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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 21.02.2020
Oblomow
Gontscharow, Iwan

Oblomow


ausgezeichnet

Schlafrock-Existenz als Allegorie

In der russischen Literatur verkörpert die Titelfigur in Ivan Gontscharows 1859 erschienenen Roman «Oblomow» archetypisch den ‹überflüssigen Menschen›, jener auch schon bei Puschkin und Lermontow thematisierten Leitfigur aus dem patriarchalischen Landadel. Mit diesem provozierenden zweiten Roman, dessen berühmtes neuntes Kapitel mit sensationellem Erfolg schon vorab veröffentlicht wurde und an dem er dann aber noch volle zehn Jahre lang gearbeitet hat, wurde der Schriftsteller schlagartig berühmt und sicherte sich seinen Platz im Olymp der Weltliteratur. Er wurde allein achtmal ist Deutsche übersetzt, zuletzt wahrhaft kongenial von Vera Bischitzky in der neuen Ausgabe von 2014. Als Oblomowerei bezeichnet man inzwischen eine infantile, phlegmatische Geisteshaltung des absoluten Nichtstuns, welche der introvertierten Weltsicht des saturierten russischen Adels jener Zeit zu entsprechen schien.

Von dienstbaren Geistern umschwirrt wächst Oblomow im weitab gelegenen Landgut seiner Eltern, zu dem auch das gleichnamige Dorf mit 300 Leibeigenen gehört, als total verhätscheltes Kind auf und wird privat bei einem deutschen Lehrer unterrichtet. Er besucht die Universität und nimmt in Sankt Petersburg eine Stelle als Beamter an, die er aber bald schon aufkündigt, weil ihm die ständige Arbeiterei zuviel wird. Künftig lebt er, betreut von seinem Diener, faul und genügsam von den Einkünften des ererbten Landgutes und versinkt rasch in eine lähmende, träumerische Lethargie. Deren Gipfelpunkt ist, neben opulentem Essen, der ausgedehnte, tägliche Mittagsschlaf. Alle Pflichten aber schiebt der Dreißigjährige ständig vor sich her, lässt sich naiv gutgläubig von sogenannten Freunden finanziell ausnehmen und gerät immer mehr in eine prekäre Lage. Andrej Stolz, sein bester Freund, erfolgreicher Sohn seines ehemaligen Privatlehrers, versucht ihn zwar unermüdlich aus seiner Passivität zu locken, er hilft ihm auch tatkräftig bei der Besorgung seiner unerledigter Angelegenheiten, kann aber letztendlich auch nichts ausrichten gegen sein unsägliches Phlegma. Seine erste Liebe zu der quirligen Olga scheitert schließlich ebenfalls an dieser ewigen Lethargie, er selbst erkennt sein unentschuldbares, antriebsloses Verhalten und schreibt ihr einen selbstkritischen Abschiedsbrief. Einige Jahre später heiratet er seine einfältige Haushälterin, die sich immer aufopfernd um ihn gekümmert hat und eine hervorragende Köchin ist (sic), bekommt einen Sohn und stirbt dann sehr früh.

Fressen und Faulenzen als Lebensinhalt wirft existenzielle Fragen auf, die Ivan Gontscharow in seinem Roman mit dem Gegenpart des strebsamen deutschen Freundes kontrastiert. Die Hamlet-Frage wird von Oblomow überdeutlich - durch konkludentes Nicht-Handeln - mit ‹Nichtsein› beantwortet, er will nur seine Ruhe und Bequemlichkeit und ist dafür zu fast jedem Verzicht bereit. Diese konservative Absage an jedwede Veränderung fußt allerdings auf den üppigen Privilegien des Adels, der die Leibeigenen schamlos ausbeutet und ein parasitäres Leben führt. Der Interpretation dieses grandiosen Romans sind kaum Grenzen gesetzt, man kann ihn als amüsante Allegorie auf die Schlafrock-Existenz eines notorisch passiven Tagträumers deuten, eines ewigen Zauderers, der dem Fatum durch Nichtstun zu entfliehen sucht, als Sonderform des Eskapismus also, aber auch als psychiatrische Anamnese im Teufelskreis zwanghaften Nichtstuns.

Die gedankliche Tiefe dieses Jahrhundertromans ist phänomenal, bis in die feinsten Verästelungen hinein wird hier der Sinn des Lebens skeptisch hinterfragt, und in diesem Kontext wird vor allem auch das Phänomen der Liebe in einer universellen Sichtweise thematisiert. Sprachlich überzeugend und konstruktiv genial angelegt bietet dieser Roman ungetrübten Lesegenuss. «Oblomowerei», was ist denn das, fragt ein beleibter, namenloser Literat (wer wohl?) seinen Freund Andrej Stolz ganz am Ende erstaunt: «Und er erzählte ihm, was hier geschrieben steht»

Bewertung vom 14.02.2020
Das Blutbuchenfest
Mosebach, Martin

Das Blutbuchenfest


gut

Unselige Allianz von Schicksal und Zufall

Der Schriftsteller Martin Mosebach hat 2014 mit seinem Roman «Das Blutbuchfest» das Scheitern thematisiert, im Privaten ebenso wie im Politischen. Schon bei der Verleihung des Büchnerpreises 2007 sprach sein Laudator Navid Kermani vom Geist des Cervantes, den sein Werk atme. Als Literat wurde Mosebach vom Feuilleton stilistisch teilweise herb kritisiert für seinen «gespreizten Schmuckstil», andere sprachen entzückt von einem «Geniestreich» oder vom «souveränen Meisterwerk», - also was denn nun?

