Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 467 Bewertungen
Bewertung vom 09.06.2020
Buen Camino ¿ du mich auch
Jäger, Karolin

Buen Camino ¿ du mich auch


weniger gut

„Buen Camino ... du mich auch!“ von Karolin Jäger ist ein Buch, dass mich fassungslos zurückgelassen hat. Der Inhalt ist simpel: junge Frau wandert den Camino, also den 800km langen Jakobsweg, und stellt fest, dass eine Pilgerreise kein Spaziergang ist. So weit, so interessant. Dachte ich. Und lag falsch.
Denn was mich mit dem Buch erwartete war teils ein Bericht über eine Pilgerreise, teils eine sehr gehässige Abrechnung mit Mit-Pilgern und Menschen, die ihr unterwegs begegneten. So geht sie mit dem stalkenden „Greis“ und dem „gruseligen Inder“ ebenso ins Gericht wie mit Luxus-Pilgern, die ihr Gepäck transportieren lassen, was die Autorin (ebenso wie schnarchende Mit-Schläfer) mehrfach „zum Kotzen“ findet. Sie selbst ist allerdings schon an einem der ersten Tage ihrer Reise damit beschäftigt, ihre Augenbrauen zu zupfen, Make-up ist für sie sehr wichtig und eine Übernachtunsmöglichkeit kann sie nicht annehmen, da es dort kein Warmwasser gibt – und das an ihrem Haarwaschtag! Prioritäten – so wichtig. Mehrere Kapitel später echauffiert sie sich aber gemeinsam mit „Inka“ über „Jogi“, der seinen Rucksack transportieren lässt, im Hotel schläft und eines verließ, weil sein Zimmer keinen Fernseher hatte.
Und auch sonst konnte ich mit der Art der Autorin wenig anfangen. Nicht nur, dass sie in einer Pension aus Versehen den Schlüssel mitnimmt – sie schafft es nicht, ihn zurückzuschicken, sondern „verliert“ ihn unterwegs einfach. Eine Unverschämtheit, egal, wie schäbig die Unterkunft war! „Ich sah ein Zweieurostück durch den Schmutz auf dem Boden schimmern, aber ich ließ es liegen. Ich ließ es liegen! Es hätte meinen Rucksack nur unnötig schwerer gemacht, und ich hätte mich bücken müssen.“ Ein 2-Euro-Stück wiegt neun Gramm!
Zudem hätte ich von einer Krankenschwester mehr Vernunft im Umgang mit Schmerzmitteln und Verletzungen erwartet. Ihre Aussage „Niere und Leber wollten ja schließlich auch etwas zu tun haben“ in Bezug auf die doppelte Schmerzmittel-Dosis finde ich gefährlich. Dass sie vom überdosierten Magnesium nur Übelkeit und keinen schlimmen Durchfall bekam, war reines Glück.
Ein weiteres großes Ärgernis waren für mich ihre zum Teil holprigen Vergleiche und übertriebenen Beschreibungen. Der eine mag ihre Sprache locker und flapsig finden, ich fand ihre nach Schema-F gebauten Sätze uninspiriert und ihre Wortwahl zum Teil falsch. „Im Foyer zog ich mir mit schmerzverzerrtem Gesicht und unter jammerndem Gewinsel meine Schuhe und Socken aus“ – keine Ahnung, was das ist. „Als ich auf mein Elend hinabblickte, realisierte ich, dass meine Waden und Füße derart angeschwollen waren, dass man weder Knöchel noch Adern erkennen konnte. Ich war über Nacht an akuter Elefantitis erkrankt“ – das ist ein Schlag ins Gesicht aller, die an der Krankheit (die tatsächlich Elefantiasis heißt) leiden. Die Krankheit hat keine akute Form, ist unheilbar und nicht (wie bei der Autorin) durch Diuretika reversibel. Ebenso ist der Satz „das Zeug konnte ich jedenfalls unmöglich trinken, ohne dabei sofort an Diabetes zu erkranken“ völlig unsinnig.
Das Buch liest sich wie ein aggressiver Schulaufsatz („Diese Rücksichtslosigkeit gegenüber allen Mitschläfern schürte in mir erneut abgrundtiefen Hass“) mit gehässigen Kommentaren. Das Entsetzen über eklige Unterkünfte und Probleme beim Schlafen in Mehrbettzimmern, kann ich gut nachvollziehen, war aber zu erwarten. Das ist einer der Gründe, warum eine solche Tour für mich nicht infrage kommt. Vielleicht hätte die Autorin sich da besser belesen sollen. Sie selbst findet sich aber ziemlich toll und unfehlbar. In einer Herberge brüllt sie koreanische Frühaufsteher so lange an, bis alle im Zimmer wach sind, was sie mit einem „ist ja nicht meine Schuld“ kommentiert. Ihre Arroganz ging mir sehr schnell auf die Nerven und so hinterließ das ganze Buch bei mir einen sehr hässlichen Nachgeschmack, oder, um die Autorin zu zitieren: „That sucks“.
Von mir 2 Punkte, aber nur aus Hochachtung, weil sie den Weg komplett zurückge

