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Buchbesprechung
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Bad Kissingen
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Ich bin freier Journalist und Buchblogger auf vielen Websites. Neben meiner Facebook-Gruppe "Bad Kissinger Bücherkabinett" (seit 2013) und meinem Facebook-Blog "Buchbesprechung" (seit 2018) habe ich eine wöchentliche Rubrik "Lesetipps" in der regionalen Saale-Zeitung (Auflage 12.000).

Bewertungen

Insgesamt 368 Bewertungen
Bewertung vom 09.11.2017
Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser / Cyrus Doyle Bd.2
Lucas, Jan

Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser / Cyrus Doyle Bd.2


sehr gut

Wer nach anstrengendem Arbeitstag entspannende Spannung oder spannende Entspannung sucht, ist mit den Guernsey-Krimis von Jan Lucas um den britischen Kripo-District-Chef Cyrus Doyle bestens bedient. Nachdem mir der erste Band "Cyrus Doyle und der herzlose Tod" (April 2017) viel Spaß gemacht hatte, musste ich natürlich auch den im Oktober im Aufbau-Taschenbuchverlag erschienenen zweiten Band "Cyrus Doyle und das letzte Vaterunser" lesen. Und ich wurde nicht enttäuscht: Neben den in solchen "Urlaubskrimis" üblichen Landschaftsbeschreibungen der britischen Kanalinsel Guernsey (der Krimi ist also ein Muss für alle Giernsey-Fans und solche, die es werden wollen!) versteht es Jan Lucas, Pseudonym eines angeblich bekannten deutschen Thriller-Autors, eine durchaus spannende Handlung mit Witz und Ironie zu verbinden. So nimmt er seine verschiedenen Charaktere selbst nicht immer ganz ernst. Auch der Umgang der Figuren untereinander lässt den Leser oft schmunzeln, ebenso wie manche Situationsbeschreibungen - wenn zum Beispiel der ständig Schokoriegel vertilgende Polizist Baker einen Verbrecher ausgerechnet mit einem Schokoriegel-Wurf an dessen Kopf zur Strecke bringt. Also wohlgemerkt: Man darf diese Krimis wirklich nicht allzu ernst nehmen, aber das echte Leben ist doch schließlich ernst genug. Auch sprachlich ist dieser zweite Band wieder recht locker, dabei sehr humorig formuliert. Die Doyle-Krimis von Jan Lucas stellen sicher nicht den Anspruch, mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet zu werden, aber sie garantieren uns Lesern einen entspannenden Feierabend mit Urlaubsgefühl. Damit diese gute Stimmung und unsere Urlaubssehnsucht anhält, ist bereits jetzt "Cyrus Doyle und die Kunst des Todes" als dritter Band für April 2018 angekündigt. Man darf also schon seinen Guernsey-Urlaub planen. Wenn dort nur nicht immer so viele Morde geschehen würden, seitdem Cyrus Doyle nach 22-jähriger Abwesenheit auf die Insel zurückgekehrt ist .....!