Zeitlich zu Beginn der Balkankriege angesiedelt, wird die Geschichte einer in Frankfurt beheimateten Clique illustrer Figuren aus dem Mittelstand erzählt, deren charismatische Hauptakteure zwei ganz unterschiedliche Veranstaltungen planen, eine davon ist das titelgebende «Blutbuchenfest». Ein finanziell abgebrannter, zwielichtiger Werbe-Guru kommt auf die grandiose Idee, seine ausufernden Geldsorgen auf einen Schlag durch ein groß aufgezogenes Fest für die Schickimicki-Gesellschaft loszuwerden, mit raffinierter Promotion und aggressivem Vertrieb. Gastgeber soll Dr. Glück sein, ein dem Alkohol zugeneigter, alleinstehender Bankvorstand mit einer riesigen Altbauwohnung, zu der auch ein schöner Garten gehört, in dessen Mitte der mächtige, rotlaubige Baum steht. Ich-Erzähler dieser Geschichte ist in weiten Teilen ein promovierter, arbeitsloser Kunsthistoriker Mitte dreißig. Ein gut vernetzter, exaltierter Veranstalter, der einen Kongress zum Thema «Menschenwürde im Blick der Balkankultur» plant, beauftragt ihn, ein Exposé für die als Begleitprogramm vorgesehene Ausstellung mit Werken des bosnischen Bildhauers Ivan Mestrovic zu schreiben.

Zu diesen Figuren, die sich in wechselnder Besetzung fast täglich im Restaurant Merzinger einfinden, gesellt sich ein vom Konkurs wieder auferstandener Immobilienhai hinzu, ferner die umtriebige Managerin einer PR-Agentur, eine ehemalige Modeschöpferin, eine männermordende Traumfrau sowie eine flatterhafte, zerbrechliche Assistentin, in die sich der Ich-Erzähler verliebt. Die zentrale Verknüpfung dieses beruflichen und privaten Netzwerks bildet Ivana, eine für sie alle tätige, bosnische Putzfrau, deren Schicksal als weiterer Handlungsstrang auch ihre bäuerliche Familie in Bosnien mit einbezieht. Genüsslich beschreibt Martin Mosebach in diesem satirischen Gesellschaftsreigen seine Frankfurter Protagonisten als lebensgierige Wohlstandsbürger mit Ecken und Kanten, deren maßlose Egozentrik nicht über ihre charakterlichen und seelischen Defizite hinwegzutäuschen vermag. Dieser zügellosen Wohlstandsclique stellt er mit Ivana eine tatkräftige, grundehrliche junge Frau als Kontrast gegenüber, die dann, selbst vom Schicksal schwer gebeutelt, auch noch miterleben muss, wie am Ende ihre vom Balkankrieg überraschte Familie auf der überstürzten Flucht all ihr bescheidenes Hab und Gut verliert. Scheitern tun aber mangels Spender auch der großkotzig geplante Kongress sowie das als glamouröses Event angekündigte Blutbuchenfest, letzteres endet in einem unsäglichen Chaos.

In einem etwas altväterlichen Stil wird hier wortmächtig und eindringlich eine kunstvoll inszenierte Parabel des Scheiterns erzählt, ein Vanitas-Motiv mithin, dessen Figuren lebensprall ausgeformt sind. Dabei gerät der Autor oft ins Fabulieren, schmückt seinen komplexen Plot unbekümmert mit irrealen Details aus, so wenn zum Beispiel die Liebste des Ich-Erzählers am Laptop arbeitet oder Ivana per Handy telefoniert, - für 1991/92 ein bewusster Anachronismus, wie der Autor erklärte. Er lässt den umtriebigen Werbe-Fuzzi sogar zu sechs Raben sprechen, Unglücksboten also, die ihm unter der Blutbuche interessiert zuhören. Die unselige Allianz von Schicksal und Zufall wird hier äußerst wirkungsvoll am Kontrast zwischen saturierter Spaßgesellschaft und archaischem Balkanleben gespiegelt, üppig gespickt zudem mit vielerlei kontemplativen Einschüben, eine insgesamt ebenso bereichernde wie unterhaltende Lektüre!

Bewertung vom 10.02.2020
Der letzte Grieche
Fioretos, Aris

Der letzte Grieche


weniger gut

Grieche trifft Schwedin

Mit dem 2011 erschienen Roman «Der letzte Grieche» hat der Schriftsteller Aris Fioretos nicht nur ein bemerkenswertes Buch über Migration vorgelegt, sondern auch das drei Generationen umfassende Familienepos einer griechischen Familie. Der in Schweden geborene Professor für Literatur-Wissenschaft mit griechischem und österreichischen Wurzeln schreibt auf Schwedisch, weil seine Kindersprache, wie er erklärt hat, ihn durch Erinnerungen und Erfahrungen sprachlich am nachhaltigsten geprägt hätte.

