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hasirasi2
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Dresden

Bewertungen

Insgesamt 1115 Bewertungen
Bewertung vom 23.03.2022
Das Fundbüro der verlorenen Träume
Paris, Helen Frances

Das Fundbüro der verlorenen Träume


ausgezeichnet

Vom Verlieren und Finden

„… manchmal … stehe ich nur da … und blicke auf die Reihen über Reihen des Verlustes.“ (S. 7) Dot ist Anfang 30 und arbeitet im Londoner Fundbüro. Sie ist stets die erste, die kommt und die letzte, die geht. Ihr ist bewusst, dass sie sich seit der Schulzeit kaum verändert hat – sie trägt immer noch eine Art Uniform, die inzwischen schon ziemlich abgetragen ist, und macht sich dieselben Pausenbrote wie früher. Man fragt sich beim Lesen permanent: Ist sie in der Zeit stehengeblieben, oder ist die Zeit für sie stehengeblieben? Dot liebt die Ordnung der Dinge im Fundbüro, dass alles seinen Platz hat und mit einem dijonsenffarbenen Anhänger gekennzeichnet ist. Sie braucht diese Struktur im Leben, denn nach dem Tod ihres Vaters, dem sie sehr nah stand, hat sie den Halt verloren. Eigentlich hatte sie große Pläne und war auf dem besten Weg, diese auch zu verwirklichen, doch dann passierte „es“.
Ihre größte Freude ist es, wenn sie einem Kunden einen verlorenen Gegenstand wiedergeben kann. Eines Tages kommt ein älterer Herr und sucht eine kleine Reisetasche, in der sich das Portemonnaie seiner verstorbenen Frau befindet. Dieser Fall lässt Dot nicht mehr los, sie will die Tasche um jeden Preis finden, denn es sind „… Gegenstände, die Erinnerungen bewahren, Momente, Spuren eines gelebten Lebens. Portale, die wir in Händen halten können, die uns zurückbringen zu denen, die wir verloren haben, und sei es nur für einen Moment.“ (S. 301)

„Das Fundbüro der verlorenen Träume“ ist kein fröhliches oder leichtes Buch, auch wenn es in sich die zarte Hoffnung auf Veränderung und die Verarbeitung unserer Verluste trägt. Es ist sehr philosophisch und tiefgründig, voller überraschender Geheimnisse, gefühlvoll und macht (mich) stellenweise auch sehr traurig.

Dot kennt den Schmerz, den Verluste auslösen, gibt sich ganz oft die Schuld für Dinge, für die sie nichts kann. Dann hat sie das Gefühl, das Leid der ganzen Welt auf ihren Schultern tragen, dass die Schuld sie niederdrückt. „Denn ich kenne mich aus mit Verlust. Ich kenne seine Gestalt, seine Schwächen, seine Ecken und scharfen Kanten. Ich habe seine Koordinaten gespürt.“ (S. 12) Sie ist dabei, die Fehler ihrer Mutter zu wiederholen und sich selbst – ihre eigene Identität – zu verlieren, wenn auch aus einem anderen Grund. Die Suche nach der verlorenen Tasche wird zur Suche nach Antworten auf nie gestellte Fragen, nach tiefvergrabenen Familiengeheimnissen und einer hoffnungsvollen Zukunft.

Helen Frances Paris regt mit ihrem Buch zum Nachdenken an – welche Träume haben wir, welchen haben wir schon verloren und welche können wir uns noch verwirklichen. Für mich ist es ein Herzensbuch.

Bewertung vom 21.03.2022
Eine Familie in Berlin - Ursula und die Farben der Hoffnung / Die große Berlin-Familiensaga Bd.2
Renk, Ulrike

Eine Familie in Berlin - Ursula und die Farben der Hoffnung / Die große Berlin-Familiensaga Bd.2


