenweise auch zutrifft. Aber Zeh belässt es nicht bei den Bullerbü-Schilderungen des Dorflebens, sondern thematisiert auch die Probleme, die sich daraus ergeben. Stadt-Land-Gefälle, abgehängt, vergessen von der Politik, weder Arbeitsplätze noch öffentliche Verkehrsmittel, aber auch die persönlichen Belastungen, die die Pandemie mit sich bringt. Und so schreibt sie nicht nur „Über Menschen“ sondern auch „Über Leben“.

6 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.03.2021
Teufelsberg / Kommissar Wolf Heller Bd.2
Kellerhoff, Lutz W.;Kellerhoff, Lutz Wilhelm

Teufelsberg / Kommissar Wolf Heller Bd.2


ausgezeichnet

Berlin, 1969: Kommissar Heller hat’s verbockt. Einen Moment nicht aufgepasst, und schon ist es geschehen. Eigentlich sollte er das Haus eines Richters observieren, dem man mit Mord gedroht hat. Aber herzzerreißendes Babygeschrei sorgt dafür, dass Heller seinen Posten verlässt. Dumm gelaufen, denn während dieser kurzen Zeitspanne wird die Frau des Richters ermordet und in der Nacht von ihrer Nichte Louise, die wir bereits aus dem Vorgänger „Die Tote im Wannsee“ kennen, gefunden.

Der Täter ist schnell ermittelt, kann aber nicht mehr befragt werden, da er als verkohlte Leiche in seinem abgefackelten Fahrzeug entdeckt wird. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung werden Nachrichten gefunden, die vermuten lassen, dass Anschläge auf jüdische Einrichtungen geplant sind. Ein Szenario, das es nicht nur im Hinblick auf die jüngste deutsche Vergangenheit unbedingt zu verhindern gilt. Aber es gibt noch einen zweiten Ermittlungsansatz, denn da ist noch ein Mörder, der sein Unwesen in Berlin treibt und bereits mehrere Frauen ermordet hat. Keine leichte Aufgabe für Heller und das Team der Mordkommission.

Die Handlung dieses Krimis bedient sich eines realen Hintergrundes, nämlich dem des Bombenanschlags am 9. November 1969 auf das Jüdische Gemeindehaus in Charlottenburg, der glücklicherweise in die Hose ging. Zugeschrieben wurde dieser den Westberliner Tupamaros, einer linksradikalen Gruppe um Dieter Kunzelmann. Aber mittlerweile ist bekannt, dass - wieder einmal - auch der Verfassungsschutz beteiligt war und die Bombe geliefert hat.

Kunzelmann, Teufel, Langhans, lauter Namen, die wir auch noch heute kennen. Aber neben dem Blick auf die radikale linke Szene nehmen uns die Autoren auch mit zu den KGB gelenkten Aktivitäten der Geheimdienste. Kein Wunder, sind wir doch mitten in der Zeit des Kalten Krieges mit Berlin im Zentrum. Ein interessanter Blick auf eine Zeit des Umbruchs. Geheimdienstaktivitäten, Antisemitismus, alte Nazis und radikalisierte Jugend, neue Beziehungsformen, die in alten Mustern verharren – ein Ausflug mit jeder Menge Zeitkolorit in die deutsche Vergangenheit. Verglichen mit dem Vorgänger haben es die Autoren aber hier leider übertrieben und dabei im Gegenzug die Story vernachlässigt, die für einen Kriminalroman nur mäßig spannend ist, sich immer wieder in Details verliert und dadurch das Lesevergnügen schmälert.

Bewertung vom 22.03.2021
Downfall / Amos Decker Bd.4
Baldacci, David

Downfall / Amos Decker Bd.4


ausgezeichnet

Special Agent Amos Decker, der Memory Man, ist eine interessante Hauptfigur, was natürlich mit seinem besonderen Fähigkeiten, dem fotografischen Gedächtnis und der Synästhesie, zusammenhängt. Allerdings stellt Baldacci dies nicht penetrant in den Vordergrund, sondern arbeitet es stimmig in die jeweilige Handlung ein. „Downfall“ unterscheidet sich positiv von den Vorgängerbänden, denn hier scheinen erstmals sozialkritische Töne durch, die bisher gefehlt haben, und regen hoffentlich auch diejenigen Leser*innen zum Nachdenken an, die lediglich einen spannenden und actionreichen Thriller für den schnellen Lesegenuss erwartet haben. Keine Frage, auch das bietet diese Lektüre in ausreichendem Maß, aber ein guter Thriller sollte auch einen Blick auf die gesellschaftspolitischen Zustände werfen. Und diese Forderung erfüllt „Downfall“, für mich zweifelsfrei der beste Band der Reihe, den Neueinsteiger auch ohne Kenntnis der Vorgänger lesen können.