5 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.06.2020
Frau Honig und die Schule der Fantasie
Bohlmann, Sabine

Frau Honig und die Schule der Fantasie


ausgezeichnet

Endlich ist mit „Frau Honig und die Schule der Fantasie“ der dritte Teil der Frau-Honig-Reihe von Sabine Bohlmann erschienen! Und das Warten hat sich gelohnt, es war mir wieder eine ganz große Freude, das Buch zu lesen. Oder, man könnte sagen: es ging mir runter wie Honig.
Wer Frau Honig noch nicht kennt, kann sie sich vorstellen wie eine Mischung aus Nanny McPhee und Mary Poppins. Sie hat Zauberkräfte, Herz und Verstand, ist voller Fantasie und kann mit Tieren und dem Wind sprechen. Und natürlich auch mit Menschen.
Dieses Mal ist Frau Honig nicht als Kindermädchen unterwegs, sondern wird von der Schulleiterin der Birkenschule versehentlich für die Aushilfslehrerin gehalten. Also vertritt Frau Honig eine Woche lang eine erkrankte Lehrerin und die Kinder lernen alles: Mathe, Deutsch, Sport – und ganz viel fürs Leben.
Das Buch ist wie seine Vorgänger wunderschön geschrieben, sowohl die Worte, die die Autorin verwendet sind toll, als auch die Geschichte an sich und dazu die spärlichen aber aussagekräftigen Bilder. Die Sprache ist kindgerecht und manchmal ebenfalls voller Fantasie. So schafft sie neue Wörter wie „schulig“ und lässt ihre Schüler schöne Wörter für den Mitschüler sammeln, der kein Deutsch spricht.
Für fantasiebegabte Kinder ist das Buch sicher ein echtes Highlight, sei es zum Selberlesen oder zum Vorlesen. Mobbing oder Rassismus sind ebenso Thema wie die Schwächen des Bildungs- und Schulsystems. Miteinander, anderen helfen, Zusammenarbeit, Spaß und Fantasie sind im Zentrum von Frau Honigs Herangehensweise an Lernen und Wissen – und tatsächlich funktioniert es. Und trotz aller Fantasie und Träumereien von Schulen mit mehr Spaß und Freude vermittelt das Buch auch ein bisschen Wissen, wie beispielsweise über das Weltall (samt einer Eselsbrücke für die Reihenfolge der Planeten in unserem Sonnensystem) und ein bisschen Rechnen - alles schön lebensnah. Wie im echten Leben ist Leben ist gleich Lernen und man kann manches einfach so und nebenher lernen. Schön. Utopisch, aber schön.
Zielgruppe für das Buch sind Menschen zwischen 8 und 99 Jahren, also passe ich genau rein. Ich fand das Buch wie auch die anderen beiden Bände um Frau Honig sehr schön geschrieben, die Geschichte trifft sicher den Nerv vieler Kinder (und auch den der Eltern). Selbstverständlich bietet das Buch Gesprächsstoff, denn natürlich ist so eine Form des „Unterrichts“ nicht komplett umsetzbar. Aber so haben Eltern und Kinder noch über das Buch hinaus sicher sehr viel zu diskutieren, vor allem auch darüber, ob nun Mathe tatsächlich wichtiger ist, als Musik. Von mir eine klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.05.2020
Golden Cage. Die Rache einer Frau ist schön und brutal. (eBook, ePUB)
Läckberg, Camilla

