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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Maggie und die Stadt der Diebe
Hertweck, Patrick

Maggie und die Stadt der Diebe


sehr gut

Maggie konnte ihren Entführern unerwartet entkommen und findet sich im Lower Manhattan des 19. Jahrhunderts wieder. Die 13-Jährige hat zuvor in einem Waisenhaus gelebt; an ihr Leben vor dieser Zeit kann sie sich nicht mehr erinnern. Maggie fragt sich, ob ihre Entführer sie mit einem Kind wohlhabender Eltern verwechselt haben könnten; denn Lösegeld kann man für eine Waise sicher nicht erpressen. An den Ufern des Hudsons arbeiten Banden von Entführern mit Flusspiraten zusammen. In der Bowery sind die Straßen damals noch unbefestigt. Fußgänger müssen sich durch stinkende Abfälle und die Pferdeäpfel der Kutschpferde kämpfen; Bettler und Lumpensammler schieben sich durch überwältigende Menschenmassen. Maggie hört vom Bowery Boy raunen, einem Bösewicht, mit dessen Namen man Kinder ängstigt, und weitere Namen, mit denen sie zunächst nichts verbindet. Schließlich wird Maggie von einer Kinderbande aufgenommen, die sich The 40 Thieves nennt, auch wenn sie nur aus vier Mitgliedern besteht. Ohne ihre Ersatzfamilie aus Coffee, Bismarck, Silence und Tom hätte Maggie in Five Points, dem Revier rivalisierender Straßenbanden, keine Überlebenschance. Mary wird zu „Wildcat Mag“ und hat sich wie die anderen jugendlichen Taschendiebe Goblin, dem erwachsenen Boss unterzuordnen. Das zwergenhafte Wesen in Pluderhose und Schnallenschuhen scheint direkt aus einem Piratenabenteuer gestiegen zu sein. Die Bande interessiert sich u. a. für einen Unbekannten, der unter dem Namen eines Toten auf eigene Faust dem Verbrechen in der Stadt und der korrupten Polizei den Kampf angesagt hat. Von der Suche nach der Verknüpfung zwischen den vielen Namen und Gerüchten fühlt man sich als Leser zu Beginn ähnlich überwältigt wie Maggie.

Maggies Suche nach ihrer Herkunft, das Geheimnis um Albert Hicks und die Erlebnisse der Kinderbande ergeben eine spannende Abenteuergeschichte vor dem Hintergrund des historischen Lower Manhattan. „Maggie und die Stadt der Diebe“ war für mich kein Buch, bei dem die Seiten nur so vorbeifliegen, weil mir einerseits ein durchgehender Spannungsbogen fehlte, der die einzelnen Handlungsfäden verbindet, und weil der Text für ein Kinderbuch einige sprachliche Unschärfen aufweist, die jugendlichen Lesern besser aus dem Weg geräumt werden sollten. Der Wortschatz wirkt für ein Kinderabenteuer etwas zu anspruchsvoll und nicht ganz kitschfrei.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.01.2017
Gehe hin, stelle einen Wächter
Lee, Harper

