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Volker M.

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Insgesamt 374 Bewertungen
Bewertung vom 16.06.2022
Döppesbäcker

Döppesbäcker


gut

Über die niederrheinische Keramik gibt es bereits einiges an Literatur, aber die kleinen Zentren fallen dabei meistens durchs Raster. Glimbach, Gevenich und Körrenzig, am östlichen Rurtalhang in der Nähe von Jülich gelegen, haben eine schwer fassbare Keramikproduktion, da es kaum reguläre archäologische Ausgrabungen gab und datierte Stücke selten sind. Außerdem sind die stilistischen Unterschiede zu benachbarten Töpferzentren gering, sodass eine Abgrenzung nicht immer möglich ist.

„Döppesbäcker“ ist der niederrheinische Ausdruck für Töpfer. Die Autoren dieses Bandes haben die in verschiedenen Museen und heimatkundlichen Sammlungen archivierten Keramiken aus Glimbach, Gevenich und Körrenzig zusammengetragen, systematisch ausgewertet und dokumentiert. Dabei stützen sie sich meist auf anekdotische Fundzusammenhänge, heimatkundliche Befragungen der noch heute ansässigen, ehemaligen Töpferfamilien, sowie einige materialkundliche Untersuchungen. Für Letzteres nutzen sie zerstörungsfreie Elementaranalysen und relative Elementverteilungen, um Cluster mit gemeinsamen Eigenschaften zu identifizieren, ein herkömmliches Verfahren zur geografischen Provenienzanalyse. Klar abgrenzen lassen sich mit dieser Methode die niederrheinischen Töpferzentren, die quartäre Tone verarbeiten, von den quartären Glimbacher Tonen. Ob die Methode auch geeignet ist, über den begrenzten Untersuchungsraum hinaus Aussagen zu treffen, können erst weitere Untersuchungen zeigen. Das zugehörige Kapitel zur Geologie und Chemie der Tone in der Rheinischen Tiefebene ist ausgesprochen vielschichtig und spannend und auch zum Verständnis der Materialuntersuchungen sehr hilfreich.
Der Überblick zur Geschichte der bleiglasierten Töpferwaren am Niederrhein zeigt, dass das Thema nach dem Zweiten Weltkrieg in erster Linie durch Heimatforscher besetzt war und erst in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt professionelle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die eingangs erwähnte Problematik der mangelhaft dokumentierten Fundumstände rührt zu einem Großteil von diesem „blinden Fleck“ her, aber auch im vorliegenden Band sind für meinen Begriff zu viele weitschweifende Vermutungen versammelt. Das beginnt bei den stilistischen Argumentationen, die oft mehr „nach Gefühl“ als nach belastbaren kunsthistorischen Kriterien vorgenommen werden, geht weiter über vermutete Verwendungen im Alltag bis hin zu übertrieben ausführlichen und manchmal auch in Umgangssprache abgleitenden Beschreibungen von Trivialitäten. Besonders das Kapitel zur „Beschreibung, Einordnung und Beurteilung der Glimbacher Produktion des 17. bis 20. Jahrhunderts“ ist argumentativ unscharf und nutzt für eine wissenschaftlich belastbare Arbeit aus meiner Sicht zu viel Hörensagen. In dieses insgesamt etwas laienhafte Bild gliedert sich auch eine ausführlich illustrierte Fotoserie aller Handgriffe bei der Herstellung einer engobeverzierten Schüssel ein, die nichts vermittelt, was ein Töpfer nicht schon wüsste. Differenziert und nachvollziehbar ist die Übersicht der urkundlich fassbaren Töpferfamilien und -namen in der genannten Region, auch wenn kaum ein Objekt des Katalogs mit einer namentlich bekannten Töpferei korreliert werden kann.

„Döppesbäcker“ bietet einige interessante wissenschaftliche Ansätze, die weiterzuverfolgen sinnvoll wäre, insbesondere, um die schlechte Funddokumentation zumindest ansatzweise zu ergänzen. Dennoch haben mich die laienhaften Argumentationslinien, die kaum Primärquellen nutzen (können?), dafür umso ausführlicher „Generationenwissen“ und Hörensagen kolportieren, nicht wirklich überzeugt.