Golden Cage. Die Rache einer Frau ist schön und brutal. (eBook, ePUB)


schlecht

„Golden Cage. Die Rache einer Frau ist schön und brutal“ von Camilla Läckberg war mein erstes Buch der Autorin und vermutlich auch mein letztes. Die Idee für die Geschichte ist gut, wenn auch nicht ganz neu: Frau lernt Mann kennen, lässt sich Pygmalion-mäßig nach seinen Wünschen formen, merkt, dass sie ihm nicht genügt (er betrügt und demütigt sie) – und sie rächt sich indem sie sein Leben zerstört. So weit so gut. Eigentlich.
Denn was die Autorin aus der Idee gemacht hat, ist nichts Ganzes und nichts Halbes. Für einen Thriller ist zu viel Erotik und Psychologie drin und viel zu wenig Spannung. Für einen erotischen Roman zu viel Psychologie, Gesellschaftskritik und Rache. Die ganze Geschichte wird um völlig unsympathische Figuren gestrickt, die alle ihre Geheimnisse haben. Sie erfüllen zwischen Brust-OPs und Botox-Behandlung jegliches Klischee, authentisch ist keiner. Vermutlich gewollt von der Autorin, denn die Welt, in der sich Faye und ihr Mann Jack bewegen ist die der Reichen und Schönen, Echtheit ist da wohl fehl am Platz.
Aber auch sonst ist die Geschichte mir zu plakativ. Ein eigentlich unfähiger Mann wird mithilfe seiner Frau erfolgreich und lässt sie dann zugunsten einer Jüngeren fallen. Die Rache der betrogenen Ehefrau ist ausgeklügelt und grausam. Allerdings hat sie nicht nur mehr Grips als ihr Mann, sondern auch neue Freunde und sehr viele Möglichkeiten, ihn zuerst finanziell und gesellschaftlich zu ruinieren und sein Leben dann mit einem letzten ausgeklügelten Schachzug völlig zu zerstören. Das Heimchen am Herd, zu dem er sie gemacht hatte, wird erst eine erfolgreiche und brillante Geschäftsfrau mit schier unbegrenzten finanziellen Mitteln und dann eine Rachegöttin.
Ihr Plan ist so perfide wie grausam. Die Beschreibung, in der sich die Autorin manchmal ein bisschen verrennt ist zum Teil unrealistisch und unglaubwürdig. Alles läuft einfach viel zu glatt, Faye geht skrupellos über Leichen – und die Polizei tappt im Dunkeln. Dazu ist die Geschichte so penetrant mit den Namen von Modemarken wie Gucci, Chanel oder Jimmy Choo gespickt, dass es fast an eine Dauerwerbe-Veranstaltung erinnert. Der Schluss war bis auf ein kleines Element keine Überraschung und insgesamt fand ich das Buch trotz seines verhältnismäßig geringen Umfangs zu lang, langatmig und gleichzeitig zu überladen. Die Beziehung zwischen Faye und ihrer besten Freundin Chris gibt dem ganzen noch einen winzigen menschlichen Touch aber auch das rettet das Buch nicht, das Element ist viel eher fehl am Platz und fast überflüssig.
Stilistisch ist an dem Buch nichts auszusetzen. Die Sprache ist flüssig und alltagsnah. Die verschiedenen Zeitebenen, auf denen die Geschichte erzählt wird, sind ein cleverer Schachzug, vor allem, da die gemeinsame Vergangenheit von Faye und Jack (von ihrem Kennenlernen an) von ihr in der Ich-Form erzählt wird.
Wegen des völlig verfehlten Genres, der zum Teil obszön-vulgären Sex-Szenen und der vielen Klischees, der platten Geschichte, der fehlenden Spannung und der unsympathischen Charaktere von mir 1 Stern.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.05.2020
Ich kenne deine Lügen
Marrs, John