Gehe hin, stelle einen Wächter


sehr gut

Scout, die kleine Jean Louise Finch aus Wer die Nachtigall stört, ist zurück in Maycomb/Alabama. Die junge Frau lebte und studierte in New York und sieht sich im Ort ihrer Kindheit einem sichtbar ergrauten und gealterten Vater gegenüber. Atticus Finch hatte in den 1930ern seine beiden Kinder allein erzogen mit Hilfe einer schwarzen Haushälterin und seiner Schwester. Jean Louise wirkt bei diesem Besuch wie ein aus dem Nest geschubster Jungvogel, der noch nicht wahrhaben will, dass es kein Zurück mehr in die Zeit der Kindheit gibt. Nachdem Atticus den Tod seines Sohnes erleben musste, hat er eine enge Beziehung entwickelt zum Freund dieses Sohnes, Henry, den er gern als Nachfolger in seiner Anwaltskanzlei sehen würde. Louise, unvergesslich als rebellische Latzhosenträgerin, wuchs nur unter Jungen auf, ihrem Bruder, Henry und Dill (d. i. die Figur, für die Harper Lees Jugendfreund Truman Capote Modell stand). - Louise klagt darüber, dass sie nicht genug aus Maycomb erfährt, weil niemand ihr ausführlich nach New York schreibt. Es ist erschreckend, von wie vielen für den Ort aktuellen Themen sie völlig ahnungslos ist (z. B. dem Strukturwandel von der Sklaverei zur Fabrikarbeit). Tante Alexandra, eine Verkörperung der Tante an sich, sorgt sich wie eh und je, was die Leute über die unverändert in Hosen gekleidete Jean Luise denken werden. Alexandra hat keine eigenen Ansichten, sie vertritt die Standpunkte Maycombs, wo jeder jeden kennt und alle irgendwie miteinander verwandt sind. Mit Tante Alexandra, die sich seinerzeit mit ihren Disziplinierungsversuchen zwischen Jean Louise und ihren Vater gedrängt hatte, kann die junge Frau nur klarkommen, wenn zwischen ihnen ein halber Kontinent liegt. Alexandra stellt in beiden Romanen Harper Lees eine starke Figur dar. Im ersten Band steht Alexandra mit ihren Bändigungsversuchen für das Ende von Louises ungezwungener Kindheit und die ihr aufgezwungene Frauenrolle. Ein Rückblick in diesem Buch auf Louises erste Menstruation zeigt ihren Kampf gegen die ungeliebte Rolle als Frau noch einmal eindringlich. - Ob die betagte Harper Lee ihren Roman tatsächlich in dieser Form veröffentlicht sehen wollte, scheint noch ungeklärt. Zunächst stellt die Geschichte Vertrautheit mit Jean Louises Kindheitserlebnissen her. Zu einer mit Lees Welterfolg vergleichbaren Faszination fehlen diesem Roman m. A. die überzeugende Perspektive eines Kindes (dort als Beobachter eines Gerichtsverfahrens) und das Bangen der Leser um das Schicksal des Angeklagten. Atticus politischer Standpunkt, seine Aktivität im Bürgerrat des Ortes und Louises Enttäuschung über die Wandlung des Helden ihrer Kindheit waren für mich zunächst schwer nachvollziehbar. Die Aussprache zwischen Vater und Tochter zu Atticus politischem Standpunkt fand erst sehr spät im Buch statt.. Als die Bürgerrechtsbewegung in den USA und die NACCP noch in aller Munde waren, wäre mir dieser Teil des Romans vermutlich leichter zugänglich gewesen. - Harper Lees Romane als Ganzes gesehen ragen für mich als humorvolle, einfühlsame Entwicklungsgeschichte eines mutterlos aufwachsenden Mädchens heraus. Im ersten Roman musste Jean Louise die Stufe zur Frau überwinden, im "Wächter" muss sie sich mit dem Ende ihrer Kindheit und dem Altern ihres Vaters abfinden. "Wer die Nachtigall stört" habe ich erst vor kurzem neu gelesen, anschließend Alexandra Lavizzaris sehr gute Biografie über Harper Lee und Truman Capote Glanz und Schatten: Truman Capote und Harper Lee - eine Freundschaft. Mit dieser Einstimmung vervollständigt "Gehe hin, stelle einen Wächter" (der Wächter steht symbolisch für das Gewissen) nun ein Gesamtbild der 30er und 50er Jahre in Alabama. Die Handlung des ersten Bandes sollte Lesern dieses Buches jedoch vertraut sein.

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Bewertung vom 04.01.2017
Lärm und Wälder
Guse, Juan S.