ausgezeichnet

Gefühlsfarbempfinden

„Ursula … Ein grauer Name, kantig, scharfkantig zuweilen.“ (S. 199) Ursula Stolte wächst am Vorabend des ersten Weltkrieges in einer gutbürgerlichen Familie auf. Ihr Großvater ist der Bürgermeister von Potsdam und die Freundinnen seiner Frau gehören zum Hofstaat der Kaiserin. Trotzdem gibt es zwei „Makel“ in Ursulas Leben: ihre Mutter hat sich vom Vater scheiden lassen und Ursula interessiert sich nur für Kunst. „Es ist … mein Leben. Ich sehe Dinge und möchte sie festhalten, möchten sie malen, zeichnen, sie einfangen.“ (S. 27) Dass man davon auch leben kann, erfährt sie von Paula Dehmels Tochter Vera, die sie in den Kreis ihrer Künstlerfreunde und Mitstudenten einführt. Ermuntert durch die anderen plant Ursula, an einer Kunstgewerbeschule zu studieren – sie möchte Gebrauchskunst erschaffen, Dinge, die schön und nützlich sind. „Vera war wie eine Verheißung, ein Versprechen auf das, was kommen könnte. Eine Zukunft, eine Zukunft, in der Zeichnen eine Rolle spielte. Innerhalb von Stunden hatte Ursula plötzlich eine Perspektive erhalten, von der sie vorher nicht wusste, dass es sie gab.“ (S. 133) Und dann ist da Veras Bruder Heinrich, in den sie sich verguckt. Hat ihre Liebe eine Chance?

Im zweiten Band von Ulrike Renks „Eine Familie in Berlin“ Trilogie geht es um eine faszinierende Frau mit einer außergewöhnlichen Begabung. Ursula ist Synästhetikerin, für sie hat alles eine Farbe, egal ob es sich dabei um einen Geruch, ein Gefühl, eine Person oder Eigenschaft handelt. Ihr Lebensweg hat mich sofort gefesselt. Ulrike Renk beschreibt ihre Abnabelung von der Familie, ihre künstlerische und politische Entwicklung. Aus dem jungen, schüchternen, chaotischen Mädchen wird eine zielstrebige und selbstbewusste Künstlerin, die ihren Weg geht und sich aus dem Korsett der herrschenden Konventionen befreit.
Gleichzeitig bekommt man aus Ursulas Sicht einen weiteren Einblick in die Familie Dehmel, begleitet Paula und Richard, die längst geschieden, aber als Künstler weiterhin eng verbunden und erfolgreich sind, und deren Kinder Vera und Heinrich ebenfalls künstlerische Ambitionen haben, auch wenn Heinrich dann einen ganz anderen Weg einschlägt.

Ulrike Renk hat einen wahnsinnig tollen Schreibstil, ich bin förmlich durch das Buch geflogen und schon sehr gespannt, wie es im nächsten Band weitergeht. Die Charaktere orientierten sich an ihren historischen Vorbildern, die Handlung basiert auf wahren Begebenheiten – und alles wirkt so lebendig und bunt. Über die Dehmels und ihr Studium kommt Ursula mit vielen Berühmtheiten ihrer Zeit in Berührung, wie z.B. Heinrich Vogeler, Else Lasker-Schüler, Tetjus Tügel, Georg Grosz und Emil Orliks. Einige von ihnen kannte ich bereits, die anderen habe ich beim Lesen für mich entdeckt.
Und auch wenn die Erlebnisse der Protagonisten während des 1. WK im Buch nur angerissen werden, wird trotzdem klar, wie sehr der Krieg ihr Leben und Schaffen beeinflusst. Besonders bewegend ist für mich der letzte Absatz: „Blau und Gelb. Die Farben der Hoffnung!“ (S. 455) Eigentlich bezieht er sich auf Paula und ihre Kinder, aber natürlich wird bei mir sofort die Assoziation zum Krieg in der Ukraine geweckt. Hoffen wir, dass diese Farben wirklich Hoffnung bedeuten!

Bewertung vom 16.03.2022
Die MörderMitzi und der Sensenmann
Archan, Isabella

Die MörderMitzi und der Sensenmann


ausgezeichnet

Geht in Österreich ein Serien-Mädchenmörder um?!

Polizistin Agnes Kirschnagel ist sauer. Sie ist im sechsten Monat schwanger und wurde in den Innendienst versetzt. Doch als bei der Erweiterung einer Bar die eingemauerte Leiche eines jungen Mädchens gefunden wird, reißt sie den Fall an sich. Offiziell macht sie zwar nur die Hintergrundrecherche, trägt neue Fakten und Ermittlungsergebnisse zusammen, aber keiner kann sie daran hindern, sich den Fundort und die Verdächtigen mal anzusehen … Und als dann noch herauskommt, dass es vor 5 Jahren schon mal einen identischen und bisher ungeklärten Mordfall in Krems gab, gibt es für sie kein Halten mehr.
Unterstützt wird sie dabei natürlich wieder von der Mitzi, die ihre ganz eigene Theorie zu dem Mörder der Mädchen hat. Vor Jahren hat ihr jemand erzählt, dass sich der Sensenmann verlorene Seelen holt. Seitdem hat sie Angst, dass sie die nächste ist – schließlich hat sie ihre ganze Familie auf dem Gewissen.