Flüchtlingskrisen, wie wir sie heute in Europa erleben mit ihren gravierenden politischen Verwerfungen, deren Schatten dieser Tage bis zum Wahlchaos im thüringischen Landtag reichen, ereigneten sich als Folge des türkisch-griechischen Krieges auch 1922. Aus Smyrna, dem heutigen Izmir, wurden damals alle griechischen Einwohner von den siegreichen Türken brutal vertrieben. Die Großmutter des Protagonisten Jannis flieht vor dem Massaker mit ihrer Rest-Familie in das armselige Bergdorf Áno Potamiá in Makedonien. Ihr Enkel muss dort als Kind die Ziegen hüten, findet später keine Arbeit und wandert, nachdem er sich beim Pokern total verzockt hat, 1967 als Gastarbeiter nach Schweden aus, wo er sehr freundlich von einem griechischen Arzt aufgenommen wird. Der gewährt ihm fürs erste Kost und Logis in seinem Haus und unterstützt ihn nach Kräften. Jannis verliebt sich prompt in das toughe Kindermädchen seiner Gastgeber und hilft später seinem sehnlichen Kinderwunsch etwas nach, indem er das unabdingbare Kondom mit einer Nadel aufsticht, - eine Missetat, die nicht folgenlos bleibt.

Der Autor etabliert einen fiktiven Herausgeber namens Aris Fioretos, dem aus einem Nachlass ein Holzkasten mit hunderten von Karteikarten zugefallen sei, aus der Sammlung sollte einmal ein Ergänzungsband für die «Enzyklopädie der Auslandsgriechen» entstehen. An dieser nach Stichworten geordneten Kartei arbeitete seit dem Jahre 1928 unermüdlich eine «Gehilfinnen Clios» genannte Gruppe älterer Damen, um der Nachwelt alles Wissenswerte dazu möglichst vollständig zu überliefern. Und aus diesem sachlich, nicht zeitlich geordneten Fundus wiederum sei nun eben dieser Roman entstanden, jeder seiner Abschnitte fuße inhaltlich quasi auf einer entsprechenden Karteikarte, heißt es, es geht also chronologisch und folglich auch inhaltlich alles kunterbunt durcheinander. Der Protagonist Jannis ist eine schwer zu fassende Figur, die in ihrer quirligen Unbekümmertheit an Alexis Sorbas erinnert. Er bezeichnet sich selbst als «Mückenschädel», weil seine Gedanken wie ein Mückenschwarm in seinem Kopf herumschwirren. Zu seinen irrwitzigen Einfällen trägt oft auch seine Affinität zum Wasser bei, schon als junger Bursche hatte er herumspintisiert, für sein Dorf eine Anlage zur Bewässerung bauen zu wollen. In Schweden ist er dann fasziniert von dem See, an dem das Haus seiner Gastgeber liegt, weil der jeden Winter dick zugefroren ist und dann wie ein Spiegel in der Sonne glitzert. Vor allem aber ist Jannis auch ein Alltagsphilosoph, der unentwegt meist sehr obskuren Gedanken nachhängt.

Die wichtigste Botschaft von Aris Fioretos, diesem weltläufigen, in Deutschland lebenden, auf Schwedisch schreibenden Schriftsteller mit griechisch-österreichischen Eltern, besteht in der Negierung der Nation als Quelle der Identität, - wer könnte das besser beurteilen als er? In seinem tragisch-komischen Roman mit existenzieller Grundierung ist die üppig sprießende Fantasie nur marginal mit Realität angereichert, zu der politisch das Massaker von Smyrna ebenso gehört wie das «Regime der Obristen», die griechische Militärdiktatur der Jahre 1967 bis 1974. Stilistisch kann der langatmige Roman mit seinem Pathos ebenso wenig überzeugen wie mit seiner stilblütenreichen Sprache. Hinter dem postmodernen Plot mit all den verqueren, pseudo-philosophischen Gedanken ist die Thematik «Grieche trifft Schwedin» kaum noch auszumachen, der narrative Überbau aber ist wenig überzeugend.

Bewertung vom 07.02.2020
Wir sehen uns dort oben / Die Kinder der Katastrophe Bd.1
Lemaitre, Pierre

Wir sehen uns dort oben / Die Kinder der Katastrophe Bd.1


weniger gut

Makabre Schwejkiade

Mit dem 2013 erschienenen historischen Roman «Wir sehen uns dort oben» hat der bis dato nur für seine Krimis bekannte französische Schriftsteller Pierre Lemaitre erstmals dieses Genre verlassen und den Ersten Weltkrieg und dessen unmittelbare Folgen thematisiert. Dieser erste «literarische» Roman aus seiner Feder ist gleichwohl mit typischen Krimi-Elementen angereichert, die für Spannung sorgen sollen in seiner gesellschaftskritischen Geschichte. Strammer Patriotismus und verlogenes Heldengedenken werden hier mit satirischen Mitteln als reine Farce entlarvt. Der in Frankreich überaus erfolgreiche Roman wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt, vier Jahre später ebenso erfolgreich verfilmt und gleich mehrfach mit dem César-Filmpreis prämiert.