Die Opioid-Krise scheint ein Thema zu sein, das aktuell vor allem bei populären Autoren aus dem Thrillerbereich auf fruchtbaren Boden fällt. Zuletzt Lee Child, nun also David Baldacci. In „Downfall“ (Bd. 4 der Reihe) nimmt er uns nach Pennsylvania mit, wo sich Amos Decker und seine Partnerin Alex Jamison ein paar freie Tage bei Alex‘ Familie in Baronville gönnen. Wie in so vielen Kleinstädten der ehemals größten Industrieregion im amerikanischen Nordosten, hat die Abwanderung der Schwerindustrie und die damit einhergehende Einstellung des Bergbaus ihre Spuren hinterlassen und so den „Manufacturing Belt“ zum „Rust Belt“ werden lassen. Es gibt keine Arbeit mehr und das Leben derjenigen, die geblieben sind, ist ohne Perspektive. Drogentote gehören zum Alltag, die Kriminalität ist hoch, die Polizei heillos überfordert. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass Decker seine Mithilfe anbietet, als im Nachbarhaus zwei Leichen gefunden werden. Ein Wettlauf gegen die Zeit, der ihm alles abverlangt. Denn diese beiden werden nicht die einzigen Toten bleiben...

Bewertung vom 21.03.2021
Der gekaufte Tod
Mack Jones, Stephen

Der gekaufte Tod


ausgezeichnet

Detroit, Michigan. Einst eine blühende Metropole, durch den Strukturwandel und dem damit einhergehenden Verlust der Autoindustrie seit längerer Zeit eine Stadt im Niedergang, die von Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität geprägt ist. Aber es gibt Hoffnung, denn seit einigen Jahren haben sich zahlreiche Investoren gefunden, die in den Wiederaufbau investieren. Das hat auch der Ex-Cop August Snow vor, der nach einem gewonnenen Prozess gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber 12 Millionen Dollar Schadenersatz zugesprochen bekommen hat und nach Mexicantown, das Viertel in dem er aufgewachsen ist, zurückkehrt. Er ist jetzt vermögend, hat aber seine Wurzeln nie vergessen, und so steckt er einen Teil des Geldes in den Ankauf und die Renovierung einiger Häuser in der Nachbarschaft. Aber Vergangenes ist nie ganz vergangen. Die Geschäftsführerin der Bank, in der er während seiner Zeit als Polizist Veruntreuungen aufgedeckt hatte, begeht einen Tag später Selbstmord, nachdem sie ihm einen Job angeboten hat. Ein seltsamer Zufall, der Snow keine Ruhe lässt und seine Instinkte weckt. Aber hat nicht damit gerechnet, dass das organisierte Verbrechen nicht nur in Detroits Unterwelt lauert.

Die Stärken dieser Thrillerreihe (im Original liegen bereits zwei Nachfolgebände vor) sind seine Charaktere. Snow, der integere Ex-Polizist und Ex-Marine mit Verantwortungsgefühl und moralischem Kompass. Die Nebenfiguren, stellvertretend hier Skittles, der Hacker, den er noch von früher kennt und der ihm unterstützend zur Seite steht. Und nicht zu vergessen Detroit, für mich die eigentliche Hauptfigur. Die abgeranzte aber dennoch liebenswerte Metropole, die ums Überleben kämpft und deren Lebendigkeit und Vielfältigkeit der Autor so treffend beschreibt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2021
Time to eat
Hussain, Nadiya

Time to eat


ausgezeichnet

Nadiya Hussains Ansatz unterscheidet sich grundlegend von dem, was in den meisten Kochbüchern, die aktuell erscheinen, propagiert wird. Immer exotischere Zutaten, immer aufwendigere Zubereitungsarten. Ihr Anliegen ist es, Selbstgekochtes mit überschaubarem Zeitaufwand auf den Tisch zu bringen, damit noch genügend gemeinsame Familienzeit übrig bleibt. In ihrer umfangreichen Einführung weist sie auf die Vorteile von Getrocknetem, Konserviertem und Eingefrorenem hin, plädiert für Vorratshaltung und den Einsatz des Gefrierschranks. Ein weiterer Vorteil ist die Beschaffung der Zutaten. Diese muss man sich für ihre Rezepte nicht aufwendig in den verschiedensten Spezialgeschäften zusammensuchen, sondern erhält sie in jedem gewöhnlichen Supermarkt, falls man sie nicht eh auf Vorrat hat. Damit jetzt kein falscher Eindruck entsteht, natürlich wird mit frischem Gemüse, Früchten, Salat etc. gekocht, aber wenn es einmal schnell gehen muss, darf man durchaus auch auf gefrorenes Obst oder Gemüse zurückgreifen.