Lärm und Wälder


ausgezeichnet

Ein nicht verschlossenes Garagentor wird in Nordelta, der Gated Community nördlich von Buenos Aires, als Unruheherd betrachtet. Der Sicherheitsdienst des straff organisierten Nobelviertels wird den Verursacher ermahnen. In Nordelta lebt Hector mit seiner Frau Pelusa und zwei Söhnen. Der Klimawandel hat die Natur merkbar verändert, größere Wasserflächen bieten mehr Fischen Lebensraum, der Fischbestand kann mehr Vögel als zuvor ernähren. In den oberen Stockwerken mancher Hochhäuser von Buenos Aires nisten bereits Papageien, nachdem die Bewohner die Stadt verlassen haben. Pelusa und einer der Jungen tragen sichtbare Narben eines Lebens außerhalb der Mauern. Sonderbar wirkt auf den unbeteiligten Leser allein, warum man sich in Nordelta sicherer fühlen sollte als anderswo, wenn Hector, wie alle Berufstätigen, auf dem Weg zur Arbeit Stadtviertel durchqueren muss, in denen Überfälle, Plünderungen und Polizistenmorde an der Tagesordnung sind. Auch Anita, das Hausmädchen, kommt täglich von 'draußen' und hofft, das Militär würde endlich für Ordnung sorgen. Ohne seinen Freund und Informanten Alvaro, der Auslöser des Umzugs nach Nordelta war, kann man sich Hector in dieser gekünstelten Umgebung nur schwer als lebensfähig vorstellen. Mit seinem Drang, körperlich zu arbeiten und sein Grundstück selbst in Ordnung zu halten, wird Hector hier bald anecken.

Ein Trappistenmönch, der Einlass begehrt in die längst nicht mehr sichere Welt von Pelusas Familie, wird zu einem der Katalysatoren in Guses dystopischem Szenario. Pelusa hat sich lange schon ausgeklinkt, indem sie mit einer Freikirche sympathisiert, die das Land von den USA aus missioniert. Der zehnjährige Henny lebt in seiner sonderbaren eigenen Welt; er wird zur realen Gefahr in der Eskalation der gegenseitigen Abschottung. Ignacio, der durch seine Berufstätigkeit bis dahin so normal wirkende Familienvater, bereitet sich als 'Prepper' auf die nahende Apokalypse vor. Der Wechsel in der Erzählperspektive, der Ignacio selbst von seinem Projekt erzählen lässt, gibt Guses verstörendem Erstling über das Zerfasern einer oberflächlich geordneten Welt zusätzlichen Anschub. Der Autor demonstriert mir als Leser Gefahr, die in meinem eigenen Kopf lauert. Auch wenn ich mir zum Ende des Romans weniger ausgefeilte Beobachtung und etwas mehr Dynamik in der Handlung gewünscht hätte, empfehle ich diesen utopischen Roman gern.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Bilder meiner Mutter
Wackwitz, Stephan