Ich kenne deine Lügen


schlecht

Nachdem ich „Die gute Seele“ von John Marrs gelesen und sehr gut gefunden hatte, freute ich mich sehr auf die Lektüre von „Ich kenne deine Lügen“. Selten wurde ich so sehr enttäuscht wie von diesem Buch. Bis zum Schluss hatte ich keine Ahnung, was mir der Autor mit diesem Werk überhaupt sagen wollte. Und was das Buch überhaupt darstellen sollte, denn es ist ganz sicher kein Thriller. Spannung habe ich so gut wie gar keine gefunden, Unterhaltungswert war für mich bei diesem Buch auch keiner vorhanden.
Die Geschichte an sich ist einfach: ein Mann verlässt seine Familie, die damit am Rand des Ruins steht. Die verlassene Ehefrau und Mutter von vier Kindern (der jüngste verstarb) kämpft sich aus eigener Kraft zurück ins Leben und wird erfolgreich. Der Mann kehrt nach 25 Jahren zurück und versucht, seine Beweggründe zu erklären. Punkt.
Und Catherine ist für mich auch der einzige positive Punkt an dem ganzen Buch. Sie entwickelt sich vom Heimchen am Herd zu einer starken, selbstbewussten und zielstrebigen Frau, die ihren Platz im Leben findet. Der Rest des Buchs ist eine undurchsichtige, uninspirierte und in der Hauptsache düster-depressive Pampe, die sich zäh wie Haferschleim liest. Simon, der abgängige Ehemann ist ein unsympathischer Egomane und nicht zuletzt ein Mörder, denn in der Zeit seines Verschwindens tötet er mehr oder weniger wahllos irgendwelche Menschen.
Alles in allem ist das Buch für mich ein ziemliches Ärgernis und die Lektüre ließ mich frustriert zurück, denn in der Zeit hätte ich auch etwas Sinnvolles tun können. Allenfalls auf den letzten 50 Seiten kommt etwas wirkliches Gefühl und tatsächlicher Charakter ans Tageslicht und einige bis dahin lose Fäden verknüpfen sich. Leider kann das die vorherigen fast 400 Seiten Langeweile nicht wettmachen. Die Geschichte ist von vorn bis hinten konstruiert und das noch nicht einmal gut. Das Konzept mit den verschiedenen Zeitebenen, die dem Leser sowohl Catherines als auch Simons Erlebnisse in den 25 Jahren nahebringen möchten, ist gut. Aber das ist auch alles, was ich an diesem Buch lobenswert finde: dass der Autor es schafft, einem roten Faden zu folgen. Eigentlich würde ich gerne gar keinen Punkt geben, muss aber wenigstens den einen vergeben. Absolut keine Lese-Empfehlung.

Bewertung vom 26.05.2020
Der Mueller-Report
Mueller, Robert

Der Mueller-Report


ausgezeichnet

„Das ist das Ende meiner Präsidentschaft, sagte Trump, als er von Muellers Ernennung zum Sonderermittler erfuhr, ich bin am A…“ – für mich ist dieser Satz eines der Kern-Elemente im Mueller-Report. Denn tatsächlich hätte es so sein können und in den Augen vieler auch sein MÜSSEN. Aber die Geschichte lehrt uns, dass es nicht so ist. Denn tatsächlich endete das Amtsenthebungsverfahren gegen Donald Trump am 5. Februar 2020 mit seinem Freispruch.
Der veritable Versuch, dem amerikanischen Präsidenten Verfehlungen nachzuweisen ist in „Der Mueller-Report; Einführung und Analyse von Rosalind S. Helderman und Matt Zapotosky von The Washington Post“ nachzulesen. In zwei sehr umfangreichen Teilen werden Ermittlungsergebnisse detailliert und in chronologischer Reihenfolge präsentiert und eingeordnet. Teil 1 beinhaltet die Rolle Russlands im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf von 2016, das, was Trump im Nachhinein als „no collusion“ abtat. Teil 2 konzentriert sich auf Donald Trump selbst, vor allem darauf, wie er durch Personalentscheidungen Einfluss auf die Ermittlungen gegen sich nehmen wollte (und nahm).
Zwar liest sich das Buch teilweise wie ein Krimi mit viel zu vielen Charakteren, aber die Namen sind wohl jedem, der die Ermittlungen von Robert S. Mueller und seinem Team verfolgt hat, geläufig. Spannend aber bei der Lektüre jetzt, nachdem einige Zeit verstrichen ist: man kann bei so vielen Namen nicken und einen Haken dahinter machen, denn er hat sie zum Großteil entlassen, ausgetauscht – und nicht zuletzt sind einige Menschen in seinem direkten (Arbeits-)Umfeld inzwischen rechtskräftig wegen dieser Sache verurteilt worden.
Das Buch ist sehr nüchtern und trocken geschrieben, es dokumentiert schnörkellos und akribisch das, was Trump die größte Hexenjagd gegen einen amerikanischen Präsidenten nennt. Es beinhaltet neben den vielen tatsächlich aus ermittlungstechnischen Gründen geschwärzten Zeilen auch fast 2000 Fußnoten. Trotzdem ist es flüssig und durchaus verständlich geschrieben. Es beinhaltet für mich ein großes Stück Zeitgeschichte, zeigt politische Verstrickungen und Zusammenhänge klar auf und außerdem viel kriminelle Energie auf unterschiedlichen Seiten mit verschiedenen Zielen.
Für jeden, der sich für Politik interessiert, ist dieses Buch ein Muss, denn es beschreibt in aller Deutlichkeit, wo und vor allem wie heutzutage Politik gemacht wird. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 25.05.2020