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.06.2022
Die Welten des Mittelalters
Borgolte, Michael

Die Welten des Mittelalters


sehr gut

Der Titel irritiert nur auf den ersten Blick: Im Mittelalter gab es kulturell und geschichtlich gesehen nicht eine Welt, sondern es existierten mehrere, weitgehend in sich abgeschlossene Weltregionen. Da das Ende des Mittelalters in Europa mit dem Beginn der globalisierten Neuzeit (also der Entdeckung Amerikas) definiert wird, ist dieser Zeitpunkt ebenfalls das Ende fast aller isolierten Kulturkreise. Die direkte und indirekte Vernetzung über Handels- und Wissenswege, die im Mittelalter vor allem die Kontinente Europa, Asien und Afrika umfasste, schloss nun Amerika und später auch den Pazifikraum ein.

Michael Borgolte bohrt auf fast 900 Seiten (der Rest sind Quellenangaben und Indizes) ein sehr dickes Brett. Die Globalgeschichte der Zeit zwischen 500 und 1500 ist ein komplexes Unterfangen. Schon in Europa, Nordafrika und Asien, Regionen mit langer Schriftkultur, ist die Quellenlage lückenhaft, das gilt umso mehr für den Pazifikraum und die beiden Amerikas. Entsprechend knapp sind die Ausflüge Borgoltes in letztere Weltgegenden, während er die übrige Geschichte erheblich tiefergehend beleuchtet. Dennoch muss ich gleich hier einen Kritikpunkt einbringen, denn nicht nur in Mesoamerika, sondern auch in späteren Kapiteln kommt ein geschichtlicher Einflussfaktor viel zu kurz, der in der neueren Forschung zunehmend als spielentscheidend erkannt wird: Das Klima. Nicht wenige Reiche des Mittelalters brachen aufgrund von Klimaveränderungen zusammen, oder sie haben diesen Prozess stark beschleunigt. Borgolte setzt seinen Fokus viel mehr auf die Globalgeschichte als ein Netzwerk sich gegenseitig beeinflussender, miteinander kommunizierender und in ständigem Austausch stehender Einheiten. Das gelingt ihm mit einer manchmal etwas überwältigenden Datenfülle, die auf der einen Seite seine beeindruckende Belesenheit zeigt, andererseits dem Leser einiges an Konzentrations- und Kombinationsfähigkeit abverlangt.

Zwei Aspekte der Globalisierung greift Borgolte gezielt heraus, um sie tiefer zu beleuchten: Das internationale Beziehungsnetz der Religionen und der Austausch über Fernhandelsrouten. Die monastische Kultur in Europa und Asien, sowie das islamische Gelehrtennetzwerk funktionierten durch schriftliche und persönliche Kommunikation, die durch Quellen oft sehr detailliert nachvollziehbar ist. Der Fernhandel ist auch archäologisch gut fassbar.

Was innerhalb der geschichtlichen Entwicklungen gut herausgearbeitet wird, sind die Schnittmengen, die wie die Glieder einer Kette ineinandergreifen. Nur in wenigen Fällen sind sich der Sender einer Botschaft oder der Hersteller einer Ware und deren Empfänger über ferne Distanzen persönlich begegnet und doch haben sich teilweise sehr stabile Kanäle etabliert, über die zuverlässig Nachrichten und Waren flossen. Auch lokale historische Entwicklungen haben über diese Netzwerke interkontinentale Fernwirkungen.

Bei mir hat sich beim Lesen der Eindruck verfestigt, dass dieses Buch vor allem Menschen mit einem soliden historischen Vorwissen von großem Nutzen ist, denn man braucht eine gedankliche Landkarte, in die man die Elemente eingliedern kann, sonst ist die Datenfülle schwer zu verarbeiten. Borgolte muss zwangsläufig zeitlich und räumlich immer wieder springen, da es ihm ja um die Darstellung von Netzwerken geht, die sich zeitlich und räumlich permanent ändern. Im Rahmen des Möglichen gelingt ihm das sehr gut, aber die einzelnen Anknüpfungspunkte sind so zahlreich, dass darunter die Orientierung leidet und Redundanzen unvermeidlich sind.