Die Bilder meiner Mutter


ausgezeichnet

Stephan Wackwitz Mutter Margot ist Jahrgang 1920 und gehört damit zu der Generation, die als Jugendliche vom Nationalsozialismus geprägt wurden und als Mütter die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge erzogen. Margot Wackwitz ist eines der 'Kriegskinder', das an der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit ihres Vaters litt. Vermutlich lebten in keiner späteren Generationenfolge Eltern und Kinder in so verschiedenen Welten wie die 1920 und die 1950 Geborenen. Wackwitz Mutter hinterlässt ein Tagebuch, mit dem sie in den letzten beiden Jahren vor ihrem Tod ihr verrinnendes Leben festhielt, ihre Briefe an den erwachsenen Sohn und eine bemerkenswerte Sammlung von Zeichnungen. Margot Wackwitz ragt aus ihrer Generation durch ihre Herkunft aus wohlhabender schwäbischer Industriellenfamilie heraus, die ihr von 1936 an eine Ausbildung als Modezeichnerin ermöglichte. Die Ausbildung einer Tochter in einer fremden Stadt, hier an der Berliner Frauen-Kunstakademie Lette-Haus, hätte sich eine Durchschnittsfamilie damals nicht leisten können. In den 30ern wurden Mädchen Köchin, Kinderpflegerin, Büroangestellte. Eine Berufsausbildung sollte damals möglichst schnell Geld in die Familienkasse bringen, und Geschwister sollten in ihren Chancen auf eine Ausbildung nicht benachteiligt werden. Modezeichnerin war noch in den 60ern der Traumberuf kleiner Mädchen, auch wenn die Modezeichnung in Illustrierten zu dem Zeitpunkt schon durch die Modefotografie abgelöst worden war. - Charakteristisch verläuft Margot Wackwitz Lebenslauf, als sie nach Kriegsende und Heirat nicht mehr als selbstständige Modedesignerin den größeren Teil des Familieneinkommens beisteuert. Sie wird zur Assistentin ihres Mannes, der eines der ersten Goethe-Institute in Deutschland leitet. Die 'mithelfende Ehegattin' war ein damals ein verbreiteter Lebensentwurf für Frauen, oft mit fatalen Folgen für deren Alterssicherung. Nicht dass Margot Wackwitz berufstätig war, sondern in welcher Position sie arbeitete, entschied in ihren mittleren Jahren vermutlich über ihr Lebensglück. Der Chronist dieses Frauenlebens hat die entscheidenden Impulse für sein eigenes schöpferisches Leben nicht von Vater oder Großvater erhalten, sondern von seiner Mutter. Die wiederum sieht im Sohn die Fortsetzung ihrer abrupt beendeten künstlerischen Möglichkeiten. - Wackwitz Erforschung eines für die Kriegs- und Nachkriegszeit ungewöhnlichen Frauenlebens gibt Lesern der Gegenwart einen höchst interessanten Einblick in das Frauenbild der 50er und 60er, speziell auch in das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Wackwitz hält sich einerseits stark zurück mit Kindheitserinnerungen seiner Mutter, die sie ihm selbst erzählt haben könnte; stärker vertieft er sich in die hinterlassenen Dokumente, die Psychoanalyse des Mutter-Sohn-Verhältnisses an sich und in literarische Vorbilder (wie z. B. Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen) und zieht Parallelen zu Lebenserinnerungen von Zeitgenossinnen. Gerade weil in den 50ern Kinder in den ersten Lebensjahren weit stärker von ihren Müttern geprägt wurden als die heutige Generation, fand ich die Distanz zwischen Mutter und Sohn streckenweise befremdlich, die für mich durch die intensive Nutzung literarischer Quellen spürbar wurde. Interessant wäre, ob es aus der Perspektive von Töchtern weniger weiße Flecken in den Biografien der Mütter geben würde. - Margot Wackwitz im Buch abgedruckte (teils farbige) Original-Zeichnungen erinnern an einen Frauenberuf, der in der beschriebenen Form schon vor längerer Zeit sang- und klanglos von der Bildfläche verschwand. Ein Buch über Ausbruch, Aufgabe und spätere Sinnsuche, bei dem für meinen Geschmack die Person des Autors stärker hinter die Persönlichkeit der Mutter hätte zurücktreten sollen.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Geheimnisse der Welt
O'Donnell, Lisa

Die Geheimnisse der Welt


ausgezeichnet

Zu Jahresbeginn 1983 wird Michael Murray 12 Jahre alt. Michael pubertiert zwischen Kindsein und Heranwachsen, er weiß noch nicht, ob er Mädchen faszinierend oder abstoßend finden soll. Es ist das Jahr, nachdem der Eurovision Song Contest zum Groll der Briten und Schotten mit "Ein bisschen Frieden" gewonnen wurde und Jungen ein Rad mit Bananensattel und Fransen an den Griffen geschenkt bekommen. Es ist auch die Zeit, in der Kinder aus dem Zimmer geschickt werden, wenn Erwachsene sich über Dinge unterhalten, die sie ungeeignet für Kinderohren finden. Schlimm wird es erst, wenn Kinder nicht mehr aus dem Raum geschickt werden, weil die Erwachsenen deren Anwesenheit im Eifer nicht bemerken. Wie vermutlich alle andere Kinder auf der kleinen schottischen Insel im Firth of Clyde an der Küste vor Glasgow versucht Michael, sich zurück zu schleichen und hinter die Geheimnisse zu kommen. In seiner Familie köcheln diverse Konflikte unter der Oberfläche, ausgelöst durch Arbeitslosigkeit, persönliche Schicksalsschläge und dörfliche Moral.