Isabella Archan hat es wieder geschafft, mich von der ersten Seite an in Mitzis verqueren Kosmos zu ziehen und an ihren Gedanken und Gefühlen teilhaben zu lassen. Sie tut mir leid, die Mördermitzi, ihren Spitznamen wird sie wohl nie mehr los. Egal wo sie hinkommt, es gibt immer jemanden, der ihr tragisches Schicksal kennt und sie darauf anspricht. Doch im aktuellen Fall werden erstmals Zweifel laut, ob damals wirklich alles so passiert ist, wie sie sich zu erinnern glaubt und wie es ihr erzählt wurde. Hat sie wirklich den Tod ihrer Eltern und ihres Bruders verursacht oder war sie nur der Sündenbock?
Jetzt hat sie auch noch ihre Oma verloren und sich von ihrem Freund getrennt. Sie braucht eine eigene Wohnung, leisten kann sie sich die aber nur, wenn sie das geerbte Grundstück verkauft. Dabei bekommt sie es ausgerechnet mit der Baufirma zu tun, die auch in den Fall der beiden toten Mädchen involviert zu sein scheint.

Im Gegensatz zu den Vorgängerbänden hatte ich diesmal schon sehr früh einen Verdacht, wer der Täter ist und lag am Ende sogar richtig. Aber die Autorin hat es „leider“ geschafft, mich zwischendrin komplett zu verwirren, indem sie immer neue potentielle Verdächtige mit wirklich schlüssigen Motiven auftauchen lässt.
Die Handlung ist extrem spannend und sehr dramatisch, denn nicht nur Mitzi, sondern auch die hochschwangere Agnes gehen dem Täter ins Netz. Ein filmreicher Showdown mit garantiertem Nägelknabbern krönt diesen Band.

5 Sterne und meine Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.03.2022
Die kalte Mamsell / Viktoria Berg Bd.3
Dix, Elsa

Die kalte Mamsell / Viktoria Berg Bd.3


ausgezeichnet

Carpe Noctem – Nutze die Nacht

„Hinrichs, ich verlasse mich auf Sie. Machen Sie mir keine Schande. Das Kommissariat muss ein Erfolg werden.“ (S. 54) Christian Hinrichs hat seinen Beruf als Journalist endgültig an den Nagel gehängt auf Fürsprache des Badekommissars die Ausbildung zum Kriminalassistent absolviert. Schließlich hat er zusammen mit der jungen Lehrerin Viktoria Berg auf Norderney schon 2 Fälle gelöst. Dass sich die beiden dabei auch privat nähergekommen sind, passt leider weder dem Direktor von Viktorias Schule noch ihrem Vater, sie dürfen sich in Hamburg nicht mehr treffen. Darum freut sich Christian um so mehr, dass Viktoria bei seinem Dienstantritt im September 1913 Urlaub gerade auf der Insel macht. Doch viel Zeit für Zweisamkeit bleibt ihnen nicht. Schon bevor seine Arbeit offiziell beginnt, werden im Eiskeller eines Hotels zwei Leichen entdeckt – die Kaltmamsell und ein Fremder. Als sich Viktoria die tote Frau genauer ansieht, entdeckt sie etwas, was mit ihrer Familie zu tun hat und eigentlich nicht sein darf. Sie erzählt Christian nichts davon, stellt heimlich eigene Nachforschungen an und bringt sich damit in extreme Gefahr.

„Die kalte Mamsell“ ist schon der dritte Band der Seebadkrimi-Reihe und genau wie seine Vorgänger wieder extrem spannend und sehr atmosphärisch. Im Laufe der Ermittlungen kommen immer neue Erkenntnisse über die Kaltmamsell ans Licht, aber der Tote bleibt Christian und Viktoria ein Rätsel – niemand scheint ihn zu kennen oder wenigsten schon mal gesehen zu haben. Erst auf einer anderen Insel kommen sie ihm endlich auf die Spur.

Auch privat läuft es nicht rund. Viktoria ist zusammen mit ihrem Vater auf Norderney, weil er sich von einem Herzinfarkt erholen muss. Der trifft eine alte Bekannte wieder und Viktoria fühlt sich von den beiden oft ausgeschlossen. Außerdem erfährt sie, dass diese eine enge Freundin ihrer verstorbenen Mutter war und ihr Vater sie in einigen wichtigen Dingen belogen hat.
Auch Christian hat ein großes Geheimnis, dass auf keinen Fall ans Licht kommen darf, doch jetzt droht ihm jemand – der Mörder? – mit dessen Aufdeckung. Wie soll er sich verhalten?