In einem absolut sinnlos gewordenen Stellungskrieg mehren sich Anfang November 1918 die Gerüchte, ein Waffenstillstand stehe unmittelbar bevor. Der skrupellose Leutnant Pradelle will sich vorher unbedingt noch durch eine Heldentat hervortun, um Hauptmann zu werden und damit dann auch seinen sozialen Aufstieg nach dem Krieg zu befördern. Er befiehlt deshalb einen riskanten Vorstoß in seinem Frontabschnitt an der Maas, der mit hohen Verlusten endet. Albert wird in einem Granattrichter verschüttet, Édouard wird am Kopf schwer verletzt, es gelingt ihm aber, den verschütteten Kameraden vor dem Ersticken zu retten. Beide werden enge Freunde, Albert kümmert sich rührend um den im Gesicht grauenhaft entstellten Édouard, der ihm im schlimmsten Kriegsgetümmel so selbstlos das Leben gerettet hat. In der Nachkriegszeit steigt Pradelle mit hanebüchenen Methoden ins lukrative Geschäft mit dem Umbetten von nur provisorisch in Frontnähe bestatteten Kriegsopfern ein, deren Angehörige sie zurückholen und in der Heimat würdig beerdigen wollen. Der künstlerisch begabte Édouard entwickelt die kühne Idee, mit einer Scheinfirma ganz groß ins Geschäft mit Kriegsdenkmälern einzusteigen, die er allerdings niemals zu bauen gedenkt. In einer Hauruck-Aktion, mit hohen Rabatten bis zu einem bestimmten Stichtag, wollen die Freunde nämlich alle bis dato eingegangenen Anzahlungen kassieren und dann unter falschem Namen ins Ausland fliehen. Tatsächlich kassieren die ins Kriminelle abgerutschten Freunde auf diese Art mehr als eine Million Franc von vielen arglosen, unbedarften Kunden, bevor sie abtauchen, während Pradelle mit seinen skrupellosen Geschäftsmethoden auffliegt, sein ganzes Vermögen verliert und im Gefängnis landet.

Mit seinem Roman decouvriert Pierre Lemaitre die patriotische Heldenverehrung für die gefallenen französischen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg als verlogene Ablenkung von den tatsächlichen Gräueln des unsäglichen Gemetzels auf den Schlachtfeldern mit seinen Millionen von Toten. Unter der wirtschaftlichen Misere als Folge des Krieges leiden aber vor allem die vielen Kriegsversehrten, die sich nur schwer wieder eingliedern können in die Zivilgesellschaft, während die Wohlhabenden sowie gerissene Profiteure gute Geschäfte machen auch in diesen schweren Zeiten.

In zwei Handlungssträngen werden abwechselnd die Geschichten der beiden vom Krieg gezeichneten Landser sowie die ihres brutalen Offiziers erzählt, sie sind lose miteinander verflochten und laufen ganz am Schluss erst zusammen. Über weite Strecken ist diese stilistisch anspruchslose Erzählung ziemlich langweilig zu lesen, sie steigert sich erst zum leider vorhersehbaren Finale hin. Ein Showdown allerdings, der, sogar noch im ergänzenden Epilog, an Kitsch kaum zu überbieten ist. Die Figuren sind maßlos übertrieben gezeichnet, es gibt kein Klischee, das da nicht bedient wird, trotzdem erzeugen sie alle kaum Empathie, ihr Inneres bleibt verborgen. Der krimiartig mit vielen Abschweifungen konstruierte Plot weist zudem auch etliche Ungereimtheiten auf, er ist als sarkastisches Sittenbild bestenfalls eine, vergleichsweise allerdings deutlich weniger amüsante, französische Schwejkiade.

Bewertung vom 31.01.2020
Ein Held unserer Zeit
Lermontow, Michail

Ein Held unserer Zeit


sehr gut

Eine multiple Persönlichkeit

Der einzige vollendete und zu Lebzeiten veröffentlichte Roman des russischen Schriftstellers Michail Lermontow trägt den ironischen Titel «Ein Held unserer Zeit», sein Erscheinen 1840 markiert deutlich das Ende der russischen Romantik, er ist zudem der erste psychologische Roman in dieser Sprache. Mit Puschkin, dem unangefochtenen Nationaldichter jener Zeit, der großen Einfluss auf ihn ausgeübt hat, teilt der nur 27 Jahre alt gewordene Literat neben der Vorliebe für den Kaukasus als Handlungsort auch die Todesart, beide starben mit wenigen Jahren Abstand in einem Duell. Im Vorwort begegnet Lermontow der aufkommenden Kritik, sein Roman beruhe im Kern auf der Schmähung einer Persönlichkeit: «Der Held unserer Zeit, meine Herrschaften, ist in der Tat ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen: es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung». Das war starker Tobak für die damalige Leserschaft, aber seine schreibenden Kollegen wussten es besser. «Niemand in Russland hat je solch eine Prosa geschrieben, so genau, so schön, so köstlich» hat Nikolai Gogol geschwärmt.