Das Prinzip der „Globalgeschichte“ hat in den letzten Jahren einen gewissen Boom erlebt, aber die grundsätzlichen Probleme, die sich aus einer derart komplexen Herangehensweise ergeben, sind schwer zu lösen. Auf der einen Seite steht der nachvollziehbare Wunsch nach Vollständigkeit, auf der anderen die Forderung nach Übersicht. Da Borgolte sein Werk vorbildlich referenziert und indiziert hat, lassen sich zumindest einzelne Aspekte, Personen und Orte leich

Bewertung vom 13.06.2022
Beraten statt Verraten
Bosetti, Ulrich;Walz, Hartmut

Beraten statt Verraten


sehr gut

Wer hatte noch nie einen Anlageberater auf dem Sofa sitzen? Zunächst ist man begeistert, unterschreibt den Vertrag, doch schon nach kurzer Zeit fühlt man sich unwohl und zum Abschluss überredet. Fehlentscheidungen lassen sich zwar rückgängig machen, aber das ist teuer. Provisionen und andere versteckte Kosten sind meistens verloren und von einmal gezahltem Geld sieht man kaum etwas wieder. Wie kann so etwas passieren?

In ihrem Ratgeber "Beraten statt Verraten" bringen die Autoren Ulrich Bosetti und Hartmut Walz Licht ins Dunkel dieser Branche und erklären zunächst die verschiedenen Vertriebsmodelle. Finanzberatung ist nie kostenlos, auch wenn man es nicht sofort bemerkt.

Überrascht war ich, dass viele der verwendeten Berufsbezeichnungen nicht gesetzlich geschützt sind. Nur wenige Berater haben eine anerkannte Ausbildung, die eine gewisse Sicherheit der Beratungsqualität garantiert. Auch sehen Dipl.-Psychologe Bosetti und Kapitalmarktexperte Walz die Heldenverehrung vermeintlicher, in der Presse bejubelter „Experten“ kritisch.

Im Hauptteil des Buches lernt der Leser, wie er sich gegen Manipulationsversuche wehrt, rhetorische und psychologische Verkaufstricks des Beraters erkennt und selbst zum mündigen Kunden wird. Diese Techniken (z. B. den Kunden unter Zeitdruck setzen) werden übrigens nicht nur beim Verkauf von Finanzprodukten, sondern z. B. auch beim Auto- oder Möbelkauf eingesetzt. Wer das weiß, für den finden Beratungsgespräche in Zukunft auf Augenhöhe statt.

Zusätzlich geben die Autoren viele konkrete Tipps zur Vorplanung: Wann lohnt sich eine honorarbasierte Beratung? Bin ich ein dauerhafter Beratungskunde oder ein mündiger Selbstentscheider? Wie bereitet man sich auf ein Beratungsgespräch vor? Wie wehrt man sich gegen eine unlautere Gesprächsführung?

Bei der Verkaufsrhetorik merkt man besonders die Handschrift des Psychologen Bosetti. Vor seiner Beratertätigkeit war er in der Vertriebsabteilung eines großen Versicherungskonzerns u. a. für die Verkaufsschulung und Provisionsmaximierung zuständig und nun entlarvt er für die "Gegenseite" deren Verkaufstricks. Ist da etwa einer vom Saulus zum Paulus konvertiert und scheut die ewige Verdammnis?

Leider ist mir die Sprache manchmal etwas zu akademisch geraten. Überschriften wie "Geldillusion beim Kunden ausnutzen: Systematisch falsches Ankern durch Nominalorientierung" oder "Argumentation mit dem Survivorship Bias" sind weder selbsterklärend, noch helfen sie beim späteren Nachschlagen. Abgehobene Fachsprache wird als Herrschaftsinstrument benutzt, um die „Laien“ auszuschließen, aber das hat in einem an Laien gerichteten Buch nun wirklich nichts zu suchen. Zum Glück waren die anschließenden, ungewöhnlich detaillierten Erklärungen für mich anschaulich und gut nachvollziehbar. Wer dieses Buch verstanden hat, ist jedenfalls bestens auf die Gespräche mit seinem Finanzberater (oder Autoverkäufer) vorbereitet und kann erkennen, ob er gerade beraten oder verkauft wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.06.2022
Der Dresdner Zwinger und seine Schätze
Bahr, Eckhard

Der Dresdner Zwinger und seine Schätze


sehr gut

Der Dresdner Zwinger ist das einzige historische Gebäude in Dresden, das nach dem Krieg zu DDR-Zeiten fast vollständig wieder aufgebaut wurde. Schloss, Taschenbergpalais und Frauenkirche lagen bei der Wiedervereinigung noch weitgehend in Trümmern. Aber die Geschichte geht natürlich viel weiter zurück, wie Eckhard Bahr in seinem anschaulichen Buch erläutert. Ursprünglich Teil der Dresdner Festungsanlage, wurde der Zwinger unter August dem Starken zu einer Art landwirtschaftlichen Versuchsanstalt und Technikmesse für Spitzentechnologie. Ein bisschen davon sieht man auch heute noch, denn die Arkadenstruktur lässt die alte Orangerie erahnen und der Physikalisch-Mathematische Salon beherbergt eine der bedeutendsten Sammlungen wissenschaftlicher Instrumente und Uhren der Welt, die unter August begonnen wurde. Auch die von Semper entworfene Gemäldegalerie mit ihren Alten Meistern besitzt Weltgeltung und läuft eindeutig der Berliner Nationalgalerie den Rang ab.