Ich mag die Krimi-Reihe von Elsa Dix sehr, mir gefällt, wie sie geschickt das Privatleben der beiden Ermittler, ihre Besonderheiten und Eigenschaften in die Handlung einfließen lässt. Viktoria ist sehr unkonventionell und unerschrocken, leider geht sie die Nachforschungen oft zu forsch an und bringt sich und andere damit in Lebensgefahr. Zudem ist sie in einer echten Zwickmühle. Sie liebt ihre Arbeit als Lehrerin und Christian, doch wenn sie heiraten, darf sie nicht mehr unterrichten. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich ihre Beziehung in der nächsten Sommerfrische hoffentlich weiterentwickelt.

Ein Highlight des Buches ist übrigens eine Verfolgungsjagd mitten im Gewitter in einem sehr ungewöhnlichen Transportmittel (welches, wird natürlich nicht verraten) – mehr Spannung und Theatralik geht kaum!

5 Sterne für dieses Lesehighlight.

Bewertung vom 14.03.2022
Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Leo, Maxim

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße


ausgezeichnet

Held wider Willen

Im November 2019 ist Michael Hartung selbst der beste Kunde seiner Videothek, außer ein paar Nachbarn leiht schon lange keiner mehr DVDs aus. Vorher war er Stellwerker bei der S-Bahn, Baggerfahrer im Tagebau, Vertriebsmitarbeiter einer Satellitenschüssel-Firma und hat C-Netz-Telefone verkauft – eine typische DDR- und Nachwendekarriere.
Da taucht Alexander Landmann vom Nachrichtenmagazin Fakt bei ihm auf und will ein Interview zum 30. Jahrestag des Mauerfalls machen. Er hat in einem Stasi-Archiv eine Akte ausgegraben, nach der Hartung am 02.07.1983 am Bahnhof Friedrichstraße eine S-Bahn in den Westen umgeleitet und damit 127 DDR-Bürgern die Flucht ermöglicht hat. „Sie, Herr Hartung, haben die Weiche gestellt, die den Zug der Geschichte in die Zukunft fahren ließ.“ Und obwohl Hartung ihm erklärt, dass es nur eine Verkettung widriger Umstände war, überzeugt Landmann ihn mit viel Geld, dass er den Artikel schreiben darf. Keiner von ihnen rechnet damit, dass sie dadurch über Nacht berühmt werden. Hartung ist plötzlich ein Held und Landmann wird endlich Chefredakteur.
Doch die Geschichte verselbständigt sich, Hartung wird ins Radio und Fernsehen eingeladen, ein Verlag lässt Landmann ein Buch über die Massenflucht schreiben, das auch noch verfilmt werden soll. Und als Krönung soll Hartung am beim offiziellen Festakt zum Mauerfall am 9. November eine Rede im Bundestag halten. Während Landmann jubiliert und immer mehr Geld für sie beide scheffelt, versucht Hartung verzweifelt, der Medienmaschinerie wieder zu entkommen …

Maxim Leo erzählt die Geschichte eines absoluten Antihelden, der mir in seiner Hilflosigkeit, Beeinflussbarkeit und Lebensuntüchtigkeit ans Herz gewachsen ist. Bei Hartung geht immer alles schief: Die Massenflucht war nicht geplant, als Strafe wurde er in den Tagebau abgeschoben, nach der Wende hat ihn seine Partnerin mit der gemeinsamen Tochter verlassen und Landmanns Artikel sollte ihm nur ein bisschen Geld einbringen, damit er seine Videothek noch ein paar Monate vor der Pleite retten kann. Doch dann geht die Geschichte viral, jeder sieht etwas in ihm, überträgt seine Erwartungen, Erfahrungen und Erinnerungen auf ihn. Und je öfter Hartung die Geschichte erzählen muss, um so mehr glaubt er sie selber, die kleinen Lügen, die beschönigten Wahrheiten – sie kommen ihm realer vor als das, was wirklich passiert ist. Dabei hat er sie zum Teil noch nicht mal selbst erfunden – das war Landmann. Immer öfter hofft er, dass ihn jemand durchschaut damit endlich Schluss ist. Und dass er jemanden hat, mit dem er sein Geheimnis teilen kann.
Dieser Jemand könnte Paula sein, die eines Tages in seinem Laden steht. Sie saß damals in der S-Bahn und wollte mit ihren Eltern an die Ostsee fahren. Aber sie sind in den falschen Zug gestiegen und im Westen gelandet. Das Trauma hat sie nie richtig verarbeitet. „Dieser Bahnhof ist mir unheimlich geblieben, als könnte man hier immer wieder, ohne es zu wollen, von einem Leben in ein anderes rutschen.“ Hartung und Paula verlieben sich, aber die Lüge steht zwischen ihnen …