Dieser relativ kurze Roman ist im Prinzip aus fünf Novellen zusammengesetzt, er spielt an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Stabshauptmann Maxim erzählt von gemeinsamen Abenteuern mit dem Offizier Petschorin, den er als rätselhaften Sonderling beschreibt. Während der Kur in Pjatigorsk beginnt dieser Draufgänger eine Liaison mit Prinzessin Mary, von der er sich aber nach einiger Zeit wieder trennt, er habe nur mit ihr gespielt, erklärt er ihr. Auch sein kurzes Verhältnis mit der verheirateten Vera geht nicht gut aus, sie schickt dem Hallodri einen Abschiedsbrief. Gruschnitzkij, sein eifersüchtiger Nebenbuhler, der allerlei Gerüchte verbreitet, wird im Duell von Petschorin erschossen. Der wird später zum Dienst auf ein Fort versetzt, verliebt sich dort in die tscherkessische Fürstentochter Bela, die auch der Bandit Kasbitsch begehrt, aber Petschorin entführt sie kurzerhand. Bald jedoch verliert er wieder jedes Interesse an dem Mädchen und sagt es auch ihr ganz unverblümt. Der Ich-Erzähler erhält von Petschorin dessen Tagebuch, in dem eine Episode geschildert ist, bei der in nächtlicher Kartenrunde die Frage der Vorherbestimmung debattiert wird. Petschorin wettet, es gäbe sie nicht, Leutnant Vulic hält dagegen und will das auch gleich an Ort und Stelle klären. Er nimmt im Zimmer des Majors aufs Geratewohl eine von dessen Pistolen vom Nagel und hält sie sich an die Stirn, die Frage, ob sie geladen ist, kann der Major in seiner Verwirrung nicht sicher beantworten. Trotzdem drückt Vulic ab, - es löst sich kein Schuss! «Sie war nicht geladen», rufen alle erleichtert. «Das werden wir sehen» sagt Vulic, spannt den Hahn erneut und schießt auf seine am Haken hängende Schirmmütze, - es knallt, die Mütze ist durchlöchert, die Kugel steckt tief in der Wand.

Der hier nur kurz skizzierte Plot wird von verschiedenen Erzählern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und in diversen zeitlichen Voraus- und Rückblenden erzählt. Sein hedonistischer Held ist ein desillusionierter Fatalist mit charismatischer Ausstrahlung, als intelligenter, bösartiger Unglücksbringer ein Archetyp, der alle Laster der Zeit gleichzeitig zu verkörpern scheint.

Diese ebenso spannende wie bereichernde Geschichte taucht tief hinein in die Abgründe der menschlichen Seele, ihr Held verkörpert zudem erstmals eine multiple Persönlichkeit. Zu seiner Entstehungszeit war der Roman eine ausgemachte Provokation, eine beißende Kritik nämlich an den rückständigen sozialen Verhältnissen unter Zar Nikolaus I. Mit schnörkelloser Diktion, in einer allerdings ziemlich verwirrenden fragmentarischen Erzählweise, liest sich dieser damals avantgardistische Roman mit seinem zynischen Helden heute vor allem als eine interessante psychologische Studie, - ohne irgendwelche moralischen Intentionen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2020
Kirio
Weber, Anne

Kirio


schlecht

Ein narratives Verwirrspiel

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber hat mit «Kirio» einen quecksilbrigen Schelmenroman geschrieben, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert war. Wie bei vielen ihrer Werke steht auch hier der experimentelle Charakter ihrer Prosa im Fokus, hinter den eine erzählenswerte Geschichte völlig in den Hintergrund tritt. Ihre Titelfigur ist schwer greifbar, sie erinnert an Jesus ebenso wie an Till Eulenspiegel, Don Quichotte oder den Rattenfänger von Hameln. Hinzu kommt ein virtuoses, verwirrendes Spiel mit vielerlei Erzählperspektiven, welches die Lektüre dieses postmodernen Roman-Märchens zu einem Leseabenteuer mit fraglichem Ausgang werden lässt.

Erzählt wird die Geschichte eines rätselhaften Kauzes namens «Kirio». Sein Geburtsort ist die Nothaltebucht in einem Autobahntunnel, wo er vorzeitig das Licht der Welt erblickt. Schon während der Schwangerschaft redete die Mutter mit ihm, als Ich-Erzählerin berichtet sie: «… tun das nicht alle angehenden Mütter? Und das Kind antwortete. Damals dachte ich, das täten alle ungeborenen Kinder. Natürlich sagte es keine langen, verschachtelten Sätze, auch gebrauchte es fast nur die Gegenwartsform, und den Konjunktiv II habe ich es nie verwenden hören». Schon als Schüler fällt er als seltsamer Vogel auf, weil er gerne und oft auf Händen geht, das entsprechend gestaltete Buchcover weist auf diese Marotte hin. Typisch für ihn, der nur sporadisch immer wieder irgendwo auftaucht, sind auch die weitaufgerissenen, staunenden Augen, mit denen er neugierig und unerschrocken die Welt betrachtet. Außerdem spielt er gerne Flöte, die bei vielen Gelegenheiten zu hören ist, auch wenn er ihr nur disharmonische Töne zu entlocken vermag. Streitereien schlichtet er mühelos, indem er den Kontrahenten Reis auf die Köpfe rieseln lässt. Er redet mit Tieren, Pflanzen und unbelebter Materie ebenso wie mit Menschen, nimmt alles wörtlich und glaubt auch alles. Und manchmal vollbringt er sogar Wunder, ohne es zu merken, ohne es zu wollen, einfach so, indem er da ist. Als Mitfahrer gelangt Kirio am Ende nach Hanau, in die Geburtsstadt der Gebrüder Grimm, die Anne Weber dann im Futur erzählen lässt: «Es wird einmal ein wunderlicher Flötenspieler sein». Dort aber verliert sich dann seine Spur.