Eckhard Bahr zeichnet zunächst die komplexe Entstehungs- und Nutzungsgeschichte nach, illustriert durch historische Ansichten und Pläne, die aber leider nicht alle Entwicklungsphasen darstellen und aus meiner Sicht eine etwas ausführlichere Legende verdient hätten. Zum Teil sind sie etwas schwer zu interpretieren und zeigen natürlich nicht mehr den heutigen Stand. Nachdem die einzelnen Gebäudeelemente vorgestellt wurden, widmet sich der Autor den eigentlichen Sammlungen. Zu jeder Abteilung gibt es informative Übersichtsfotos, sowie kurze Würdigungen von besonders herausragenden Objekten. Fachlich gut aufgearbeitet richtet sich der Text an die allgemeine Öffentlichkeit, wobei die Versuche, die Sachinformation humorvoll aufzulockern, für meinen Geschmack etwas altväterlich geraten sind. Im Stil erinnert es an einen in Ehren ergrauten Stadtführer mit Wimpel in der Hand.

Trotzdem hat mir der Band gut gefallen, da er alle wesentlichen Entwicklungen nachvollziehbar und interessant aufarbeitet und dem Leser einen guten ersten Einblick verschafft. Als Vorbereitung für einen Besuch ist er sehr gut geeignet.

Bewertung vom 09.06.2022
BAOBAB: Meine Reise zu den ältesten Lebewesen und Waldwächtern

BAOBAB: Meine Reise zu den ältesten Lebewesen und Waldwächtern


ausgezeichnet

Die Baobabs sterben. Afrikas Landmarken sind sichtbare Opfer des Klimawandels und ganz besonders die alten Exemplare brechen plötzlich und scheinbar ohne erkennbare Ursache in sich zusammen. Beth Moon hat die Nachricht, dass Madagaskars ältester Baobab 2018 nach einem Unwetter kollabierte, zum Anlass genommen, „ihre“ Baobabs noch einmal zu besuchen. Vor 15 Jahren war sie das erste Mal dort, ganz gezielt, um die Baumriesen zu fotografieren, die jetzt sterben. Forscher haben entdeckt, dass Baobabs über 1000 Jahre alt werden, aber dass nur eine Handvoll der etwa 100 Millionen Exemplare dieses extreme Alter erreichen. Es gab in Afrika 13 Bäume, die älter als 1250 Jahre waren, von denen sind seit 2005 neun abgestorben.

Beth Moons Fotos der noch lebenden Riesen und ihrer traurigen Überreste sind trotz ihrer überwältigenden Schönheit doch Bilder eines Abgesangs. Die schwarz-weißen Aufnahmen haben durch HDR-Filter eine vergrößerte Graupalette, wodurch sie ein bisschen wie nostalgische Kupferstiche des 19. Jahrhunderts wirken. Das passt sehr schön zu den grafischen Strukturen ihrer Äste und den massigen Stämmen, wie überhaupt jeder einzelne Baum als lebendes Kunstwerk inszeniert wird. Auf den Textseiten beschreibt Beth Moon in einem knappen Reisetagebuch ihre Begegnungen mit den Menschen und der Natur und sie bringt auch Gefühle von Trauer und Verzweiflung zum Ausdruck. Etwas unpassend finde ich ihre unkritische Haltung zur angeblichen Naturverbundenheit der Madegassen, die die Baobabs als Naturgötter verehren. Madagaskar ist eines der am stärksten bedrohten Ökosysteme der Erde und wenn man Beth Moons Fotos genau betrachtet, sieht man auch überall die Schäden, die Menschen an den riesigen Flaschenbäumen angerichtet haben. Es ist kein respektvoller Umgang mit der Natur, sondern in Madagaskar wird massiver Raubbau betrieben wie sonst kaum irgendwo in Afrika oder in der Welt. Schuld ist auch hier die Überbevölkerung, die mindestens so klimaschädlich ist, wie die Emissionen der Industriestaaten. Das wird oft und aus ideologischen Gründen auch gerne vergessen.