"Ich schreibe unentwegt ein Leben lang"


ausgezeichnet

Ich gebe es ganz offen zu: ich habe Marcel Reich-Ranicki immer sehr zwiespältig gesehen und seine Kritiken waren mir immer viel zu absolut. Für mich lasen sich seine Texte meistens arrogant, überheblich und mit einem hohen Anspruch auf Richtigkeit. Wenn er schrieb, ein Buch sei schlecht, schien er nie eine andere Meinung daneben zu dulden. Aber das ist nur meine Meinung.
Dennoch habe ich mich auf das Buch „Ich schreibe unentwegt ein Leben lang: Marcel Reich-Ranicki im Gespräch“ von Paul Assall gefreut. Denn ganz abgesehen von seinen Kritiken hat mich der Mensch Reich-Ranicki interessiert. Und ich wurde nicht enttäuscht. Das Gespräch zwischen den beiden fand 1985 statt. 35 Jahre lang lag der Tonbandmitschnitt in der Schublade des Autors, jetzt hat er ihn veröffentlicht.
Entstanden ist aus dem Gespräch eine Art Biografie, aber auch eine Betrachtung der Gesellschaft (obwohl Reich-Ranicki diesen Begriff ablehnte) und deren Wandel im Laufe seines Lebens. Und natürlich spielen Literatur und Literaturkritik eine große Rolle – in seinem Leben, daher natürlich auch im vorliegenden Buch. Aber auch Geschichte, Politik und ganz am Rand auch Gefühle finden ihren Platz.
Für Kenner von Marcel Reich-Ranicki bietet das Buch vermutlich nichts Neues. Seine Autobiografie „Mein Leben“ erschien schon 2000 und Uwe Wittstocks „Marcel Reich-Ranicki: Die Biografie“ 2015, darin ist vermutlich alles schon einmal gesagt worden. Da ich aber beide nicht kenne, war das Transpkript des Interviews von Paul Assall für mich interessant zu lesen, aufschlussreich und informativ. Und ich konnte bei jedem Satz Reich-Ranickis Stimme und Tonfall hören. Dazu seine wortgewaltigen und wohlformulierten Sätze – für mich war die Lektüre des Buchs trotz des zum Teil schwierigen und bedrückenden Inhalts ein Genuss. So erzählt er über seine Schulzeit, seine Deportation aus Berlin 1938, seine Zeit im Warschauer Ghetto und dann im Untergrund, streift aber auch kurz seine Zeit in London und dann seine Arbeit bei verschiedenen deutschen Zeitungen.
Alles in allem ist das Buch ein lesenswerter Kurz-Einblick in Reich-Ranickis Leben in seinen eigenen Worten. Denn seine Autobiografie war da noch in weiter Ferne, eigentlich wollte er ja nichts außer seinen Kritiken schreibe. „Ich muss Ihnen eins offen sagen: Ich habe nie im Leben ein Gedicht geschrieben, nie ein Drama, nie einen Roman. Ich wollte von Jugend an Kritiker werden. Ich habe dann einige Jahre anderes getan im Krieg und der ersten Nachkriegszeit, aber ich habe nie die Fähigkeit gespürt oder die Berufung, Romancier oder Lyriker zu sein. Warum nicht? Weil ich nicht die Begabung dazu habe. Kritiker haben oft genug die Menschheit mit ihren Romanen, Theaterstücken und Gedichten belästigt.“ Dennoch erschien später dann seine Autobiografie, die sicher sehr viel mehr Substanz beinhaltet, als der kurze Abriss, den das Interview bietet. Daher sehe ich es als eine Art gelungenen „Appetizer“, eine Vorspeise, die Lust auf mehr macht und vergebe 5 Sterne.

Bewertung vom 24.05.2020
Lady Bitch Ray über Madonna / KiWi Musikbibliothek Bd.7
Lady Bitch Ray