Auch die Einteilung der Rezepte unterscheidet sich von den üblichen Menüfolgen, denn diese richten sich nach dem Tagesablauf: Frühstück (Süßes und Herzhaftes, auch zum Mitnehmen geeignet), Mittagessen (eher einfache, dem britischen Lunch entsprechende Gerichte), Abendessen (hier dauern die Vorbereitungen und Garzeiten etwas länger, auch für Gäste geeignet), ergänzt durch Desserts (zur Abrundung, süß und raffiniert) sowie Grundlagen (verschiedene Gewürzmischungen und Grundrezepte). Die Zutaten sind übersichtlich aufgeführt, die Zubereitung wird detailliert beschrieben, ergänzt durch hilfreiche Tipps. Außerdem gibt es bei jedem Gericht einen Vermerk, für welche Aufbewahrungsart es sich eignet, wenn z.B. Reste übrig bleiben oder man die doppelte Menge gekocht hat. Abgerundet werden die Rezepte durch anschauliche Fotos des „Endprodukts“.

Ein empfehlenswertes Kochbuch für alle, die ohne großen Zeitaufwand lecker Selbstgekochtes essen und nicht auf den Lieferservice zurückgreifen wollen.

Bewertung vom 18.03.2021
Die Kinder hören Pink Floyd
Gorkow, Alexander

Die Kinder hören Pink Floyd


ausgezeichnet

Wenn ein Autor, der zahlreiche Interviews mit den größten Rockmusikern unserer Zeit geführt hat, sich an seine Kindheit erinnert, entsteht daraus ein Roman, der Erinnerungen weckt. „Die Kinder hören Pink Floyd“ im rheinländischen Büderich, zumindest „der Junge“ und seine Schwester, die in ihm die Leidenschaft für diese englische Prog Rock Band geweckt hat, für die beiden der Inbegriff von Rebellion, vom Verlassen der ausgetretenen Pfade der Erwachsenen, bei denen der gruselige Heino läuft. Die Musik ist ein Ventil, um dem miefigen Alltag zu vergessen, lässt hoffen. Auch wenn er die Texte nicht versteht, sich auf die Erklärungen seiner schwerkranken Schwester verlässt, ist da diese Ahnung, dass es da draußen mehr geben muss als den akkurat gepflegten Vorgarten und die neue Einbauküche. Pink Floyd verspricht Veränderung, Freiheit.

Indem er einen Ausschnitt aus seiner eigenen Kindheit beschreibt, nimmt Gorkow aber auch uns mit zurück in die Vergangenheit. Zumindest diejenigen, die damals in einem ähnlichen Alter waren und sich für die Musik begeistert haben, die aus dem englischsprachigen Ausland zu uns kam. Und während ich diese Besprechung geschrieben habe, lief im Hintergrund die "Dark Side of the Moon" LP...

Es ist ein liebevoller Blick zurück, ein poetisches Memoir, als die Welt noch vibrierte, in Ordnung war, die Einteilung in Gut und Böse, Richtig und Falsch noch funktioniert hat, sich aber bereits die ersten Risse gezeigt haben. Das muss zwangsläufig zu dem Epilog führen, in dem zumindest ein Held der Kindheit entzaubert wird. Roger Waters, der mit seinen umstrittenen Äußerungen heute genau den Konservatismus verkörpert, gegen den die Band angesungen hat.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.03.2021
What the Hack!
Proebst, Margit

What the Hack!


ausgezeichnet

„What the Hack!“, ein kreativer Titel für ein Kochbuch, hinter dem sich, wie der Untertitel verrät, eine Zusammenstellung der „50 besten Hackfleisch-Rezepte aus aller Welt“ verbirgt. Eine höchst willkommene Auflistung, die die Möglichkeiten dieses Alleskönners auslotet und dessen Vielseitigkeit zeigt, denn neben Bolo, Burger und Hackbraten gibt es unzählige Möglichkeiten der Zubereitung. Diese reicht von den klassischen Gerichten der deutschen Küche bis hin zu Spezialitäten aus aller Welt, die wir aus dem Urlaub kennen.