Bewertung vom 05.11.2017
Der weiße Affe
Ehmer, Kerstin

Der weiße Affe


ausgezeichnet

Mit ihrem im September im Pendragon-Verlag erschienenen Debütroman "Der weiße Affe" ist der Berlinerin Kerstin Ehmer, hauptberuflich Fotografin und Bar-Betreiberin, ein überraschender und erstklassiger Millieu-Krimi gelungen. Zwar ist es nicht der erste Krimi, der uns Leser ins Berlin der Zwanziger Jahre führt - da gibt es vor allem die bekannte Gereon-Rath-Reihe von Volker Kutscher -, aber Ehmer hat etwas Ungewöhnliches geschafft: Nicht der Mord am jüdischen Bankier Eduard Fromm in einem typischen Berliner Hinterhaus und dessen Aufklärung steht im Vordergrund, sondern mittels ihrer Protagonisten und Schauplätze zeigt die Autorin ein schillerndes, authentisches Bild der preußischen Hauptstadt in den doch gar nicht so Goldenen Zwanzigern. Um das alte Berlin und seine Gesellschaft geht es im Roman. Mit ausgezeichneten Charakteren und einer diesen urwüchsigen Typen und ihrer quirligen Zeit angepassten vollmundigen Sprache lässt Ehmer das pralle Leben der Hauptstadt und deren sich moralisch auflösende Gesellschaft nach verlorenem Krieg und Inflation lebendig werden. Es ist die Zeit des noch unterschwelligen Antisemitismus' und erwachenden Nationalsozialismus, die Zeit sexueller Freizügigkeit, des Lösens von veralteten Normen, die Zeit schummriger Bars und frivoler Kabaretts, die Zeit des in Hinterhöfen vegetierenden Proletariats und des neureichen Bürgertums. In diese aufgeheizte, zügellose Millionen-Metropole Berlin kommt der junge Kriminalkommissar Ariel Spiro aus dem provinziellen Wittenberge (Elbe) mit seinen nur 25.000 Einwohnern und wird gleich am ersten Tag mit dem Mordfall Fromm beauftragt. Eindrucksvoll erleben wir Leser mit, wie der Junge aus der Provinz erste, auch unliebsame Erfahrungen mit der ungeheuren Reizüberflutung macht, wie er mitgerissen wird, wie er sich ihrer kaum erwehren kann, wie er unterzugehen droht. Kerstin Ehmers Debüt ist in Milieu-Darstellung und ausdrucksstarker Sprache absolut überzeugend und begeisternd, weshalb ich diesen ungewöhnlichen Krimi gern weiterempfehle.

Bewertung vom 03.11.2017
Zwei Sekunden / Kommissar Eugen de Bodt Bd.2
Ditfurth, Christian von

Zwei Sekunden / Kommissar Eugen de Bodt Bd.2


sehr gut

Ungemein spannend, voller Tempo und Action ist der schon 2016 bei carl's books erschienene Politthriller "Zwei Sekunden" des Berliner Schriftstellers Christian von Ditfurth (64). Es ist der zweite Band seiner aktuellen Thrillerreihe um den ziemlich eigenwilligen, aber letztlich natürlich immer erfolgreichen Berliner LKA-Hauptkommissar Eugen de Bodt, der uns 2014 im ersten Band "Heldenfabrik" vorgestellt wurde. Diesmal geht es um einen scheinbar missglückten Terroranschlag auf den Wagen der deutschen Kanzlerin und des russischen Präsidenten auf dem Weg vom Flughafen zum Kanzleramt. Das Auto mit den beiden Staatschefs wurde nur um zwei Sekunden verfehlt, explodiert ist das nachfolgende Fahrzeug mit einem von Merkels Sachbearbeitern. Glück im Unglück? Ungemein spannend beschreibt Ditfurth die nachfolgende Aufklärungsarbeit oder - besser - deren Versuch, denn sämtliche Sicherheitskräfte vom LKA bis zum Bundesnachrichtendienst schwimmen in Unfähigkeit und Ergebnislosigkeit. Auch den russischen Diensten, die teils mit und teils ohne deutsche Erlaubnis in Berlin agieren, treten ergebnislos auf der Stelle. Nur Eugen de Bodt und seine beiden Mitarbeiter Sylvia Salinger und Ali Yussuf, von der Kanzlerin ausdrücklich neben der offiziellen Taskforce mit der Aufklärung beauftragt, kommen mit ihrer unkonventionellen Vorgehensweise dem Geheimnis endlich näher, nachdem Mitarbeiter des Kanzleramts vom Staatsminister abwärts ermordet wurden. Prompt macht sich de Bodt durch seine Arbeitsweise bei der Taskforce unbeliebt, die aus teils abgehalfterten, teils unfähigen Beamten besteht. Ditfurth beschreibt auf herrlich sarkastische Art das behördliche Kompetenzgerangel, das Verschieben des Schwarzen Peters, das politische Geklüngel. Der Actionthriller "Zwei Sekunden" ist im wörtlichsten Sinn ein echter "Pageturner": Kurze Kapitel voller Spannung verleiten einen immer wieder, auch noch das nächste und übernächste Kapitel lesen zu wollen. Extrem kurze Sätze oder Satzbruchstücke wie Gedankenblitze sorgen für Tempo. Schnelle Szenenwechsel lassen im Kopf einen Actionfilm ablaufen. Natürlich ist die Handlung insgesamt fiktiv, von vorn bis hinten ausgedacht. Aber könnte in unserer aktuell so unsicheren politischen Weltlage dies alles eines Tages nicht genau so passieren? Droht uns vielleicht irgendwann ein dritter Weltkrieg um die letzten noch unverteilten Rohstoffreserven? Ditfurth bedient sich in seinem Thriller zwar hin und wieder einiger Klischees, doch verzeiht man ihm diese gern, zumal es wohl oft bewusst eingebaute Persiflagen sind. Der Roman hat zumindest keine "Hänger", ist auf keiner Seite langweilig, überzeugt vielmehr durch einige nette satirisch-sarkastische Einschübe, gut durchdachte Dialoge, ausgezeichnete Charakterisierungen seiner Protagonisten. Den dritten Band "Giftflut" (September 2017) habe ich schon bestellt.