Maxim Leo hält uns einen Spiegel vor. Wer von uns würde seine Vergangenheit nicht beschönigen, wenn uns daraus Vorteile erwachsen und wir unsere Gegenwart und Zukunft maßgeblich verbessern könnten? So wie Hartung, der sich von seinem Erfolg mitreißen lässt, die Aufmerksamkeiten genießt, den schnellen Ruhm, das Geld. Und dann kann er irgendwann nicht mehr zurück.

Der Autor spielt gekonnt mit den Vorurteilen und Unterschieden zwischen Ost und West, mit dem Verhalten der Medien, die sich ohne einen Hintergrund-Check sofort auf den neuen Helden stürzen, alle etwas vom großen Kuchen abhaben wollen. Er schreibt sehr ehrlich, plakativ und sarkastisch, lässt Hartung in seiner Hilflosigkeit unfreiwillig komisch wirken.

Peter Kurths Stimme verkörpert Hartung perfekt. Ich sehe einen mittelalten Mann vor meinem inneren Auge, der schon viel erlebt hat. Zu Beginn klingt dessen Stimme leidenschaftslos, er

Bewertung vom 12.03.2022
Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe
Hazelwood, Ali

Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe


ausgezeichnet

Fettnäpfchenwetthüpfen

Kennt ihr das Lied „Fettnäpfchenwetthüpfen“ von Annette Louisan? Ich hatte es beim Lesen von „Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe“ stets im Hinterkopf, weil Olive Smith zielsicher jedes Fettnäpfchen mittnimmt, das sich ihr in Zusammenhang mit Dr. Adam Carlsen in den Weg stellt. Dabei ist sie eigentlich eine ernstzunehmende Biologie-Doktorandin in Stanford, ständig pleite (weil gnadenlos unterbezahlt), müde (weil sie neben der Forschung und akademischen Arbeit kaum zum Schlafen kommt) und meist auch hungrig und mit viel zu wenig Koffein im Blut (resultierend aus den vorangegangenen Problemen).
Doch dann vergucken sich ihre beste Freundin Anh und Jeremy (den Olive kurz gedatet hatte) ineinander, wollen aber nichts miteinander anfangen, um sie nicht zu verletzten. Ein Alibi-Freund muss her. Sie küsst ohne nachzudenken den ersten Mann, der ihr über den Weg läuft: Adam Carlsen, den unbeliebteste Professor der ganzen Uni. „Dr. Carlsen mochte ein junger akademischer Rockstar und das Wunderkind der Biologie sein, vor allem aber war er oberfies und viel zu kritisch … ein launisches, nervtötendes, angsteinflößendes Arschloch.“ (S. 21/22) Doch dann passiert ein Wunder, er braucht ebenfalls eine Alibi-Freundin. Sie einigen sich auf eine Fake-Beziehung mit festen Regeln, doch Regeln sind dazu da, gebrochen zu werden ...

Ali Hazelwood hat hier eine ganz zauberhafte, charmante und intelligente Liebesgeschichte geschrieben, die mit den Stilmitteln der Rom-Coms arbeitet und diese dabei gekonnt auf die Schippe nimmt. Gleichzeitig geht sie geschickt auf die Probleme von Frauen in der Forschung ein, ihre Schwierigkeiten, wahr- und ernstgenommen zu werden: „Treten sie so selbstsicher auf, wie es ein mittelmäßiger weißer Mann täte.“ (S. 245)

„Olive war dreiundzwanzig und allein auf der Welt. Sie wollte keine freien Wochenenden oder ein angemessenes Gehalt. Sie wollte die Zeit zurückdrehen. Sie wollte weniger einsam sein.“ (S. 18) Ich hatte Olive sofort in mein Herz geschlossen. Sie ist unsicher und schüchtern und hat in der Jugend einen schlimmen Verlust erlitten. Aus Angst, noch jemanden zu verlieren, geht sie keine Beziehungen mit Männern ein, sie interessieren sie einfach nicht – zumal sie sowieso keine Zeit dafür hätte. Doch wenn sie erstmal aufgetaut ist, ist sie chaotisch und lustig und frech. Und Adam bringt ihren Panzer zum Schmelzen. Plötzlich will sie Zeit mit ihm verbringen, denn er ist gar nicht so schlimm wie sein Ruf – ganz im Gegenteil. Zu ihr ist er immer nett und zuvorkommend, er hört ihr zu, ermutigt sie bei ihrer Forschung und bringt sie zum Lachen – und er sieht echt heiß aus.

Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen und mochte das Prickeln zwischen Olive und Adam, was diese sich nicht eingestehen wollen, obwohl es allen anderen längst klar ist. Und auch wenn von Beginn an klar ist, wie die Geschichte ausgeht, ist der Weg dahin extrem unterhaltsam und sehr lustig. Für mich definitiv ein Lesehighlight.

Bewertung vom 10.03.2022
Mrs Agatha Christie / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.3
Benedict, Marie

Mrs Agatha Christie / Starke Frauen im Schatten der Weltgeschichte Bd.3


sehr gut

Abwärtsspirale

1912 erobert Archibald Christie Agathas Herz im Sturm. Gegen den Willen ihrer Familien und nach längerer Wartezeit heiraten sie mitten im 1. Weltkrieg. Agatha, die ihr ganzes Leben lang erzogen wurde, die perfekte Ehefrau zu sein und sich stets dem Wohl und Wille ihres Mannes unterzuordnen, hält sich strikt daran. Selbst ihre Tochter lässt sie auf seinen Wunsch hin von Kindermädchen aufziehen, damit Archie immer an erster Stelle steht. „Archie ist mein Ehemann und ich werde ihn so akzeptieren, wie er ist, selbst wenn das nicht meinen Vorstellungen und Hoffnungen entspricht.“ (S. 251) Doch je erfolgreicher ihre Bücher werden, desto mehr distanziert er sich von ihr.

Am 4.12.1926 ist Archie bei Freunden zu Gast, als ein Anruf kommt – Agatha ist verschwunden. Am nächsten Tag wird ihr Auto gefunden, ihr Mantel und ihr Koffer sind noch darin. Wurde sie entführt oder hat sie sich das Leben genommen? Die Polizei vermutet etwas ganz anderes, denn das Personal erzählt von einem extrem lauten Streit des Ehepaars am Vortag und dass Archie um jeden Preis die Scheidung will. Eine bis dahin beispiellose Suche nach ihr beginnt, in die zum Teil über 2000 Freiwillige involviert sind. Agathas Verschwinden ist tagelang das Thema auf allen Titelseiten.

Marie Benedict bietet in ihrem Buch eine ganz eigene und sehr raffinierte Erklärung dafür, warum die berühmte Autorin im Dezember 1926 für 10 Tage verschwunden war. Sie erzählt, wie aus der großen Liebe eine große Enttäuschung wird, denn egal wie sehr sich Agatha auch anstrengt, Archie alles recht zu machen, irgendwas ist immer falsch. Er erwartet eine stille, duldsame, vorzeigbare Ehefrau ohne eigene Interessen, dabei hatte ihm bei ihrem Kennenlernen gerade ihre Unangepasstheit so gefallen.

Die Autorin hat es geschafft, mir Agatha sehr lebendig nahezubringen. Sie zeigt eine sehr zielstrebige und organisierte Frau, welche die monetäre Unabhängigkeit und Freiheit, die ihr das Schreiben bietet, nicht wegen ihres Mannes aufgeben will und den Balanceakt zwischen Ehefrau und Autorin jahrelang perfekt meistert. „Dabei war mir stets bewusst, dass mein Schreiben immer ein reiner Zeitvertreib bleiben würde und mein Schicksal ganz und gar in den Händen meines Ehemannes liegen würde.“ (S. 33)
Allerdings hängt Archie einem überholten Rollenbild an und fühlt sich durch Agathas Erfolg anscheinend entmannt. Er stürzt sich in immer längere Reisen und eine Affäre mit einer viel jüngeren und anschmiegsameren Frau.

Die Geschichte wird über zwei Zeitstränge erzählt, die aufeinander zulaufen. Man verfolgt einerseits Agathas und Archies gemeinsames Leben, die Abwärtsspirale, die ihre Beziehung nimmt, und andererseits Archies eigenartiges Verhalten nach Agathas Verschwinden, das bei der Polizei relativ schnell den Verdacht aufkommen lässt, er könnte seine Frau umgebracht haben, um für die Neue frei zu sein.