Lady Bitch Ray über Madonna / KiWi Musikbibliothek Bd.7


sehr gut

Aus der Reihe Kiwi Musik-Bibliothek kannte ich bislang nur Anja Rützels Buch über Take That, daher war ich auf „Lady Bitch Ray über Madonna“ sehr gespannt. Die Bücher haben die Erfahrungen und Gedanken der Autoren zum Thema. Reyhan Şahin (so Lady Bitch Rays bürgerlicher Name) beschreibt, wie aus der Tochter türkischer Einwanderer einerseits die Rapperin Lady Bitch Ray, andererseits die promovierte Linguistin, Journalistin und Autorin wurde und welchen Einfluss Madonna als Person und ihre Musik auf sie hatten. Man lernt viele verschiedene Facetten der Autorin kennen – Madonna kommt vielleicht ein bisschen zu kurz, denn natürlich ist das Buch weder eine Autobiografie der Autorin noch eine Biografie.
Von der Kunstfigur Lady Bitch Ray, ihrer provokanten Art und ihrer Musik mag man halten, was man will – ebenso muss man Madonna nicht mögen, um dem Buch einiges abgewinnen zu können. Manche Fakten sowohl über Madonna als auch über die Autorin und über das, was die beiden verbindet, fand ich interessant und teilweise sogar spannend zu lesen. Aber ganz abseits vom Thema hat die Autorin ein absolut lesenswertes, mit Wort- und Sprachwitz (und natürlich mit Schimpfwörtern und Kraftausdrücken) gespicktes Buch geschaffen. Wenn man sich auf Thema und Stil einlässt, ist es eine durchaus unterhaltsame Lektüre, nicht zuletzt auch wegen vieler nachdenklicher Töne, die die Autorin anschlägt. So spart sie weder ihre schlechten Erfahrungen in der Musikbranche aus, noch die Zeit, die sie wegen Depressionen in einer Klinik verbrachte.
Alles in allem ein Buch, auf das man sich einlassen muss, um es gut und unterhaltsam zu finden. Daher von mir eine Lese-Empfehlung für abenteuerlustige Leser und/oder Freunde von Madonna und Lady Bitch Ray und 4 Sterne.

Bewertung vom 20.05.2020
Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance
Thiel, Jeremias

Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance


sehr gut

Die Geschichte von einem, der es (mit Hilfe von anderen) geschafft hat. Mit 11 Jahren wandte sich Jeremias Thiel ans Jugendamt. Seine Eltern waren psychisch krank und dadurch nicht in der Lage, ihn und seinen Zwillingbruder Niklas zu erziehen, dazu lebte die Familie von Hartz 4 und ist wohl verhältnismäßig bildungsfern. Er kam in ein SOS-Kinderdorf, hatte dann die Möglichkeit, ein internationales Abitur am Robert Bosch College zu machen und studiert inzwischen in den USA. Ein beeindruckender Weg für jemanden, der einen schwierigen Start hatte.
Seine Lebensgeschichte bildet die Grundlage für sein Buch „Kein Pausenbrot, keine Kindheit, keine Chance: Wie sich Armut in Deutschland anfühlt und was sich ändern muss“. An sich kein schlechtes Buch, sicher aber kein wirklich gutes. Seine Biografie liest sich zum Teil wie ein Märchen, ein bisschen wie bei Pretty Woman. Aber ich habe mich für ihn gefreut, dass er es durch seine eigene Arbeit, aber auch durch viel Hilfe und Möglichkeiten (die nicht jeder hat), geschafft hat, seinen Weg zu machen. Er scheint auch genau zu wissen, dass ihm da viel Gutes zuteilwurde, was zum Beispiel weder seinem Zwillingsbruder noch seinem Halbbruder passierte. Zumindest den Menschen, die ihn ab der Zeit im Kinderdorf unterstützt haben, scheint er aufrichtig dankbar und auch über seinen Vater findet er zum Teil sehr liebevolle Worte.
Aber sonst ist das Buch ziemlich schwierig. Inhaltlich sicherlich korrekt, der Autor legt den Finger auf genau das, was schief läuft. Aber er geht dabei sehr stark von seiner eigenen Geschichte aus. Psychische Erkrankung – Armut – mangelnde Erziehungsfähigkeit. Die Kausalität mag für ihn richtig sein, denn in seiner Familie war es so, das ist aber natürlich nicht immer so gegeben. Da macht er es sich ein bisschen einfach, aber er ist ja auch noch sehr jung. Und auch manche Sätze wie „Mein Vater wurde psychisch krank und flüchtete sich abwechselnd in manische und depressive Phasen“ stoßen sicher manchem Leser übel auf. Kein Mensch „flüchtet“ sich in solche Phasen, eine bipolare Störung (manische Depression) ist ganz sicher keine Fluchtmöglichkeit, sondern eine schwere psychische Erkrankung!
Insgesamt listet er Mängel im System auf – bietet aber keine Lösungen. Kann er natürlich auch nicht. Vieles in seinem Buch wiederholt sich auch häufiger. Den Buchtitel (auf den der Autor vermutlich keinen Einfluss hatte), sehe ich sehr zwiespältig. „Zwischen zwei Scheiben labbrigem Toastbrot war mindestens ein halber Zentimeter Butter gestrichen, darauf lag eine Scheibe Lyoner aus der Plastikverpackung vom Discounter“ – das war sein Pausenbrot. Naja, es gibt Kinder, die bekommen gar keines, manche schmieren sie sich selbst, andere stehlen welche aus fremden Schulranzen und dann sind da Kinder wie ich, das gar keines möchten. Das Pausenbrot ist eine schöne Metapher, mehr aber auch nicht. Der Brückenschlag zu den Bildungschancen ist für mich hier ganz klar misslungen.
Und auch sprachlich ist das Buch keine Meisterleistung. Es liest sich wie eine Mischung aus Schulaufsatz zum Thema „Meine Kindheit“ und Facharbeit für den Gemeinschaftskunde-Unterricht. Und auch Sätze wie „Hinterher gab es ein fettes Buffet“ hätte er vielleicht noch einmal überdenken sollen. Aber alles in allem finde ich es ein lesenswertes Buch, das aufrütteln kann und nachdenklich macht. Das aber auch zeigt, dass man viel erreichen kann, wenn man Eigenverantwortung übernimmt und Eigeninitiative zeigt. Wenn dann noch Hilfe und Unterstützung von außen kommt, ist sehr vieles möglich. Von mir 4 Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.05.2020
Ein Versteck unter Feinden
Iperen, Roxane van