Bewertung vom 29.10.2017
Wer ist B. Traven?
Seifert, Torsten

Wer ist B. Traven?


ausgezeichnet

Bis heute ist die Identität des geheimnisvollen deutschen Bestseller-Autors B. Traven ungeklärt, der spätestens nach der Verfilmung seines 1927 veröffentlichten Romans "Der Schatz der Sierra Madre" durch US-Regisseur John Huston (1948) weltberühmt wurde. Gesichert scheint nur, dass der auch unter den Namen Ret Marut, Traven Torsvan und Hal Croves bekannte, einst vorbestrafte Anarchist und spätere Autor von zwölf Romanen, einem Reisebericht und vielen Erzählungen seit 1924 in Mexiko lebte und am 26. März 1969 in Mexiko-Stadt gestorben ist. Diesen wenigen bisher bekannten Spuren lässt nun Autor Torsten Seifert in seinem im Oktober beim Klett-Cotta-Verlag erschienenen Roman "Wer ist B. Traven?" seinen US-Journalisten Leon folgen, um die wahre Identität des geheimnisvollen Erfolgsautors endgültig zu klären. Seifert versteht es glänzend, um die als gesichert geltenden Fakten eine spannungsreiche und aktionsgeladene fiktive Handlung zu weben, so dass man als Leser nie ganz sicher sein kann, was nun tatsächlich real und was nur ausgedacht ist. So begegnen wir Leon 1947 auf einer Stippvisite bei den Dreharbeiten zum Sierra-Madre-Film mit Humphfrey Bogart in der mexikanischen Wildnis, wo beide sich beim Schachspiel anfreunden. Im schnellen Wechsel geht es dann in dem vom Weltkrieg zerstörten Wien in eine geheime Bibliothek mit Büchern einst verbotener Autoren, zu denen auch Ret Marut alias B. Traven unter den Nazis gehörte. Schließlich kehrt Leon auf neu entdeckten Spuren nach Mexiko zurück. Mit seinem Buch "Wer ist B. Traven" ist Autor Torsten Seifert wirklich ein spannender und temporeicher Roman gelungen, der durch sein amüsantes Spiel mit Fakten und Fiktionen interessant ist und wohl jedem Leser empfohlen werden kann.