Das Buch ist an sich toll geschrieben und sehr spannend, aber mich hat die zum Teil extreme Kürze der Kapitel gestört, die mich immer wieder aus dem Handlungsstrang gerissen und meinen Lesefluss unterbrochen haben. Zumal Archie nicht wirklich viel mehr macht als zu hoffen, dass die Polizei nicht hinter seine Affäre kommt. Darum leider nur 4 von 5 Sternen.

Bewertung vom 09.03.2022
Fiese Friesen - Inselmorde zwischen Watt und Düne
Aukes, Ocke;Kruse, Tatjana;Bacher, Christine;Gerdes, Peter

Fiese Friesen - Inselmorde zwischen Watt und Düne


sehr gut

Morden im Norden

Die Kurzkrimis in „Fiese Friesen“ spielen auf den Ostfriesischen Inseln und haben die perfekte Länge, wenn man zwischen Sightseeing, Strand und Wattwanderung mal ein bisschen morden will – den Vermieter wegen der horrenden Preise der Unterkunft, die nervenden Nachbarn und ihre lauten Blagen oder den eigenen Ehepartner, weil man im Urlaub endlich wieder mal die Zeit hat, aller Fehler seines Gegenübers so richtig zu „genießen“. Und dann ist es ja vielleicht doch besser, nur in Gedanken zu töten als sich zu fragen, wie man das wohl unbemerkt hinbekommen könnte und wie man die Leiche dann entsorgt. Wer dennoch echte Absichten hegt, findet in dem Buch bestimmt die eine oder andere Anregung. Man kann seinen Feind z.B. ins Watt führen und dort versinken oder ertrinken lassen, ihn unauffällig vergiften oder ihm irgendein Verbrechen anhängen. Aber Achtung, nicht, dass man ausversehen den Falschen erwischt ;-) Und – gut zu wissen – wenn man die Leiche im Sand vergräbt, sind nach 2 Jahren nur noch Knochen und ein paar Kleidungsreste zu finden .... Aber wir reden hier natürlich, genau wie die Krimiautoren, nur im Konjunktiv ;-).

Die Krimis von z.B. Tatjana Kruse, Sandra Lüpkes, Klaus-Peter Wolf, Jürgen Ehlers oder Regine Kölpin sind mal lustig, mal überraschend, aber immer spannend. Und so ganz nebenbei vermitteln sie viel ostfriesisches Flair und interessantes Wissen zu den Inseln, dem Meer und dem Watt inkl. Naturschutz und Tourismus.

Ein gelungenes Buch für den nächsten Ostfrieslandurlaub oder um die Zeit bis dahin zu überbrücken.

Bewertung vom 08.03.2022
Goethe in Karlsbad
Günther, Ralf

Goethe in Karlsbad


sehr gut

Tschechische Reise

Im Spätwinter 1816 will Goethe nur eins: „Endlich würde er schreiben. Endlich Erholung für die Seele finden und Linderung für die Schmerzen im Leibe.“ (S 8) Nach anstrengenden Monaten zu Hause, in denen Christiane einige Schlaganfälle hatte und er selbst immer noch mit Nierenschmerzen und einem Katarrh kämpft, fährt er zur Kur nach Karlsbad. Doch statt die verordnete Ruhe zu genießen, verhindert er schon am ersten Abend den Selbstmord eines jungen Liebespaares, das sich von seinen „Die Leiden des jungen Werther“ hatte inspirieren lassen. Goethe insistiert „Der Tod ist niemals die Lösung. Er ist immer eine Niederlage.“ (S. 34) und lässt sich überreden, bei den Eltern der unglücklich Liebenden vorzusprechen. Kurz darauf erreicht ihn ein Brief von zu Hause – eine junge Frau streift durch Weimar und behauptet, von ihm schwanger zu sein. Um seinen Ruf und Christianes angeschlagene Gesundheit zu schützen, muss er sofort zurück …

Ich finde den Klappentext und Titel von Ralf Günthers neuem Buch etwas unglücklich gewählt, da Karlsbad und die Liebesgeschichte des jungen Paares nur die Rahmenhandlung für Goethes eigenes Drama bilden. Der ist 67 und seine Gesundheit und sein Ruf sind angegriffen, denn man regt sich immer noch über die nicht standesgemäße Ehe mit Christiane Vulpius und die Anerkennung ihres Sohnes August auf. Da kommt seinen Gegnern das Gerücht eines weiteren unehelichen Kindes natürlich recht.