Das Buch hat mich wirklich berührt. Mir war das Sterben der Baobabs bisher nicht bewusst und die einfühlsame Art, mit der Beth Moon dies ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, indem sie auf den unwiederbringlichen Verlust mit ihren überaus ästhetischen Fotos hinweist, ist der Tragik sehr angemessen. Die Baobabs haben das Potenzial, zu einem Symbol des Klimawandels zu werden, so wie die Pandas für den Artenschwund stehen. Es wird 1000 Jahre dauern, um den Verlust wieder aufzufangen. Wenn die Menschen bis dahin nicht noch Schlimmeres anrichten.

Bewertung vom 06.06.2022
Ausgefallen und erlesen

Ausgefallen und erlesen


ausgezeichnet

Der Titel ist schon mal sehr originell: Römische Gemmen wurden in der Antike mit Harzen in ihre Ringfassungen eingeklebt, die aber im Lauf der Zeit versprödeten, sodass die Gemmen oft herausfielen. Aus diesem Grund sind die Mehrzahl der Gemmen in Sammlungen zufällige Lesefunde von Äckern im Bereich ehemaliger römischer Ansiedlungen. Das trifft auch auf die Objekte zu, die in diesem kleinen, sehr informativen Büchlein über römische Gemmen aus den Kastellen zwischen Ruffenhofen und Theilenhofen vorgestellt werden. Die Region gehört zum obergermanisch-rätischen Limes, dessen Hochzeit ins 2. nachchristliche Jahrhundert fällt.

Zunächst klären die Autoren die häufig verwechselten Begriffe Gemme (Tiefschnitt) und Kamee (Hochschnitt) und fokussieren sich dann auf die eingesetzten Materialien, die Herstellungstechnik und die praktische Verwendung im römischen Alltag. Abhängig von Motiven und Material lassen sich teilweise sehr konkrete Rückschlüsse auf Besitzer und Verwendungszweck ziehen.

Das umfangreichste Kapitel ist der nach Motivgruppen kategorisierte Katalog. Die Motive stammen aus der Götter- und Sagenwelt, sind Bilder mit militärischem Hintergrund oder aus der Tierwelt. Jedes Objekt wird materiell beschrieben und die Ikonografie erklärt. Natürlich sind nicht alle Motive zweifelsfrei zu bestimmen, wenn z. B. kennzeichnende Attribute verloren gingen oder nicht eindeutig sind. Auffällig ist, dass nahezu alle Objekte aus Privatsammlungen stammen, aber wie anfangs bereits gesagt, sind Lesefunde bei Gemmen die Regel. Sondengehen ist in Bayern zwar mittlerweile verboten, aber der Zufallsfund auf dem Acker scheint noch legal zu sein. Das herausgebende, nichtstaatliche Museum Limeseum wird zwar öffentlich gefördert, ist aber durch engagierte Privatinitiative entstanden, auf die sich auch Sonderausstellungen, wie die hier vorgestellte stützen.

Die Vielfalt und Qualität der gezeigten Gemmen ist überraschend, besonders wenn man sich vor Augen hält, dass die Region ein ferner Außenposten des Römischen Reichs war. Die Texte sind anschaulich, dabei leicht verständlich und benötigen kein Vorwissen. Es ist gleichzeitig eine schöne Einführung in die religiöse Vorstellungswelt der Römer und den römischen Alltag.

Bewertung vom 06.06.2022
Rom verstehen
Scheid, John

Rom verstehen


ausgezeichnet

Das Römische Reich hatte über 1000 Jahre Bestand. Trotz ständiger Bedrohungen von außen und innen war es erstaunlich resilient und sein Zivilisationsgrad und sein Technologieniveau wurde erst Tausend Jahre später wieder erreicht. Genauso erstaunlich ist, was wir nach dieser langen Zeit über die Details seiner Verwaltung, seine Bevölkerung, seine Warenströme oder sein Militär wissen. Wie funktionierte dieser Staatsapparat? Wieviel verdiente man als Soldat? Was kostete ein Huhn?