Die Autorin benutzt diese märchenartige Geschichte als Vehikel für ihre phantasievollen Gedankenblitze, mit denen sie, darin ihrer Titelfigur folgend, die Welt auf den Kopf stellt. Sie bewirkt mit dieser irrwitzigen, grotesken Sichtweise beim Leser ungeahnte Inspirationen, löst ganze Assoziations-Ketten aus. Diese lustvolle Umkehrung aller Dinge und Erscheinungen ist das Leitmotiv eines umstürzlerischen Schelmenromans, dessen grundguter Held wie ein Irrwisch durch die Welt geistert und immer wieder überraschend an den verschiedensten Ort auftaucht, um dort meist Unerwartetes zu bewirken. Er ist als Person ebenso wenig zu fassen wie die diversen Erzähler, die hier zu Wort kommen, sich gegenseitig ablösen, spurlos verschwinden, deren Perspektiven, schwer durchschaubar, oft bunt durcheinander gewirbelt sind.

Dieses kreative, für den Leser aber auch verwirrende Spiel mit den Erzählformen erzeugt zusammen mit der wunderlichen Titelfigur, die ohne jede Intention einfach da ist, einen narrativen Zauber, der zunächst unmerklich die Gewissheiten des Lebens in Frage stellt und dann meist ins Gute weist - oder ins Unabänderliche. Eine derart federleichte, ebenso unbeirrte wie unkonventionelle Erzählweise ist – nicht nur im deutschen Sprachraum – eher selten anzutreffen. Leider fehlt dieser Geschichte voller unmotivierter Hirngespinste jedwede Spannung, zudem setzt das übermütige Erzähler-Verwirrspiel der Autorin einen detektivisch veranlagten Leser voraus. Im Verein mit der schlichten, oft bemüht lustigen Diktion, zu der auch die eher störenden, weil unmotiviert eingestreuten, fremdsprachigen Floskeln beitragen, konnte sich bei mir partout kein Lesevergnügen einstellen.

Bewertung vom 26.01.2020
Das Schöne, Schäbige, Schwankende
Kronauer, Brigitte

Das Schöne, Schäbige, Schwankende


gut

Konglomerat literarischer Vignetten

Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat ihr kürzlich erschienenes Werk «Das Schöne, Schäbige, Schwankende» erst kurz vor ihrem Tod fertig gestellt, es trägt die eigenwillige Genrebezeichnung «Romangeschichten». Schon als Schülerin hat sie angefangen zu schreiben, später dann als Deutschlehrerin gearbeitet, ehe 1980 der erste Roman der damals Vierzigjährigen erschien. Ohne Zweifel gehört die Büchner-Preisträgerin zu den herausragenden deutschen Schriftstellern unserer Zeit, viele, auch ich, schätzen sie als deren wortmächtigste ein. Ihre unbeirrt zum Credo erhobene Erkenntnis von der Ambivalenz der Dinge beherrscht auch den vorliegenden Band. Gegensätze seien nun mal die Würze in der Literatur, hat sie dazu erklärt, sie erst würden ermöglichen, viel dichter an die Wirklichkeit heranzukommen, denn man dürfe sich das intensive Erleben nicht nehmen lassen. Genau das ist ihr hier in ihrer geradezu als Vermächtnis anmutenden Sammlung von Geschichten wahrlich gelungen.

Die Autorin schildert in einem vorwortartig kurzen, ersten Kapitel ihr Vorhaben, in ihrem Romanprojekt über Menschen zu schreiben, Freunde, flüchtige und alte Bekannte. Das Manuskript trug den Arbeitstitel ‹Glamouröse Handlungen›, «der ein bisschen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, dass die Welt von sogenannten Handlungen und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern». Und sie schreibt weiter: «Neununddreißig Porträts sollten zu je dreizehn nach Kategorien geordnet werden. Sie lauteten: ‹Das Schöne, das Schäbige, das Schwankende›». Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten ins immer Unerfreulichere, erläutert sie ihre geplante Vorgehensweise, bei den Schönen würde sich der Aufstieg zur lichten Offenbarung erst allmählich abzeichnen, die Schwankenden sollten «… unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienen».

Im zweiten und dritten der fünf Kapitel werden kurze Figurenporträts aus verschiedenen sozialen Gruppen skizziert, die in einem weiten Bogen über diverse Milieus hinweg psychologisch feinsinnig über Alltägliches ebenso berichten wie über Kunst und Natur. Formal kühn entstehen so äußerst kunstvolle narrative Vignetten, in denen bildhaft diverse solitäre Individuen auftreten, die sich allmählich zu einem polyphonen Wortgemälde fügen. Die beiden folgenden, weit umfangreicheren Kapitel handeln vom schwankenden Schicksal einer lebenslustigen, schönen jungen Frau sowie vom ebenso schwankenden, insgesamt aber eher behaglichen letzten Lebensabschnitts eines Literatur-Professors, der sich als schwärmerischer Bewunderer des berühmten Renaissance-Malers Matthias Grünewald erweist. Über dessen Isenheimer Altar wird in der letzten Geschichte immer wieder aufs Neue und bis ins allerkleinste Detail berichtet, der 92jährige Ich-Erzähler findet kein Ende in seiner schier grenzenlosen Verehrung.

