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Havers
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Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 11.03.2021
Unter Wasser Nacht
Hauff, Kristina

Unter Wasser Nacht


ausgezeichnet

Die Älteren unter uns kennen das Wendland, diese ursprüngliche, vom Wasser geprägte Landschaft am Rand der Lüneburger Heide, vielleicht noch aus den Protestaktionen der Anti-AKW-Bewegung. Wir sind damals mitmarschiert, so wie auch die beiden Paare Sophie und Thies und Bodo und Inga, die im Zentrum der Handlung stehen. Mittlerweile sind die Freunde im bürgerlichen Leben angekommen, bewirtschaften gemeinsam einen Hof, haben geheiratet und Kinder bekommen. Aber das Idyll hat Risse, denn während aus Jella und Lasse Vorzeigekinder und der ganze Stolz ihrer Mutter Inga wurden, hat sich Aaron, der Sohn von Sophie und Thies, zu einem aggressiven Problemkind entwickelt, das speziell seine Mutter so manches Mal an den Rand der Verzweiflung bringt. Doch dann verschwindet er spurlos, bis einige Tage später seine Leiche aus der Elbe gefischt wird. Niemand steckt den Tod eines Kindes einfach weg, am wenigsten die Eltern, die daran zu zerbrechen drohen. Jede/r ist für sich allein mit seiner Trauer. Die Stimmung verändert sich erst wieder mit der Ankunft einer jungen Frau, die ihre Kindheit inmitten der turbulenten Protestbewegung verbracht hat. Mit ihrem Blick zurück in die Vergangenheit wirbelt sie reichlich Staub auf, bringt Vergessenes und Verdrängtes ans Licht und zwingt so die Beteiligten, sich unliebsamen Wahrheiten zu stellen.

Zentrales Thema dieses Romans ist die Sprachlosigkeit der Menschen, aber auch das Unvermögen oder vielleicht auch die mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit problematischen Situationen. Dies zeigt uns die Autorin durch die Perspektivwechsel, bei denen man peu à peu in das Innerste der Hauptfiguren eintaucht, ihr Verhalten und ihre Ängste in dieser Ausnahmesituation miterlebt, ihr Schweigen, wo Reden angebracht wäre. Eine Familiengeschichte, geplottet mit psychologischem Feingefühl, deren Dramatik sich erst allmählich entfaltet. Atmosphärisch dicht durch die gelungenen Landschaftsbeschreibungen, die sich nahtlos in die Seelenzustände der Protagonisten einfügen. Lesen!

Bewertung vom 11.03.2021
Als ich einmal in den Canal Grande fiel
Reski, Petra

Als ich einmal in den Canal Grande fiel


sehr gut

Das Buch ist keine bloße Liebeserklärung an Venedig, sondern vor allem eine zornige Anklageschrift, die beim Namen nennt, was für die Zerstörung von Reskis Wahlheimat, der „Serenissima“, verantwortlich ist. Und was sie beschreibt, kann ich bestätigen. Unser einziger Besuch in der Lagunenstadt liegt zwanzig Jahre zurück, aber bereits damals zeichnete es sich ab, dass der verantwortungslose Umgang der Lokalpolitik mit den Schätzen Venedigs dieses Kleinod in ein Freiluft-Disneyland verwandeln würde.