Die Autoren von „Rom verstehen“ haben das aktuelle Wissen aus zahlreichen Fachpublikationen zusammengetragen und in intelligent strukturierten Infografiken visualisiert, deren Rahmen durch einen kurzen, einleitenden Text gesetzt wird. Selbst hochkomplexe Zusammenhänge werden so transparent, übersichtlich und korrekt dargestellt, wobei verschiedene Ebenen in einer einzigen Grafik abgebildet werden können. Das wird zum einen durch klassische (oft Kuchen-)Diagramme erreicht, zum anderen aber durch Farben und Symbole, die den zwei Dimensionen des Papiers eine dritte und manchmal sogar vierte hinzufügen. So werden Zusammenhänge sichtbar, die man selbst in einem geschrieben Text nur umständlich vermitteln könnte. Ein Beispiel: Auf diese Weise kann man Legionen, ihre Zusammensetzung, die Zahl ihrer gefochtenen Schlachten, die Einsatzorte und den zeitlichen Verlauf der Mannschaftsstärke auf einer einzigen Karte darstellen. Wenn man es kann. Und die Autoren können das zweifellos. Sie durchleuchten so nicht nur viele Aspekte des Militärs, dem Rückgrat des römischen Staates, sondern auch Bevölkerungsstrukturen, Wanderungen, soziale Struktur und Einkommenssituationen, das Rechtssystem, Steuern und Abgaben, kaiserliche Reisetätigkeit (sehr interessant!), die Entwicklung der Stadt Rom, Religion und hundert andere Aspekte, die manchmal erst auf den zweiten Blick spannend sind. Ohne Grund hat aber kein Thema seinen Weg in dieses Buch gefunden, das kein trockenes Datengrab ist, sondern auf jeder Seite zum selber Kombinieren und Entdecken anregt.

Bewertung vom 04.06.2022
Kloster Lorsch - Die archäologischen Untersuchungen der Jahre 2010 - 2016
Lammers, Dieter

Kloster Lorsch - Die archäologischen Untersuchungen der Jahre 2010 - 2016


ausgezeichnet

Der dritte Band über die archäologischen Untersuchungen am Kloster Lorsch dokumentiert schwerpunktmäßig die Ausgrabungen um die Torhalle, die in den Jahren 2015/16 durchgeführt wurden. In diesen Jahren wurde im Rahmen der Umgestaltung des Benediktinerplatzes eine ausgedehntere Grabungskampagne durchgeführt, die u. a. zum Ziel hatte, die unvollständigen und teilweise auch fehlenden Bestandserhebungen früherer Grabungen zu ergänzen oder überhaupt erst interpretierbar zu machen.

Noch bis in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurden auf dem Klostergelände mit aus heutiger Sicht unfassbarer Ignoranz großflächige Baumaßnahmen ohne archäologische Begleitung unternommen, dabei ist die historische Bedeutung Lorschs spätestens seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Durch unsachgemäße Arbeiten wurden viele Befunde unwiederbringlich zerstört, neben den Problemen, die sich aus lückenhaften oder fehlerhaften Dokumentationen ergeben. Bis zu den Nachgrabungen 2015/16 wurden daher Behns Rekonstruktionen der Klosteranlage „Allgemeingut“, die nach den heutigen Erkenntnissen in wesentlichen Aspekten falsch und nicht durch Befunde gesichert waren. Insbesondere die Vorstellungen zu den Begleitstrukturen der Torhalle, dem angenommenen „Westtor“ und des Atriums, sowie deren Datierung mussten revidiert werden. Neben den Grabungen im Bereich der Torhalle wurde eine weitere Nachgrabung am Kirchenfragment durchgeführt.

Betrachtet man die Detailarbeit der Grabungsdokumentation, die oft komplizierte Störungen durch vorangegangene Grabungen und Erdarbeiten ausweist, ist es erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit der Bericht publiziert werden konnte. Sechs Jahre mögen lange erscheinen, aber es sind buchstäblich Zigtausend Einzeldaten eingeflossen, die mustergültig aufgearbeitet und visualisiert wurden. Detaillierte Umzeichnungen von Profilen, zahlreiche Grabungsfotos, Einzelfundverzeichnisse, chronologische Befundkataloge, sowie interpretierende Begleittexte geben ein präzises Bild, das bei auch zukünftigen Generationen keine Fragen offenlassen wird.