Bewertung vom 28.10.2017
Ein Gentleman in Moskau
Towles, Amor

Ein Gentleman in Moskau


ausgezeichnet

Ein wirklich empfehlenswertes Buch ist der im September im List-Verlag erschienene Roman "Ein Gentleman in Moskau" von Amor Towles (53). Dieser erst zweite Roman des Amerikaners (40 Wochen unter den "New York Times"-Bestsellern, in über 20 Sprachen übersetzt) schildert auf ungewöhnliche, überaus intelligente und wunderbar ironisch-sarkastische Weise das Leben des Grafen Alexander Rostov, der 1922 zu lebenslangem Hausarrest im Moskauer Luxushotel Metropol verurteilt wird. Wir erfahren, wie der anfangs 32-jährige Adlige über drei Jahrzehnte bis 1954 sein Leben im Hotel meistert, wo er - statt wie früher als Gast dauerhaft in einer mehrräumigen Suite - jetzt als Oberkellner in einer winzigen Dachkammer leben muss. Als in Ungnade gefallene "Ehemalige Person" hadert der Graf nicht etwa mit seinem Schicksal, sondern bleibt jener gebildete Aristokrat und Gentleman, als der er erzogen und aufgewachsen ist. Anders als die jetzt herrschenden Bolschewiken meinen, ist er keineswegs aus dem Weltgeschehen verbannt, sondern ist - im Gegenteil - die Sonne, um die sich ihre Welt dreht: Der Graf steht im Roman für die zeitlosen, beständigen Werte und Tugenden und bleibt über die vielen Jahre derselbe, nur Russland und die Welt ändern sich ständig. Das Hotel Metropol mit seinen je nach Machtgefüge wechselnden Gästen ist ein Abbild der Welt draußen. Autor Amor Towles gelingt es, dem Leser im Zeitraffer die jüngere wechselhafte Geschichte Russlands (Revolution, Stalin, Chruschtschow) in einem ungewöhnlich vergnüglichen Stil zu vermitteln. Bolschewismus, Kommunismus und ihre politischen Führer werden dabei gehörig auf die Schippe genommen. Towles erzählt die Geschichte seines Gentleman, der - humanistisch gebildet - als "glücklichster Mensch Russlands" über den doch vergänglichen Niederungen des politischen Alltags steht, in einem angepasst eleganten Stil, so das einem das Lesen auf jeder Seite eine Freude ist. Sein feiner, hintergründiger Humor und seine spitzfindige Wortwahl (der Übersetzerin Susanne Höbel sei gedankt!) lässt einen unaufhörlich schmunzeln. Ich habe selten einen so intelligenten, dabei humorvollen Roman gelesen.

Bewertung vom 28.10.2017
Herrn Haiduks Laden der Wünsche
Beckerhoff, Florian

Herrn Haiduks Laden der Wünsche


ausgezeichnet

Man sollte nicht immer nur von einem besseren Leben träumen, sondern das Beste aus dem machen, was man hat! Das ist die zentrale Botschaft des poetischen Romans "Herrn Haiduks Laden der Wünsche" von Florian Beckerhoff (41), der im Oktober im Verlag HarperCollins erschien - und mich spontan an "Das Glücksbüro" (2013) von Andreas Izquierdo erinnerte. Der Algerier Haiduk, Betreiber eines winzigen Kiosk-Ladens mit Lotto-Annahmestelle in einem Berliner Altstadtviertel, sucht mit der schüchternen Studentin Alma den rechtmäßigen Gewinner des 13-Millionen-Jackpots, dessen verlorenen Spielschein sie gefunden haben. Als dies im Viertel bekannt wird, bestürmen die ihr Glück suchenden Menschen Haiduks Laden und bringen sein bisher in aller Bescheidenheit glückliches Leben durcheinander. Im Lauf der Handlung lernen wir die unterschiedlichsten Mitmenschen kennen, alle auf der Suche nach dem ganz großen Glück. Jeder gibt vor, Eigentümer des gefundenen Spielscheins zu sein. Im Streit um den Jackpot erkennen wir deren Unzufriedenheit mit ihrem bisherigen Leben und ihre unerfüllbaren Hoffnungen. Aber Spielschein-Verkäufer Haiduk, "Händler der geheimen Wünsche", warnt: "Das Glück ist hier und jetzt und sonst gar nicht.... Gehen Sie nach Hause, spielen Sie mit Ihren Kindern und trinken Sie Tee." Denn das wahre Glück findet man nur in den kleinen Dingen und Begebenheiten des Alltäglichen. Florian Beckerhoff ist ein wunderbar leiser, besinnlicher und poetischer Roman gelungen, der sich trotz seines philosophischen Tiefgangs leicht lesen lässt. Sein Roman gleicht einer ruhigen Oase in der überwiegend von brutalen Psychothrillern und Action-Romanen beherrschten Welt gängiger Unterhaltungsliteratur. Beckerhoffs Roman ist deshalb unbedingt EMPFEHLENSWERT. Denn wer dieses Buch wirklich aufmerksam liest, wird sicher anschließend über sein eigenes Leben, über seine eigenen Wünsche und unerfüllbare Hoffnungen nachdenken.