Unfähige und korrupte Politiker, die mit dem Großkapital klüngeln und die staatlichen Immobilien an den Meistbietenden verhökern, natürlich ohne Nutzungsauflagen. Das Megaprojekt Mose, das nicht nur nachhaltig das Ökosystem der Lagune zerstört hat sondern durch seine nicht durchdachte Konstruktion dafür sorgen wird, dass die Überschwemmungen zukünftig wesentlich heftiger ausfallen und die Pegelstände höher als in der Vergangenheit sein werden. Die Verbreiterung der Fahrrinne für die mehr als 500 Kreuzfahrtschiffe, deren Passagiere alljährlich die Stadt überschwemmen und dafür sorgen, dass die Läden des täglichen Bedarfs nach und nach verschwinden, weil es gewinnbringender ist, Touristenkitsch aus Fernost zu verkaufen. Tourismus ist das goldene Kalb, ein Fluch für die Einheimischen, die keine bezahlbaren Wohnungen finden, weil die Besitzer lieber lukrative AirBnB Quartiere daraus machen. Die veränderte Infrastruktur sorgt für einen Exodus Richtung Festland. Weitgehend unberücksichtigt lässt Reski allerdings diejenigen, die sich keine „Adelsetage“ im Palazzo bzw. dessen originalgetreue Renovierung leisten können. Wenn mir alljährlich die Wohnung überschwemmt würde, würde ich auch die Koffer packen und dorthin umziehen, wo die Füße trocken bleiben.

Doch es könnte auch ganz anders kommen. „Venedig eilt der Entwicklung voraus“, sagt der Venezianer, ist eine Stadt der Moderne, in der Nachhaltigkeit schon immer groß geschrieben wurde (S. 204). Bleibt zu hoffen, dass dies auch die Verantwortlichen endlich erkennen und danach handeln.

Bewertung vom 08.03.2021
Die Stunde der Wut / Melia und Vincent Bd.2
Eckert, Horst

Die Stunde der Wut / Melia und Vincent Bd.2


ausgezeichnet

Melia Adan, die wir bereits aus „Im Namen der Lüge“ kennen, hat den Verfassungsschutz verlassen und ist nun unter anderem für die Leitung des KK 11 verantwortlich und damit Vincent Veihs Vorgesetzte. Im Großen und Ganzen ziehen beide an einem Strang, die Zusammenarbeit klappt, auch wenn die Kriminalrätin bisweilen Entscheidungen trifft, mit denen der KHK nicht einverstanden ist.

Das spurlose Verschwinden ihrer Ex-Kollegin Solveig Fischer treibt Melia noch immer um. Zwar glaubt sie zu wissen, was mit ihr geschehen ist, aber es fehlen nicht nur die Beweise sondern auch die Leiche. Bei ihren Nachforschungen begibt sie sich auf gefährliches Terrain, und es zeigt sich, dass „Big Money“ gefährliche Helfershelfer hat, mit denen nicht zu spaßen ist.

Vincent hingegen hat es mit einem Mordfall zu tun, der auf den ersten Blick eine Beziehungstat vermuten lässt. Im Laufe der Befragungen innerhalb der Opferfamilie ergeben sich jedoch neue Spuren, die nicht nur diese in den Fokus rücken sondern weitaus größere Dimensionen vermuten lassen.

Horst Eckerts Thriller zeichnen sich dadurch aus, dass neben der Frage nach dem Täter auch Themen aufgegriffen werden, die von politischer Relevanz sind. Wie so oft ist es auch in diesem Fall zum einen die Kluft zwischen Arm und Reich, Macht und Ohnmacht, verkörpert durch einen Ex-Soldaten mit PTBS, der nach der Entlassung aus dem Dienst voller Hass ist und Rückhalt in dubiosen sozialen Netzwerken findet. Zum anderen sind es auch die skrupellosen Geschäfte einer Immobiliengesellschaft (Gentrifizierung, Zwangsräumung etc.), ihren Einfluss auf die Politik und die Frage danach, inwieweit die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen toleriert werden sollte. Und natürlich sind auch korrupte Polizisten, die in die eigene Tasche wirtschaften und der Verfassungsschutz mit seinen schmutzigen Tricks wieder mit von der Partie.

112 Einzelkapitel, verteilt auf 443 Seiten, generieren von Beginn an hohes Tempo, und die unterschiedlichen Handlungsstränge, in denen jeweils die Perspektiven der verschiedenen Personen ausgeleuchtet werden, sorgen dafür, dass das Interesse des Lesers gefesselt wird. Dazu noch, wohldosiert und ohne die eigentliche Handlung zu überlagern, Altbekanntes und Neues aus dem Privatleben der Protagonisten. Alles in allem eine sehr gute Mischung, die mich mit Spannung auf die Fortsetzung der Reihe warten lässt.