Die von den Lesern schon länger erwarteten Gesamtpläne mit den detaillierten Rekonstruktionen von Bau- und Nutzungsstrukturen sind nun endlich verfügbar und konnten in bemerkenswerter chronologischer Auflösung dargestellt werden. Sie reichen von vorklösterlichen Befunden und Funden aus der Römerzeit, über die klösterliche Nutzungsdauer vom 8. Jahrhundert bis ins Spätmittelalter und weiter über die nachklösterliche Nutzungsperiode bis ins 18. Jahrhundert. Viele offene Fragen konnten geklärt werden, wenn auch nicht alle. So ist die These Behns vom „jüngeren Atrium“ zwar vom Tisch, die tatsächliche Gestaltung zwischen Torhalle und Klosterkirche ist aber im Detail immer noch nicht eindeutig bestimmbar. Da zerstörende Eingriffe in das Bodendenkmal nur dann zu rechtfertigen sind, wenn unumgängliche Baumaßnahmen anstehen, werden die Befunderhebungen auch in Zukunft nur punktuell bleiben, aber mit jeder gut dokumentierten Grabung werden weitere Elemente dem Puzzle hinzugefügt. Mit dem dritten und letzten Band der Grabungskampagne 2010-16 ist diese Aufgabe aus heutiger Sicht mustergültig gelöst worden.

Bewertung vom 03.06.2022
Der Inflationsschutzratgeber
Gebert, Thomas

Der Inflationsschutzratgeber


gut

Die monatlichen Inflationsraten kennen derzeit nur eine Richtung: nach oben. Es ist das Top-Thema, weil es jeden betrifft, und gerade die Deutschen haben Angst vor einer Wiederholung der Hyperinflation von 1923. Thomas Gebert macht in seinem "Inflationsschutzratgeber" Vorschläge, wie man sein Vermögen vor der schleichenden Geldentwertung schützen kann. Den direkten Preissteigerungen (z. B. den Energiekosten) kann man nicht entkommen, sie aber nach seiner Vorstellung durch geschickte Investitionen kompensieren. Sein Fokus liegt nicht darauf, wo man investiert, sondern wann man in welche Anlageform investiert und er versucht, sinnvolle Einstiegs- und Ausstiegsszenarien für ein Investment aufzuzeigen.

In den ersten sechs Kapiteln (rd. 90 Seiten) beschäftigt sich der Börsenexperte mit der Theorie der Inflation und in den Kapiteln danach (ca. 70 Seiten) mit deren Umsetzung. Auf wenigen Seiten bereitet Gebert die Kernpunkte der Inflation für jedermann verständlich auf und widerlegt gleichzeitig so einige Mythen. Auch stellt er provokante Thesen auf, wie z. B. dass "die Inflationsberechnung eine Schauveranstaltung" sei und seiner Meinung nach ist "Inflation ein Umverteilungsmechanismus." Das kann man so sehen, muss es aber nicht. Derzeit kennen alle Anlageklassen nur den Weg nach unten: Gold, Aktien, Immobilien, Geld.

Gebert ist ein Vertreter der modernen Geldtheorie. Die Entwicklung seit der Finanzkrise 2008/2009 hat gezeigt, dass billiges Geld die Inflationsrate drückte, was im Gegensatz zu den Vorhersagen der alten Geldtheorie steht und bei näherem Hinsehen auch nicht stimmt, denn bei Aktien, Kunst und Immobilien gab eine regelrechte Hyperinflation. Einige Wirtschaftswissenschaftler verkaufen die neuen Ideen unter dem positiv geframten Stichwort "Modern Monetary Theory" (MMT). Auch wenn die neue Sichtweise, dass die Schulden des Staates die Vermögen der Bürger sind, auf den ersten Blick erst einmal abstrus klingt, sind die dahinterstehende Erläuterungen bei flüchtigem Hinsehen nachvollziehbar.

Im praktischen Teil zeigt Gebert, welche Anlageklassen in Inflationszeiten besonders geeignet waren. Anhand von Entwicklungen in früheren Inflationszeiten (insb. die Ölkrisen in 1973 und 1979/1980) untersucht er, wie sich Aktien, Anleihen, Immobilien, Rohstoffe und Gold entwickelt haben. Gibt es Gewinner- und Verliererassets? Schützen Aktien und Immobilien wirklich auf Dauer vor Inflation? Profitieren spezielle Branchen? Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Kauf oder Verkauf von Anlagen?

Seine Handlungsempfehlungen sind war nachvollziehbar, aber ich glaube, dass in heutigen Zeiten die Entwicklungen nicht mehr so einfach linear aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert werden können. Dabei sind Entwicklungen wie der Ukraine-Krieg und die durch die Sanktionen nochmals verstärkt gestörten Lieferketten erst nach Drucklegung hinzugekommen und noch nicht einmal berücksichtigt.