Ein Versteck unter Feinden


ausgezeichnet

Wer in ein altes Haus zieht, kauft oder mietet damit die Geschichte des Gemäuers mit. So auch Roxane van Iperen, als sie 2012 in eine Villa in niederländischen Naarden, östlich von Amsterdam einzog. Im Zuge der Renovierungsarbeiten entdeckten die Journalistin und ihre Familie nicht nur doppelte Böden und versteckte Luken, sondern auch andere zahllose andere Zeugnisse der Vergangenheit des Hauses und der Menschen, die in ihm wohnten. Das weckte ihre Neugier und sie beginnt zu recherchieren. Das Ergebnis der Recherche ist das Buch „Ein Versteck unter Feinden“.
Das Buch beleuchtet nicht nur die Geschichte des Hauses sondern die aller Menschen, die in ihm ein Versteck gefunden haben. Allen voran die Schwestern Lien und Janny Brilleslijper und deren Familien, dazu zahlreiche verfolgte Juden, denen sie bis zu ihrer Entdeckung 1944 Unterschlupf und ein Heim boten. Die Geschichte liest sich wie eine Mischung aus Roman und Geschichtsbuch, packend, mitreißend, zum Teil spannend und manchmal auch rührend – es ist die Geschichte von vielen unterschiedlichen Menschen, die eines vereint: sie sind Verfolgte und auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen.
Und so schafft die Autorin nicht nur ein bewegendes Buch über ein dunkles Kapitel der Geschichte zu schreiben, sondern auch eines über Menschlichkeit, Freundschaft, Liebe und Vertrauen und leider auch Verrat, Denunziantentum und Tod. Faszinierend schildert sie, wie vernetzt die Mitglieder des Widerstands untereinander waren – und das praktisch unter den Augen der deutschen Besatzer. Und trotz der permanenten Angst schafften die Bewohner des „Hohen Nests“ (Der niederländische Name der Villa ist „t'Hooge Nest“) es, in ihrem Alltag auch schöne Dinge zu erleben: es wurde musiziert, getanzt und auch die Kinder erlebten zum Teil sicher manch schöne Zeiten.
Wie die Geschichte lehrt, fand die Zeit im Versteck im Sommer 1944 ihr Ende, die Bewohner wurden fast alle deportiert, viele verloren ihr Leben in Konzentrationslagern. Im Konzentrationslager Auschwitz trafen die beiden Schwestern Brilleslijper auf die Familie von Anne Frank, Anne und Margot begleiteten sie bis zu deren Tod. Im Nachwort des Buchs finden sich zahlreiche Namen von Menschen, die im Hohen Nest Unterschlupf gefunden haben oder irgendwie damit verbunden waren und Vermerke über ihr weiteres Schicksal. Ein großes Stück Geschichte des niederländischen Widerstands schwarz auf weiß.
Sprachlich ist das Buch sehr ansprechend geschrieben, sachlich aber dennoch lebensnah, lebendig, voller Wärme und Gefühl, selbst bei grausamen und gewaltbehafteten Szenen. Leichte Sprache trifft hier auf sehr schwieriges Thema – eine gelungene Kombination. Der Titel „Ein Versteck unter Feinden“ trifft exakt den Punkt. Nicht so nüchtern wie im Original „‘t hooge nest“ aber wesentlich treffender als „The sisters of Auschwitz“ im Englischen. Die Autorin schaffte es bei mir auch von Anfang an, den Funken überspringen zu lassen, ihre Begeisterung für die Geschichte aber auch ihre Hochachtung für den Einsatz aller Beteiligten, Leben und Überleben in dieser schweren Zeit zu sichern. Das Buch macht betroffen, wütend und angesichts der aktuellen Entwicklungen fassungslos. Ein großes Buch über enorm große Menschen. Klare Lese-Empfehlung und 5 Sterne.