Bewertung vom 04.03.2021
Montecrypto
Hillenbrand, Tom

Montecrypto


ausgezeichnet

Ein Finanzthriller über Währungen, die die meisten von uns höchstens aus den Meldungen der Nachrichtensender kennen? Langweilig und uninteressant, oder? Könnte man annehmen, aber definitiv nicht zutreffend, wenn sich ein Autor wie Tom Hillenbrand der Thematik annimmt.

Der schillernden Start-up-Unternehmer Greg Hollister kommt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Halbschwester Jackie, die einzige lebende Verwandte, ist seine Erbin. Aber es gibt ein Problem, denn Hollister hat sein Vermögen weder in Gold noch Beton, sondern in Kryptowährungen angelegt. Und da sie weder Ort noch Zugangsdaten kennt, engagiert sie Ed Dante, seines Zeichens Ex-Banker und mittlerweile Privatdetektiv, der ihr durch seine Erfahrung im Finanzwesen Zugang zu dem Erbe verschaffen soll. Womit aber beide nicht gerechnet haben, sind kryptische Videos, die nach Hollisters Tod in Umlauf gebracht werden und die Bitcoin-Schürfer in helle Aufregung versetzen. Lassen sie doch die Vermutung zu, dass es sich bei dem Vermögen um eine riesige Summe handelt, die derjenige erhalten soll, der die Rätsel knackt. Und plötzlich sind nicht nur sie und der Privatdetektiv, sondern auch das FBI und ausländische Geheimdienste dem Schatz auf der Spur.

Blockchains, Fiatgeld, Bitcoins, Shitcoins und wie sie alle heißen, die Bezeichnungen sind anfangs etwas verwirrend. Vor allem dann, wenn man sich mit der Thematik Kryptowährung noch nicht auseinandergesetzt hat. Aber keine Angst, der Autor verpackt all diese Informationen in eine rasante und raffinierte Story, gewürzt mit der ihm eigenen Ironie. Auf der Jagd nach dem Schatz nimmt uns Hillenbrand auf einer Schnitzeljagd zu den wichtigen Finanzplätzen der Welt mit. USA, Deutschland und Schweiz, überall gibt es Verwicklungen, die die Story durch neue Aspekte vorantreiben und uns so häppchenweise mit höchst interessanten Informationen versorgen und in diese Welt der digitalen Zahlungsmittel einführen. Ein sowohl spannender als auch unterhaltsamer Thriller, der Wissen mehrt und klüger macht.

Bewertung vom 03.03.2021
Rattenkönig
Engman, Pascal

Rattenkönig


ausgezeichnet

Ein „Rattenkönig“ ist ein Knäuel Ratten, miteinander an ihren Schwänzen verbunden, der das einzelne Tier daran hindert, sich individuell zu bewegen. Der Ausdruck steht hier für die Incels, unfreiwillig zolibatär lebende Männer, die aber von ihrer dominanten sozialen Position überzeugt sind und ihren Frauenhass samt Gewaltfantasien überwiegend in Internetforen ausleben. Ursprünglich eine aus den Vereinigten Staaten kommende Bewegung, deren Anhänger aber mittlerweile weltweit vernetzt sind. So auch in Schweden, und deshalb eines der Themen in Pascal Engmans Fortsetzung der Vanessa Frank-Reihe.

Eine junge Frau plant ihren momentan im Gefängnis einsitzenden Partner zu verlassen. Nachdem dieser Freigang hatte, wird sie erstochen aufgefunden. Vanessa Frank wird misstrauisch, denn sämtliche Spuren am Tatort deuten auf den Ex-Freund hin. Und offenbar hat sie den richtigen Riecher, denn es werden weitere Frauen nach dem gleichen Modus operandi getötet, die nicht mit dem Häftling in Verbindung gebracht werden können. Unterstützt wird sie bei ihren Ermittlungen, wie bereits in dem Vorgänger „Feuerland“, von dem ehemaligen Elite-Soldaten Nicolas Paredes.