Geberts Empfehlungen orientieren sich vornehmlich am Konjunkturzyklus und dem gemäß der ALTEN Geldtheorie üblichen Mechanismen zur Bekämpfung der Inflation durch Erhöhung des Zinses. Aber passen die Empfehlungen noch zu einem Paradigmenwechsel hin zur neuen Geldtheorie, wie ihn die EZB derzeit verfolgt? Wird der Zins auch in Zukunft noch das Instrument zur Bekämpfung der Inflation sein oder sind es Steuererhöhungen, wie es die MMT fordert? Welcher Politiker wird sich überhaupt trauen, massive Steuererhöhungen durchzusetzen und was passiert, wenn z. B. die Südstaaten dabei nicht mitziehen und ihre Schulden einfach Deutschland aufladen (Stichwort „Schuldenunion“)? Was ist bei der gefährlicheren Inflationsvariante "Stagflation" zu beachten, die wir derzeit haben? Auf alle diese wichtigen Fragen geht Gebert nicht ein.

Insgesamt ist der kleine Ratgeber von Thomas Gebert stark im Theorieteil, aber aus meiner Sicht deutlich zu undifferenziert bei den Umsetzungsempfehlungen. Hier hätte ich mir mehr Tiefgang gewünscht, um Anlageentscheidungen besser fä

Bewertung vom 01.06.2022
Roland Reinstadler
Reinstadler, Roland

Roland Reinstadler


ausgezeichnet

Es sind Bilder wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Lanthalers leben auf 1700 Höhenmetern im Südtiroler Passeiertal auf einem Berghof, der aus dem Felsen zu wachsen scheint. Der Bruder des derzeitigen Besitzers ist 1962 hier in den Tod gestürzt und auch sonst waren Unglücke nicht selten. Bis heute leben und arbeiten die Lanthalers mit ihren acht Kühen, einigen Schafen und Hühnern als Selbstversorger und unter Bedingungen, die sich kaum von denen im 19. Jahrhundert unterscheiden. Sie nutzen keine modernen Hilfsmittel, außer einer Stromleitung, die sie mit elektrischem Licht versorgt und die Verwendung eines Staubsaugers erlaubt. Gekocht wird, wie seit Generationen auf dem Holzherd, Bäume werden gefällt und zu Feuerholz gehackt, das Heu wird auf den Bergwiesen im Herbst gemäht und im Winter aus dem Schober am Berg in den Stall geholt. Es ist eine unglaublich anstrengende körperliche Arbeit, die im Gesicht des 75-jährigen Seniors tiefe Gräben gezogen und seinen Rücken gebeugt hat. Der Sohn wird den Hof übernehmen, aber von der Almwirtschaft alleine kann schon lange niemand mehr leben. Ohne EU-Subventionen würden die Lahnthalers schlichtweg verhungern.

Roland Reinstadler ist ganz in der Nähe aufgewachsen und hat über Jahre hinweg den Berghof und seine Bewohner fotografisch begleitet. Dabei sind ihm intime Einblicke in eine Lebenswelt gewährt worden, die er sensibel dokumentiert und mit viel Empathie ins Bild setzt. Natur und Mensch stehen hier nicht auf Augenhöhe, sondern die Umwelt wird als stete Bedrohung wahrgenommen, der man das eigene Lebensrecht abtrotzen muss. Im Winter ist das Gehöft völlig isoliert und abgeschnitten. Dann ziehen die Frauen und Kinder ins Tal, die Männer bleiben im Gebirge bei den Tieren.

Ich habe ähnliche Lebensumstände im Himalaya gesehen, hätte mir aber nicht im Traum vorstellen können, dass es in Europa noch Menschen gibt, die sich diesen Entbehrungen unterwerfen. Die eigentlichen Gründe dafür erfährt der Leser in den kurzen Bildkommentaren zwar nicht, aber die Verbundenheit mit den Vorfahren wird eine nicht geringe Rolle spielen. Der Gspellhof ist 1629 erstmals erwähnt und seitdem in Familienbesitz. Wie viele Generationen sich dies noch antun, weiß nur der Gekreuzigte im Herrgottswinkel, aber der Untertitel dieses einzigartigen Bildbandes, der mich an die frühe Sozialfotografie des 19. Jahrhunderts erinnert hat, lässt dennoch keinen Zweifel an der mittelfristigen Zukunft: Die Lahnthalers sind die letzten ihrer Art.