Margit Proebst hat die Rezepte in fünf Kategorien aufgeteilt und startet mit den „Klassikern“ wie Frikadellen, Kohlrouladen und Maultaschen, die wohl jede/r kennt. Internationaler wird es bei den „Aufläufen“. Hier gibt es neben dem englischen Shepard’s Pie, dem griechischen Pastitsio sowie dem rumänischen Varza a la Cluj einiges zu entdecken, das üblicherweise nicht zu den Standardgerichten gehört. Es folgen „Strudel, Pizza und Co“ mit u.a. Börek, Piroschki, Lahmacun, „Burger, Meatballs und Co“ mit spanischen Albondigas, schwedischen Köttbullar und algerischen Boulettes. Den Abschluss bilden Rezepte „Aus aller Welt“, unter anderem aus Thailand, Japan und Indonesien, wobei nicht nur die übliche Schwein/Rind Mischung sondern auch Geflügel-Hack verarbeitet wird.

Sämtliche Rezepte sind gelingsicher, die Zutaten überall erhältlich, die Zubereitung mit Zeitangaben im Detail beschrieben und mit den entsprechenden Fotos versehen, die einen Eindruck des zu erwartenden Endergebnisses vermitteln. Insbesondere habe ich mich über die Gerichte aus dem osteuropäischen Raum gefreut, die durch die Konzentration auf die mediterrane Küche in den Kochbüchern kaum noch erwähnt werden, aber hier für eine höchst willkommene Abwechslung auf dem Teller sorgen.

Alles in allem ein bodenständiges, empfehlenswertes Kochbuch für die Alltagsküche.

Bewertung vom 15.03.2021
Der heilige King Kong
Mcbride, James

Der heilige King Kong


ausgezeichnet

September 1969, New York, im Süden Brooklyns, die Sozialwohnungen des Causeway Housing Projects. Cuffy Lambkin, der allseits beliebten Diakon der Five Ends Baptist Church, richtet vor aller Augen die Pistole auf einen jungen Drogendealer und drückt ab. Glücklicherweise tötet er ihn nicht, sondern schießt ihm „nur“ ein Ohr ab. Die Tatzeugen sind sowohl schockiert als auch verwundert, kann sich doch niemand erklären, was ihn zu dieser Tat getrieben hat. Vielleicht war es ja der Alkohol, der ihm die Sinne vernebelt hat, denn seit dem Tod seiner Frau ist er neben der Spur, spricht mit ihr, möchte wissen, wo sie die Weihnachtskollekte deponiert hat. Geld, das die Ärmsten seiner Schäfchen bitter nötig hätten. Alles kreist um den Mordversuch und seine Folgen, nicht nur für den Diakon sondern auch für seine Gemeinde, die sich schützend vor ihn stellt. Die gutgemeinten Ratschläge ignoriert er, verstecken will er sich nicht. Keiner weicht zurück, selbst dann nicht, als die Drogenmafia auf Rache sinnt.

McBride zeichnet das Bild einer gewachsenen, lebendigen Gemeinschaft. Man ist füreinander da, kümmert sich umeinander, hilft, auch in schwierigen Situationen. Er beschreibt das so lebendig und farbenfroh, dass man ihm auch den Rückgriff auf das eine oder andere Klischee verzeiht. Auftragskiller Earl beispielsweise, oder der seines Jobs überdrüssige Mafioso, der sich nach Liebe sehnt und aussteigen möchte.

Jede dieser Figuren hat ihre eigene, oft auch tragische Geschichte, die uns der Autor mit großer Empathie und viel Liebe zum Detail erzählt. Er erzählt von Liebe und Verlust, von Ausbeutung und Ungerechtigkeit, von Sieg und Niederlage. Davon, wie die Welt für diese Menschen in Brooklyn funktioniert, wo Drogen die neue Sklaverei sind. Wo sich das uralte Spiel wiederholt, das zwangsläufig damit endet, dass ein Diakon auf einen Dealer schießt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.03.2021
Der Fall des Präsidenten
Elsberg, Marc

Der Fall des Präsidenten


ausgezeichnet

Es beginnt mit einem Paukenschlag: Douglas Turner, republikanischer Ex-Präsident der USA, wird in Griechenland verhaftet. Man beschuldigt ihn, für Kriegsverbrechen in Afghanistan verantwortlich zu sein. Ihm droht ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof ICC. Auf diese Anschuldigungen reagiert er, wie wir es kennen und erwarten: selbstherrlich, aggressiv und laut pöbelnd. Jetzt kann nur noch der amtierende Präsident helfen. Die Maschinerie läuft an. Zuerst muss dafür gesorgt werden, dass die Medien keinen Wind von der Verhaftung bekommen, dann wird mit Sanktionen gedroht, zumal die USA keine Veranlassung sehen, sich mit den Anschuldigungen des ICC auseinanderzusetzen, haben sie diesen doch nie anerkannt. Aber zu spät, ein Video ist bereits im Umlauf und schlägt international hohe Wellen.