Engman hat ein Gespür für gesellschaftlich relevante Themen. Was auf den ersten Blick wie der übliche Frauen-werden-von-gestörten-Tätern-ermordet Thriller aussieht, ist wesentlich mehr, denn hier geht es auch um die strukturelle Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen. Dies wird insbesondere am Beispiel der jungen Nachwuchsjournalistin Jasmina Kovac deutlich, die sowohl physisch als auch psychisch nicht nur im Job missbraucht wird. Aber auch die zwölfjährige Celine aus Paredes‘ Nachbarwohnung, ein vernachlässigtes Mädchen, das sich mit Nicolas angefreundet hat, und deren Vater ein höchst verantwortungsloser Zeitgenosse ist, passt in dieses Schema.

Die Handlung wechselt kapitelweise zwischen den Perspektiven der verschiedenen Personen, wobei die Handlungsstränge zu Beginn parallel laufen, sich aber im Verlauf des Thrillers immer mehr annähern und schließlich kreuzen, bis sie in einem Showdown enden, der so nicht vorauszusehen ist.

Engman zeigt einmal mehr, dass sich ein schwedischer Thriller nicht in der bei vielen Autoren des Landes so beliebten Melancholie suhlen muss, sondern auch mit Tempo und einer vielschichtigen Story punkten kann.

Bewertung vom 02.03.2021
Das Verschwinden der Erde
Phillips, Julia

Das Verschwinden der Erde


gut

Kamtschatka, die Halbinsel im hintersten Südosten Russlands, war für mich bisher ein weißer Fleck auf der Landkarte. Diese Leerstelle füllt Julia Phillips mit „Das Verschwinden der Erde“, nominiert für den National Book Award und auf der Bestenliste 2019 der New York Times. Der Roman wird als literarischer Thriller beworben, aber das ist Segeln unter falscher Flagge und erfüllt die Erwartungen des Lesers/der Leserin nicht. Literarisch möchte ich ihm nicht absprechen, aber für einen Thriller braucht es definitiv mehr als das Verschwinden zweier Mädchen, zumal dieses Thema im Handlungsverlauf eher an den Rand rückt.

Seine Stärken hat der Roman in den atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen: Petropawlowsk, die farblose Metropole. Die Tundra, menschenleer und von unglaublicher Weite. Die Wälder, dunkel und dicht. Die schneebedeckten Vulkane, die in die Landschaft ragen.

Der Roman ist in 13 Kapitel gegliedert, mit dem jeweiligen Monat von August bis Juli plus der Silvesternacht des folgenden Jahres bezeichnet, startend mit dem Tag der Entführung. In jedem dieser Abschnitte steht eine andere Frau im Mittelpunkt, deren Leben äußerst locker, direkt oder indirekt, mit diesem tragischen Ereignis verknüpft ist. Die Autorin betrachtet deren Leben in einer männlich dominierten Welt, jedes davon durch ein mehr oder minder tragisches Ereignis beschädigt, und entwickelt so aus den Einzelschicksalen das Panorama einer uns fremden Gesellschaft.

Wenn wir über männliche Dominanz sprechen, ist natürlich das Thema Gewalt und wie diese das Zusammenleben der Menschen beeinflusst und prägt ein weiterer Faktor. Hier hat Phillips nicht nur das Verhältnis Mann/Frau im Blick, sondern schaut auch auf den Umgang der Russen mit der indigenen Bevölkerung in der Region. Bei all dem geht sie nicht in die Tiefe, kratzt nur an der Oberfläche, was unter dem Strich den Roman für mich zu einem unbefriedigenden Leseerlebnis macht.