Selbstironisch, spöttisch, geradezu übermütig bekennt Brigitte Kronauer im ersten, dem unverkennbar autobiografischen Kapitel, dass sie an ihrem streng geplanten Romanprojekt letztendlich gescheitert sei, «alles verlor den sortierenden Halt». Und so ist denn auch diese Geschichten-Sammlung ein undurchschaubares Konglomerat literarischer Vignetten und Kurzgeschichten geworden. Genau das aber ist als wortmächtiges Sprachkunstwerk mit einem kunterbunten Ensemble stimmig beschriebener, lebensechter Figuren, die nahezu alle Formen und Varianten menschlichen Daseins abbilden, unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

Bewertung vom 21.01.2020
Johnny und Jean
Präauer, Teresa

Johnny und Jean


schlecht

Phantasiekompetenz gefragt

In ihrem zweiten Roman «Johnny und Jean» thematisiert die österreichische Schriftstellerin und bildende Künstlerin Teresa Präauer auf satirische Art die zeitgenössische Kunstszene. Der Buchtitel erinnert an berühmte chaotische Paare wie ‹Jules und Jim›, nur dass hier die Dramatik fehlt, Johnny und Jean sind harmlose Kunststudenten auf dem Weg zum Ruhm. «Mach gute Kunst» ist das Motto, aber genau das ist bekanntlich leichter gesagt als getan und wirft in der bildenden Kunst, wie der Klappentext aufzählt, nebenbei viele urkomische Fragen auf, mit denen niemand gerechnet hat.

Bei Studienbeginn an der Kunsthochschule trifft Ich-Erzähler Johnny seinen Schulkameraden Jean wieder, der ihm durch einen Salto vom Dreimeterbrett schon als Schüler imponiert hat. Auch im Studienbetrieb wird Jean schnell zu einer Führungsfigur, er wird von allen bewundert, ist den Kommilitonen immer voraus, ein selbstbewusster, kreativer Machertyp. Johnny hingegen ist Außenseiter, ein Zauderer und Tagträumer, der ideenlos stundenlang vor dem leeren Blatt sitzt. Er beschäftigt sich lieber mit Max Doerners Materialkunde, fertigt sechs Rahmen, zieht Leinwand auf, grundiert sie, - und dann kommt Jean und nimmt sie einfach alle mit. Während Jean am Kunstmarkt reüssiert, verrückte Kunstaktionen inszeniert, eigene Ausstellungen hat und seine Werke auch verkaufen kann, arbeitet Johnny immer mit dem gleichen Motiv. Schon an der Kunsthochschule hatte er sich mit seinen realistisch gemalten Fischen beworben und wurde auch erst im zweiten Anlauf angenommen, seither ist ihm nichts anderes mehr eingefallen. Sinniger Weise ist es dann ein Abfüller von Mineralwasser, der schließlich drei seiner sonst unverkäuflichen, «zart getuschten» Fischbilder erwirbt.

«Ich stelle mir vor, wie ich als junger Bub auf dem Land lebe» heißt es im ersten Satz, eine latent vorhandene Fantasie überdeckt das Wenige, was Realität sein könnte in diesem Künstler-Roman, der narrativ typische Stil des unzuverlässigen Erzählens. Die erforderliche Vorstellungskraft wird hier auf die Spitze getrieben, in vielen Szenen und Gesprächen bleibt der Wahrheitsgehalt fraglich, alles könnte auch irreal sein, und meist ist es für den Leser auch nicht möglich, eindeutig zu erkennen, was nur satirisch gemeint ist. Teresa Präauer dürfte als Autorin eigene Erfahrungen und Interna aus dem Kunstbetrieb in ihre Geschichte eingebaut haben, was den Text durchaus authentisch erscheinen lässt. Wenn der Held plötzlich mit Salvador Dalì spricht, wird allerdings klar, dass er fantasiert. Auch Marcel Duchamp mischt sich dann ein, und als Johnny ihn aufklärt, dass nach der Definition von Joseph Beuys jeder ein Künstler sei, fragt der zurück: «Beuys, wer ist der Kerl?» Alles was passiert in diesem surrealen Roman ohne erkennbare Handlung basiert allein, um ein wunderbar passendes Kompositum der Autorin zu benutzen, auf der «Phantasiekompetenz» seiner Leser. So findet die Initiation des Helden zum Beispiel in einen Museum von Kopenhagen statt, in einer Video-Blackbox mit Werken von Pipilotti Rist, wo Johnny von einer unbekannten Frau, die dort als einzige plötzlich neben ihm sitzt, völlig überraschend rittlings vernascht wird. Es lebe die Fantasie!