Ralf Günther spielt im vorliegenden Roman mit den Gerüchten um Goethes letztes (?) uneheliches Kind (Zumindest hat er es auch über seinen Tod hinaus abgesichert.) und zeichnet ein sehr pointiertes Bild des damaligen Zeitgeistes. Ich finde es erstaunlich, wie viel (Literatur-)Geschichte er in diese 178 Seiten gepackt hat. Neben den Verweisen auf „Die Leiden des jungen Werther“ und dessen verschiedene Entstehungs- und Interpretationsmöglichkeiten (Goethe wird immer wieder an diesem Werk gemessen und man geht davon aus, dass er selbst W. ist.) werden auch die politische Lage, seine fast ununterbrochene Reisetätigkeit, der Konflikt mit seinem erwachsenen Sohn und Christianes Ablehnung durch die Gesellschaft aufgegriffen. In diesem Zusammenhang fand ich sehr interessant, dass die beiden wohl eine recht offene Ehe geführt haben und Liebeleien beiderseits geduldet wurden – das war für diese Zeit sehr modern. Dabei kommt Goethe in meinen Augen nicht immer besonders sympathisch rüber – er war ein autoritärer Machtmensch, hat seine Interessen durchgesetzt und einfach das Schicksal anderer Menschen in seinem Sinne bestimmt.

Erwähnen möchte ich auch den ungewöhnlichen Sprachduktus des Romans, angelehnt an Goethes Ausdrucksweise. Aber nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, passte er hat sehr gut zum Inhalt.

Bewertung vom 06.03.2022
Querbeet ins Glück
Kirsch, Lisa

Querbeet ins Glück


ausgezeichnet

Die Grüne Freiheit

„Maddie. Du musst den Garten für mich machen!“ (S. 19) ist wohl so ziemlich der letzte Satz, den diese von ihrer Vermieterin Gabi hören will, schließlich ist sie Musicaldarstellerin und hat einen schwarzen Daumen, selbst Kakteen gehen bei ihr ein. Aber Gabi ist die Treppe runtergefallen und hat sich die Hüfte verdreht und Maddie ist neu in Berlin und hat noch keine Freunde gefunden – und sie kann nicht nein sagen. Also findet sie sich kurz darauf unfreiwillig mit Huhn Inge auf dem Arm im Gemeinschaftsgarten Grüne Freiheit wieder und verliert sich in Mo‘s grünen Augen ...

Im Privatleben ist Maddie schüchtern und sehr introvertiert, fühlt sich vom Alltag oft überfordert. Wenn sie nicht für die Aufführungen probt, strickt sie oder schreibt Listen, aber „… auf der Bühne war ich nicht Maddie. Auf der Bühne war ich die Figur, die ich spielte. Und das machte mich frei.“ (S. 23) Bisher musste sich alles andere ihrer Karriere unterordnen, auch ihr Privatleben. Doch je öfter sie im Gemeinschaftsgarten arbeitet, um so glücklicher und freier fühlt sie sich. Zumal es bei den Proben zum Musical immer wieder zu Mobbing, Neid und Sabotageakten unter den Darstellern kommt. Jetzt entdeckt sie, dass es noch ein Leben neben der Arbeit gibt – auch wenn man diese trotz allem liebt. Und dann sind da ja auch noch die anderen Gärtner, nicht nur Mo und sein Sohn Elvis, auch Lila, Sina, Ulli, Henni und Hühnerflüsterer Hinnert werden schnell zu echten Freunden. Sie alle haben eine Geschichte, die überrascht oder zu Herzen geht. Doch die Idylle währt nicht ewig, denn die Gartensparte, zu der sie gehören, soll einem Neubauprojekt weichen.

Mir hat gefallen, wie Lisa Kirsch den Garten und die Jahreszeiten als Spiegel der Welt und eines Menschenlebens nimmt, das war stellenweise schon sehr philosophisch. Geschickt vermittelt sie auch das Leitbild der Gemeinschaftsgärtner – alles kann, nichts muss und jeder darf machen was er will, wenn er niemand anderem schadet und nachhaltig gärtnert. Es geht ihnen um den Zusammenhalt untereinander, darum, die Artenvielfalt bei Pflanzen und Insekten zu zeigen und erhalten und so viel zu erwirtschaften, dass es für alle reicht und sie sogar noch einen kleinen Teil verkaufen können. Und nicht zuletzt geht es auch ums Glücklichsein, denn „Glück sind immer kleine, fließende Momente … Glück ist nie anhaltend. Man muss es finden, indem man genau hinsieht.“ (S. 264)

„Querbeet ins Glück“ ist ein sehr kurzweiliger und amüsanter Liebesroman mit Tiefgang, der einem ein kaltes, graues Frühlingswochenende versüßt und zum Träumen vom eigenen Garten einlädt.