Bewertung vom 28.02.2021
Die Verlorenen
Halls, Stacey

Die Verlorenen


weniger gut

Stacey Halls „Die Verlorenen“ ist ein historischer Schmöker, geschrieben für Leserinnen und nimmt diese mit auf eine Reise in die Vergangenheit. Wir schreiben das Jahr 1747, Handlungsort ist London. Die junge Bess Bright ist bettelarm und bestreitet ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Krabben in den Straßen der Metropole. Eine ungewollte Schwangerschaft bringt sie in arge Bedrängnis, reicht das, was sie durch ihre Arbeit erlöst, nicht dafür aus, noch einen hungrigen Mund zu stopfen. Und so bleibt ihr nichts anderes übrig, das Neugeboren in einem Findelhaus abzugeben, ein Umstand, der sie tagtäglich schmerzhaft verfolgt.

Sechs Jahre sind vergangen, und Bess ist endlich in der Lage, den Betrag für die Unterbringung aufzubringen und somit das Kind wieder auszulösen. Doch sie kommt zu spät, das Mädchen wurde bereits einen Tag nach der Übergabe vor sechs Jahren von jemandem abgeholt, dessen Identität nicht bekannt ist. Aber Bess gibt ihre Tochter nicht auf und macht sich auf die Suche nach ihrem Kind.

Stacey Halls Romane werden mit Hilary Mantels Cromwell-Trilogie verglichen, wofür diese zweimal mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde. Ja, sie wurde sogar als deren Nachfolgerin im bezeichnet. Dieser Meinung kann ich mich leider nicht anschließen, zwischen Hall und Mantel klaffen Welten. Nicht nur, dass hier die atmosphärischen Schilderungen jedem Kostümfilm zur Ehre gereichen, auch das Handeln der Personen ist eindimensional und erfüllt jedes Klischee. Der Roman ist eine Schnulze, trieft vor Emotion und hebt den Mythos Mutterliebe in ungeahnte Höhen. Eine Enttäuschung auf ganzer Linie!

Bewertung vom 28.02.2021
Der Libanese / Frank Bosman Bd.1
Murath, Clemens

Der Libanese / Frank Bosman Bd.1


ausgezeichnet

Clan-Kriminalität ist ein Thema, das in der deutschen Spannungsliteratur deutlich unterrepräsentiert ist, obwohl diese Form der organisierten Kriminalität mittlerweile auch im deutschen Alltag angekommen ist. Zentren dieser hierarchisch organisierten und ethnisch abgeschotteten Parallelgesellschaften sind aktuell Berlin und Bremen, die Wurzeln der Clanfamilien sind überwiegend im Nahen Osten zu finden.

Clemens Muraths „Libanese“ ist Arslan Aziz, ein erfolgreicher Geschäftsmann, der sich auch auf dem gesellschaftlichen Parkett sicher bewegt und die richtigen Verbindungen hat. Mit seinem Bruder Tarik und zahlreichen Helfern kontrolliert er nicht nur die Berliner Drogenszene, sondern mehrt auch mit Schutzgelderpressung und Prostitution das Vermögen der Familie. Gewaschen wird das Geld in seiner Immobiliengesellschaft, deren neuestes Projekt der Bau einer großen Shopping Mall ist. Er ist der Denker und Stratege, der Kopf des Clans. Sein Bruder hingegen ist ein impulsiver Gewalttäter, dessen unüberlegtes Verhalten immer wieder Probleme schafft und der auch vor der Ermordung eines Konkurrenten in aller Öffentlichkeit nicht zurückschreckt.