Bewertung vom 28.10.2017
Die Stadt des Zaren / Sankt-Petersburg-Roman Bd.1
Sahler, Martina

Die Stadt des Zaren / Sankt-Petersburg-Roman Bd.1


ausgezeichnet

Dramatisch und bildgewaltig ist der im August im List-Verlag veröffentlichte historische Roman "Die Stadt des Zaren" von Martina Sahler. Nach mehreren anderen Romanen aus dem alten Russland beweist sich auch hier die Autorin als Kennerin der Landesgeschichte. Unter Verwendung von zeitgenössischen Dokumenten wie Tagebuchnotizen, Briefen und anderer Unterlagen entwickelt sie in ihrem aktuellen Roman in mehreren Handlungssträngen eine eng an geschichtliche Daten und Fakten orientierte fiktive Geschichte, in deren Verlauf zwischen 1703 und 1712 der wider allen natürlichen Hemmnissen (Nahrungsmangel, Überschwemmungen und eisige Winter) schwierige Aufbau der von Zar Peter I. dem Großen nach holländischem bzw. westlichem Vorbild geplanten Stadt Sankt Petersburg für den Leser leicht nachvollziehbar ist. Anhand ihrer Figuren schafft es Martina Sahler auch, die frühe Petersburger Gesellschaft aus ausländischen Handwerkern und Spezialisten, schwedischen Kriegsgefangenen und russischen Leibeigenen, russischen Adligen und Höflingen um Zar Peter sowie deren aller schwierige Lebensumstände und die zeitgleichen historischen Ereignisse (nordische Kriege) glaubhaft wiederzugeben und lebendig werden zu lassen. Manche allzu rührselige und romantische Szene hätte die Autorin vielleicht etwas mildern können, um nicht gar zu schnulzig zu wirken. Aber alles in allem hat mir dieser interessante und zugleich spannende Roman mit seiner Sprache und beeindruckenden Bildgewalt gefallen, weshalb ich ihn gern zum Lesen empfehle.

Bewertung vom 28.10.2017
Das Vermächtnis der Spione / George Smiley Bd.9
le Carré, John

Das Vermächtnis der Spione / George Smiley Bd.9


sehr gut

Nostalgisch und doch hochaktuell ist der gestern im Ullstein-Verlag erschienene Spionagethriller "Das Vermächtnis der Spione" des britischen Bestseller-Autors John le Carré, Band 9 seiner bekannten Reihe um den britischen Auslandsgeheimdienstchef George Smiley. Vielleicht ist dieser Roman das schriftstellerische Vermächtnis des heute 86-jährigen Autors, der seine Weltkarriere 1965 mit "Der Spion, der aus der Kälte kam" begründete. Genau diesen noch im selben Jahr mit Richard Burton verfilmten Bestseller sollte man nämlich kennen, da der neue Thriller sich eng auf ihn und die damaligen Akteure bezieht. Denn auch jetzt geht es noch einmal um die Vorfälle um 1960 in den "kältesten Jahren des Kalten Krieges", in denen Spione aus Ost und West nach eigenen, oft ungeschriebenen und nicht immer legalen Mitteln gegeneinander kämpften, wobei nach damaligem Verständnis auch Tote in Kauf genommen werden mussten. Aber auch hochaktuell ist Carrés "Vermächtnis", da eben dieser alte Vorgang "Wildfall" nun vom heutigen, parlamentarisch streng kontrollierten MI6 aufgeklärt werden soll, dem nach einer Klage von Kindern der damals an der Berliner Mauer erschossenen Spione die Prüfung durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, die Justiz mit heutigem Rechtsverständnis oder gar sensationsgierige Medien drohen. Da der MI6 den einstigen Chef George Smiley nicht finden kann, nimmt man sich dessen längst pensionierten Mitarbeiter Peter Guilliam vor, der seit Jahren friedlich "mit gackernden Hühnern und muhenden Kühen" auf seinem bretonischen Bauernhof lebt. Neben Spannung lebt der Spionagethriller eben auch von Witz und Ironie. So sind doch die alten "Schlapphüte" trotz ihres Alters noch immer kampferfahren, den juristisch geschulten Youngsters im heutigen MI6 fachlich überlegen und lassen sie einfach auflaufen. "Das Vermächtnis der Spione" zeigt im zeitlichen Vergleich beider Handlungsstränge den krassen Unterschied zwischen damaliger und jetziger Geheimdienstarbeit, die heute längst nicht mehr so geheim ist, da sie ständiger Kontrolle von außen unterliegt. Wer die früheren Smiley-Romane Carrés und vor allem seinen "kalten Spion" nicht kennt, mag beim Lesen dieses neuen Romans vielleicht Verständnisprobleme bekommen. Für Kenner der Materie ist das Buch aber unbedingt EMPFEHLENSWERT.