Erzählt werden die teils abstrusen Begebenheiten und wirren Dialoge der Kunstjünger, mit netten Anekdoten angereichert, in knappen Sätzen, oft im Jargon der Kunstwelt. Es gibt allerdings keinerlei Steigerung, keine überraschenden Wendungen, alles plätschert gleichförmig dahin und führt letztendlich auch zu nichts. Die farblosen Figuren sind eher emblematisch angelegt, sie bleiben unverbunden Solitäre der Kunstszene. Das permanente «Namedropping» in den Dialogen der Figuren kennzeichnet, durchaus selbstironisch, auch diesen verspielten Roman selbst, wirkt aber allmählich dann doch arg aufgesetzt. So winkt als Lesefrucht allenfalls eine Bereicherung des eigenen Kunstwissens, das im Plot angelegte psychische Konfliktpotential bleibt ungenutzt.

Bewertung vom 21.01.2020
Metropol
Ruge, Eugen

Metropol


gut

Geistige Wegbereiter der DDR

Acht Jahre nach seinem erfolgreichen Debütroman ist nun von Eugen Ruge mit «Metropol» ein Prequel erschienen, der nach dem berühmten Moskauer Hotel benannte Roman geht seiner DDR-Saga zeitlich voraus und behandelt die stalinistischen Säuberungen von 1936/37. Die Erzählung wird durch einen Prolog eingeleitet, in dem der in Russland geborene Autor berichtet, auf welch unglaublich kompliziertem Weg er zu den Kopien der Kaderakte seiner Großmutter Charlotte gekommen ist, 246 Blatt handschriftlich durchnummeriert, als ‹Streng geheim› klassifiziert und mit ‹Aufgehoben› übergestempelt. Diese Unterlagen sind Grundlage seiner Geschichte, über deren auf Fakten beruhenden und fiktional kräftig angereicherten Erzählstoff er im Klappentext erklärt: «Die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichsten aber sind wahr». Und das trifft auch gleich auf den Prolog zu, in dem man auf knapp vier Seiten beispielhaft ablesen kann, woran der Kommunismus letztendlich gescheitert ist, - an seiner grotesken Bürokratie nämlich, der Charlotte ihr eher unwahrscheinliches Überleben verdankt.

Auf der Flucht vor den Nazis ist die überzeugte, linientreue Kommunistin mit ihrem Lebensgefährten Wilhelm nach Moskau emigriert, sie ist dort unter dem Decknamen Lotte Germaine für den Nachrichtendienst der Komintern tätig, der Weltorganisation der kommunistischen Parteien, und Wilhelm arbeitet als Agent für deren Geheimdienst. Als während der stalinistischen Säuberungen einem ihrer Bekannten als Volksfeind der Prozess gemacht wird, geraten auch sie ins Visier des NKWD, der allmächtigen, an kein Gesetz gebundenen politischen Polizei. Sie werden vom Dienst suspendiert, müssen ihre Wohnung verlassen und werden ins Hotel Metropol eingewiesen. Dort verbringen sie wartend 477 Tage, ohne Verhör, ohne Anklage, ehe dann völlig überraschend ihre Ausreise nach Frankreich verfügt wird. Neben Charlotte gibt es mit Hilde, der ersten Frau von Wilhelm, die als Sekretärin arbeitet für einen hohen Funktionär mit direktem Draht zu Stalin, einen abwechselnd erzählten zweiten Handlungsstrang. Hilde hat Charlotte denunziert, hat jedoch weniger Glück als sie. In größeren Abständen wird in einem dritten Strang schließlich von Wassili Wassiljewitsch Ulrich erzählt, dem mächtigen Vorsitzenden der Moskauer Schauprozesse, der während dieser Terrorzeit mehr als 30.000 Todesurteile unterzeichnet hat.

Letzteres erfährt man aus dem Epilog, diesem zusammen mit dem Prolog außerhalb des Romans stehenden Rahmentext, wo näher erläutert wird, wie das Buch entstanden ist, welche Ergebnisse die umfangreiche Recherche von Eugen Ruge erbracht hat und welches Schicksal die einzelnen Figuren dann tatsächlich erlitten haben, soweit das bekannt geworden ist. Der Fokus jedoch liegt auf Charlotte, der dreizehn von zwanzig Kapiteln des Romans gewidmet sind. Die eineinhalb Jahre im Hotel Metropol, in dem auch der Richter Ulrich residiert, erscheinen als beklemmende Zeit voller Angst und böser Ahnungen, niemand traut mehr irgendwem, man bespitzelt sich gegenseitig und denunziert den anderen, es herrscht grenzenlose Willkür. In der kommt es dann auch zu unkalkulierbar grotesken Zufällen, wie das aus einer Laune heraus gefällte Todesurteil für Hilde exemplarisch belegt.

Der Mikrokosmos der Hotels Metropol, in dem kurzzeitig auch Lion Feuchtwanger als willfähriger Prozessbeobachter direkt neben Charlotte und Wilhelm wohnt, wird hier atmosphärisch dicht, aber leider nicht ganz klischeefrei beschrieben. Besonders aufschlussreich sind die Passagen, in denen die Psyche der diversen Akteure mit ihrer ständigen Angst, vielleicht als nächster abgeholt zu werden, durchaus stimmig geschildert wird, oft im Stil der erlebten Rede. Eugen Ruge füllt hiermit eine Lücke, die deutschen Kommunisten in Moskau als geistige Wegbereiter der DDR werden literarisch hierzulande ja eher selten thematisiert. Insoweit ist dieser Roman wichtig und als bereichernde Lektüre unbedingt zu empfeh

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