Auf Seiten des Berliner LKA steht „Shooter“ Frank Bosman, der seine Truppe eher unkonventionell führt, seit er mit seinem Kollegen Schuster im Kosovo als Polizeiausbilder für die EULEX tätig war und seither einen etwas anderen Blick auf seine Arbeit hat. Er tut, was getan werden muss, hat keine Skrupel, im Kiez kommt man mit Samthandschuhen nicht weit. Sein moralischer Kompass scheint außer Betrieb. Informanten werden bezahlt, mit Cash oder Drogen, die im Einsatz beschlagnahmt wurden. Aber er weiß auch, wer in seinem Revier auf Hilfe angewiesen ist, steckt schonmal einer alleinerziehenden Mutter Geld für die Klassenfahrt ihres Sohnes zu und unterstützt eine private Tafel mit großzügigen Geldspenden. Sein Vorgesetzter? Nicht ahnungslos, aber hält die Füße still, könnte ja hinderlich für seine Ambitionen sein. Und letztendlich zählt nur der Erfolg, nicht der Weg dorthin. Und der gibt dem Shooter recht.

Clemens Murath ist Drehbuchschreiber, weiß also, wie man eine spannende Geschichte plottet. Seine Milieuschilderungen sind großartig, aber auch das Personal hat einiges zu bieten. Der Filme machende Schwager, der mit 200.000 Euro bei Tarik in der Kreide steht, der korrupte Banker, der Arslans Konten frisiert, die junge Augenzeugin, die ihre devoten Neigungen entdeckt und noch einige mehr. Daraus ergeben sich zahlreiche Nebenhandlungen, die jede für sich einen Blick wert und für das hohe Tempo verantwortlich sind. Ein rauer Thriller, der nicht mit Gewaltdarstellungen geizt, die Sprache oft rotzig und deshalb dem Milieu angemessen, die Dialoge geprägt von schwarzem Humor. Hat etwas von Pulp Fiction, und könnte locker verfilmt werden. Ein Reihenauftakt nach Maß, der mich ungeduldig auf die Fortsetzung warten lässt.

Bewertung vom 26.02.2021
Frostmond
Buchholz, Frauke

Frostmond


ausgezeichnet

Die verweste Leiche einer jungen Frau wird am Urban Beach in Montreal angespült. Die Obduktion ergibt, dass sie indianischer Herkunft ist. Die zuständige Sûreté du Québec sieht sich immer wieder mit der Unterstellung konfrontiert, bei indigenen Opfern schlampig und ohne Nachdruck zu ermitteln. Ein Vorwurf, der nicht von der Hand zu weisen ist, denn auch in den Fällen der ermordeten Indianerinnen entlang des Transcanada-Highways, der wegen dieser Morde von Interessenverbänden der First Nations auch als „Highway of tears“ bezeichnet wird, konnte bislang kein Schuldiger dingfest gemacht werden. Deshalb bekommen sie Ted Garner, einen Profiler aus Regina, Saskatchewan zugeteilt, der sie für die Thematik sensibilisieren und bei ihren Ermittlungen unterstützen soll. Er bildet ein Zweierteam mit Jean-Baptiste LeRoux, und Zusammenarbeit der beiden führt - natürlich – zum Erfolg. Der Highway-Mörder wird dank Ermittlungsarbeit überführt, bei der Entlarvung des Mörders der jungen Indianerin hingegen kommt ihnen der Zufall zu Hilfe und offenbart schockierende Details über deren Leben und Sterben in der großen Stadt.

Es sind drei, eigentlich nur zwei Perspektiven, die diesen Kriminalroman prägen. Zum einen die „weiß-kanadische“ des Ermittlerteams LeRoux/Garner, zum anderen die Indigene von Leon Maskisin, Cousin des getöteten Cree-Mädchens, wobei diese unbestreitbar die Interessantere ist.

LeRoux ist mehr mit sich selbst und seinen außerehelichen Liebschaften beschäftigt, als sich um die Ermittlung zu kümmern. Garner mag wohl fähig sein, gefällt sich aber meiner Meinung nach zu sehr in der Rolle des Schopenhauer lesenden Intellektuellen, der mit jeder Menge Zitate LeRoux‘ Angetraute beeindrucken will. Sinn und Zweck in diesem Krimi erschließt sich mir jedenfalls nicht. Teamarbeit findet nur teilweise statt, im Großen und Ganzen macht jeder sein eigenes Ding. Beiden gemein ist jedoch die typisch weiße Überheblichkeit.