Bewertung vom 28.10.2017
Nachtblau
Vlugt, Simone van der

Nachtblau


ausgezeichnet

Historisch interessant und locker geschrieben ist der im Juli bei HarperCollins erschienene Roman "Nachtblau" von Simone van der Vlugt (51), einer der bekanntesten und erfolgreichsten Krimiautorinnen in den Niederlanden. Gestützt auf historisches Material und vielerlei Fachliteratur beschreibt sie die rasante Entwicklung der kommerziellen Keramikindustrie in Delft in den Jahren ab 1650. Mittels einer fiktiven Biografie der einstigen Bäuerin Catrijn, die es von der Haushälterin in Amsterdam über die Anstellung als Keramikmalerin schließlich zur Unternehmerin schafft, vermittelt die Autorin Wissenswertes nicht nur über die Entstehung des noch heute weltberühmten "Delfter Blau". Denn interessant ist auch die Beschreibung des dörflichen und städtischen Lebens in Holland zu jener Zeit, die Katastrophen durch Explosion, Feuersbrunst und Pest in der Stadt oder Catrijns Begegnungen mit den Malern Rembrandt in Amsterdam und Jan Vermeer in Delft, der als noch junger und unbekannter Maler eine Gastwirtschaft betreibt. Alles in allem ist dieser Roman ein Stück "lebendige Geschichte", der auch für nicht an Geschichte interessierte Leser einiges zu bieten hat, zumal Catrijns Leben immerhin mit einem Mordfall verbunden. Deshalb halte ich "Nachtblau" in jedem Fall für LESENSWERT.

Bewertung vom 28.10.2017
Solange die Hoffnung uns gehört
Winterberg, Linda

Solange die Hoffnung uns gehört


gut

Sehr berührend ist der im Juni im Aufbau-Taschenbuchverlag atb erschienene Roman "Solange die Hoffnung uns gehört" von Linda Winterberg, Pseudonym der Schriftstellerin Nicole Steyer, Autorin mehrerer im Mittelalter spielender Romane. In diesem neuen Buch geht es - nach "Das Haus der verlorenen Kinder" (2016) - wieder um die jüngere deutsche Geschichte, nämlich um Einzelschicksale Frankfurter Juden zwischen 1933 und 1955, die es lt. Nachwort so oder ähnlich tatsächlich gab, die aber hier frei in eine rein fiktive(!) Handlung eingebunden wurden. Hauptpersonen des Romans sind die verwitwete jüdische Sopranistin Anni Kluger, Star der Frankfurter Oper, ihre Tochter Ruth, die nach dem Krieg ihrer Mutter auf die Opernbühne nachfolgt, sowie der Nachbarssohn und Pianist Walter Sommer. Während die Kinder 1938 in einem der Kindertransporte nach England entkommen, muss Anni Kluger in Frankfurt zurückbleiben. Der Leser verfolgt das Schicksal von Mutter und Tochter in den Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren. Die Autorin beruft sich im Nachwort auf Schicksale realer Personen, was den Roman mit seinen manchmal fast unglaublichen Geschehnissen berührend wirken lässt. Doch trotzdem erschien mir der Roman - gerade in Kenntnis der im Nachwort geschilderten realen Biografien - in seinem fiktiven(!) Handlungsablauf und sprachlich manchmal zu "weichgespült", war die Realität doch grausamer und mörderischer. Vor allem das vom Verlag gewählte Titelbild finde ich unpassend und dem Thema nicht gerecht.