Wie bereits in Blackout, Gier etc. kreiert Elsberg auch in diesem Roman ein Szenario, das realistischer nicht sein könnte. Die Vereinigten Staaten, die sich über das Gesetz stellen und alle Register ziehen, um die Auslieferung des Ex-Präsidenten in die Niederlande zu verhindern. Kurssturz an der Börse und eine Weltwirtschaft, die auf den Abgrund zusteuert. Falschmeldungen, mit denen die sozialen Netzwerke geflutet werden. Chaotische Zustände. Mittendrin die Anklägerin, eine junge Juristin, unterstützt von einem griechischen Kollegen, die gegen ein Heer amerikanischer Anwälte kämpft und um das Leben ihres einzigen Zeugen fürchtet. Könnte man sich durchaus so vorstellen. Bleibt die Frage, ob die USA damit durchkommen.

Internationales Recht ist jetzt nicht unbedingt das spannendste Thema, aber der Autor schafft es, durch verschiedene ineinanderlaufende Handlungsstränge, das Interesse des Lesers auf konstant hohem Niveau zu halten. Und er ruft uns einmal mehr die Kriegsverbrechen Amerikas in Erinnerung, die selbst so hoch angesehene Ex-Präsidenten wie Obama mit seinen Drohnen an der Zivilbevölkerung nicht nur in Afghanistan begangen haben.

Wie ich es von Marc Elsberg erwartet habe, liefert er mit diesem Politthriller eine ebenso spannende wie interessante Lektüre ab, die meinen Eindruck von dieser rücksichtslosen Weltmacht einmal mehr untermauert.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.03.2021
Eine Formalie in Kiew
Kapitelman, Dmitrij

Eine Formalie in Kiew


ausgezeichnet

Acht Jahre war Dmitrij Kapitelman alt, als er Mitte der neunziger Jahre mit seiner Familie als Kontingentflüchtling aus der Ukraine in Deutschland ankam. Mittlerweile ist er 34 und denkt, dass es an der Zeit ist, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen. Gedacht, getan, die benötigten Dokumente hat er beisammen. Aber er hat nicht mit der deutschen Bürokratie gerechnet, die zusätzlich noch eine Apostille braucht, sprich ein Beglaubigungsdokument, das deren Echtheit bestätigt. Mir fiel dazu sofort der Songtext von Reinhard Meys „Ein Antrag auf Erteilung eines Antragformulars ein“. Und diese Apostille gibt es nur in seiner Geburtsstadt. Also macht er sich auf nach Kiew, versehen mit den guten Ratschlägen seiner Eltern.

Diese Reise in die Vergangenheit ist bittersüß. Es sind nicht nur die Erinnerungen, die er mit der Realität abgleicht, sondern auch das, was ihm über die Ukraine vermittelt wurde. Und gleichzeitig wird ihm immer mehr die Kluft bewusst, die sich zwischen ihm, dem „Demokratiedeutschen“ und seinen Eltern aufgetan hat.

Die Eltern, die eigentlich nie wirklich in Deutschland angekommen sind, noch immer in diesem Niemandsland zwischen alter und neuer Heimat hängengeblieben sind, ihre Identität und sich selbst verloren haben. Die Mutter, die kein Interesse mehr an dem hat, was um sie herum geschieht und deren Lebensinhalt mittlerweile nur noch die unzähligen sibirischen Katzen sind, mit denen sie sich umgibt. Der Vater, dem seine einstige Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit abhanden gekommen ist und der sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, in ein Land, zu dem nur er Zugang hat.

Auch wenn Kapitelman ein guter Beobachter ist, mit Wortwitz und Ironie die Absurditäten der ukrainischen Gegenwart analysiert, so liegt doch über all dieser Unbeschwertheit eine tiefe Traurigkeit. Und so wird aus dieser Suche nach den Wurzeln eine berührende, nie kitschige Liebeserklärung an seine Eltern, denn jetzt versteht er.