Maskisin hingegen lebt das traditionelle Leben der Cree, orientiert sich an den Werten, die ihm sein Großvater beigebracht hat. Er reinigt Körper und Geist in der Schwitzhütte, legt Fallen aus, in denen er Pelztiere fängt, und lebt von dem Erlös der Häute. Und er setzt alles daran, den Tod seiner Cousine zu rächen.

Wenn eine deutsche Autorin einen Roman schreibt, in dem Kultur und Leben der Indigenen Thema sind, bin ich zuerst einmal skeptisch, denn noch immer geistert in vielen dieser Machwerke (meist aus der Schnulzenecke) das über Jahrzehnte vermittelte Bild des Naturburschen herum, der mit wehenden Haaren spärlich bekleidet über die Prärie reitet.

Die Sorge ist bei Frauke Buchholz unberechtigt, hat sie doch im Zuge ihres Studiums quasi Feldforschung in diversen Reservaten betrieben sowie auch einige Zeit in einem Cree-Reservat in Kanada verbracht und sich dort umfassend über deren Kultur und Lebensbedingungen informiert. Und so ist es kein Zufall, dass ausgerechnet diese „First Nation“ im Zentrum ihres authentischen Kriminalromans „Frostmond“ steht, den ich an dieser Stelle all jenen empfehle, die sich für die indigenen Völker Kanadas und der Vereinigten Staaten interessieren.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.02.2021
Von allem nur das Beste / Wunderfrauen-Trilogie Bd.2
Schuster, Stephanie

Von allem nur das Beste / Wunderfrauen-Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Stephanie Schuster schreibt die Geschichte der vier Freundinnen fort und nimmt uns mit auf eine Zeitreise in die sechziger Jahre.

Allmählich verändert sich das Leben in Deutschland, die Schwere der Nachkriegsjahre weicht allmählich der Lockerheit, mit der sich die Swinging Sixties auch in Deutschland ankündigen. Auf den Tanzflächen haben Walzer und Foxtrott ausgedient, Rock’n’Roll verkörpert das neue Lebensgefühl.

Und auch in Starnberg gibt es Veränderung: Luises Geschäfte gehen gut, Helga hat mittlerweile ihr Medizinstudium in München abgeschlossen und kehrt mit ihrem Sohn David nach Starnberg zurück, um eine Stelle als Frauenärztin in der Klinik am See anzutreten, Marie hat mit ihren drei Kindern und der Arbeit auf dem Hof kaum noch Zeit zum Atmen und Annabels Neugeborenes setzt in ihr ungeahnte Kräfte frei.

Wie bereits in dem Vorgänger punktet die Autorin in den Schilderungen des täglichen Lebens ihrer Protagonisten nicht nur mit jeder Menge Zeitkolorit, sondern zeigt auch deren allmähliches „Erwachen“. Auch wenn sich die Gesetzgebung noch längst nicht den gesellschaftlichen Veränderungen stellt, kleine Schritte hin zu einem gleichberechtigteren Umgang der Geschlechter sind bereits zu erkennen. Fast hat man das Gefühl, als ob die Frauen allmählich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Aber auch Themen, die die Gesamtgesellschaft betreffen, erhalten Raum, wie beispielweise die Contergan-Affäre, die Verfügbarkeit einer Pille zur Geburtenkontrolle, das neue Lebensgefühl der Jugend, das sich in der Flower Power Bewegung Bahn bricht, aber natürlich auch in ersten Demonstrationen gegen das Establishment zeigt.

Ein gelungener und höchst unterhaltsamer Ausflug in die Vergangenheit, in dem - gewollt oder ungewollt – auch ein kleiner Seitenhieb auf unsere aktuelle Situation versteckt ist: „Alles, was mit C begann, war gefährlich, Cholera, Cholesterin. Mal sehen, was die Zukunft noch Schlimmes mit C hervorbrachte.“ (S. 267)