Bewertung vom 19.05.2020
Gott sagte: Willst du mit mir leben? Und ich so: Klar.
Draht, Nathanael

Gott sagte: Willst du mit mir leben? Und ich so: Klar.


schlecht

Vom Saulus zum Paulus? So ähnlich kann man die (Lebens-)Geschichte von Nathanael Draht kurz zusammenfassen. Mit 30 Jahren hatte er alles erreicht, was man seiner Meinung nach im Leben erreichen konnte: Geld, Frauen, Besitztümer. Und danach fehlte ihm ein Ziel und dadurch der Sinn im Leben. Über Umwege wurde er erleuchtet und fand zu Gott. Seither ist er missionarisch tätig, über sein Leben und seine jetzige Tätigkeit hat er zusammen mit einem Profi ein Buch geschrieben. Heraus kam „Gott sagte: Willst du mit mir leben? Und ich so: Klar.“
Er selbst sieht seine Wandlung als durchweg positiv. Und er sieht sich selbst auch sehr positiv, kurz: er findet sich extrem toll. Was früher bei ihm „mein Auto, meine Frau, mein Haus“ war ist heute „meine Bibel, mein Glaube, meine Gesundgebeteten“. Tatsächlich betet er für Menschen und bewirkt nach eigener Aussage damit Wunder. Verrutschte Kniescheiben bringt er zurück an Ort und Stelle, Bauchschmerzen (selbst die, die durch einen Tumor verursacht wurden) verschwinden. Interessant und durchaus spannend – ich hoffe nur, dass damit keiner der Gläubigen von einem Arztbesuch und einer wirklichen Heilung ferngehalten wird!
Der Rest des Buchs ist sehr schnell zusammengefasst: missionarische predigthafte Glaubensbekundungen, homophobe Haltung („Nun, die beiden waren lesbisch, aber dennoch aufgeschlossen.“ – als ob lesbisch sein eine Aufgeschlossenheit ausschließen würde?) und alles in allem seine arrogante, selbstherrliche und besserwisserische Art macht das Buch zu einer sehr frustrierenden und ärgerlichen Lese-Erfahrung.
„Dies ist mein erstes Buch. Ich habe keine Kurse über »packendes Schreiben« besucht, sondern es mithilfe eines Co-Autors geschrieben“ – leider hatte der Co-Autor wohl nicht übermäßig viel Einfluss auf Stil und Sprache. Das Buch ist in einer Mischung aus Mischung aus Gossen-, Umgangs- und (pseudo) cooler Hipster-Sprache geschrieben, gespickt mit einer Handvoll Bibelzitaten. Und leider konnte ich auch nicht wirklich ein Konzept oder einen roten Faden erkennen. Und tatsächlich: packend ist es an keiner Stelle.
Schade. Das Thema „zum Glauben finden“, Kehrtwende im Leben um 180 Grad und Läuterung bietet viel Potenzial. Ein Potenzial, das der Autor zu keiner Zeit ausschöpft. Was eigentlich eine Hinführung zum Glauben sein könnte, wird da schnell zu einer Abschreckung, seine strenge Haltung zum Glauben wirkt in der Hauptsache engstirnig und verbohrt. Aus dem Wirtschaftsmenschen wurde ein Missionar, vermutlich hat er in seinem früheren Leben Verhandlungen ebenso unerbittlich und unnachgiebig geführt, wie er heute missioniert. Aus seiner Sicht sicher gut gemeint, aus meiner zum Teil gefährlich und dogmatisch. Ich gebe diesem Buch 1 Stern, aber nur, weil ich nicht weniger geben kann.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.