Obwohl Michaels Mutter sich wunderbarerweise im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Schwiegermutter sehr gut versteht, wird über die Arbeitslosigkeit des Vaters gestritten, über die Thatcher-Politik und darüber, wie katholisch ein Kind sein kann, dessen Mutter Protestantin ist. In dieser Situation der Sprachlosigkeit wird Michaels Mutter abends im dunklen Park überfallen und deutlich sichtbar verletzt. Was wirklich vorgefallen ist, wird Michael eisern verschwiegen, obwohl die unausgesprochene Angst der Erwachsenen vor dem großen Unbekannten nicht zu übersehen ist. Aus Angst vor dem Dorftratsch will die Mutter die Tat auf keinen Fall bei der Polizei anzeigen. Wie man sich leicht vorstellen kann, bringt sie damit ihren Mann, der gern mal tief ins Glas schaut, in eine peinliche Situation. Durch ihr Schweigen verhindert sie außerdem, dass mögliche weitere Opfer des Täters gewarnt werden. Selbst ein Gespräch zwischen Vater und Sohn kann Michaels Problem nicht lösen, weil die Fakten noch immer nicht auf den Tisch kommen.

Die Ereignisse in der Folge einer Gewalttat werden konsequent aus der Sicht eines Elfjährigen erzählt, dessen Sprache aus heutiger Sicht sehr naiv wirkt. Wie hätte sie zu der Zeit auch anders sein können, wenn Kinder entweder im Lexikon zwischen aufgeschnappten Reizwörtern hin und her blättern oder ihr Halbwissen miteinander vergleichen konnten. Michael spricht zwar wie ein viel jünger wirkendes Kind, aber seine Schlussfolgerungen sind alles andere als naiv. Am Ende überwindet seine Mutter Angst und Scham, Michael erfährt Dinge, vor denen seine Eltern ihn lieber bewahrt hätten - und die Sache mit den Mädchen stellt sich als nur halb so schlimm heraus.

Bewertung vom 04.01.2017
Greenwash, Inc.
Flender, Karl Wolfgang

Greenwash, Inc.


ausgezeichnet

Als Greenwash Inc trägt jemand in einem albernen Moment die betriebsinterne Laufgruppe der Agentur Mars und Jung ein. Thomas Hessels Arbeitgeber organisiert weltweit Image-Kampagnen für Unternehmen und übernimmt die kommunikative Bewältigung, falls Firmen-Images in die Krise geraten. In dieser Welt ist alles erlaubt, solange es mit 'schonend' oder 'nachhaltig' verschlagwortet werden kann. Hessel war in einem anderen Leben Journalist. Der Schrumpfprozess der Printmedien hat Thomas aus seinem Beruf heraus- und in die Beratungsbranche gespült. Heute sind Journalisten eine seiner Zielgruppen, die er mit vorgeblich ökologisch korrekten Geschichtchen füttert. Seine Hopestorys sind universal einsetzbar, sie könnten ebenso gut einem Genmaisfabrikanten ein grünes Mäntelchen der Nachhaltigkeit verschaffen, wie den Interessen von Regenwaldschützern dienen. In erster Linie dienen sie dem Erhalt von Thomas Job. Wenn Thomas Armut als Video abliefert, ist seine Darstellung von Armut authentischer als die Armut selbst. Selbst Thomas Asthma ist Teil einer Kampagne seiner Agentur, der Mitarbeiter als Mensch. Wenn Thomas körperliche Schwäche nicht Realität wäre, wäre sie zumindest gut entwickelt.

Der ganze Mann wirkt alterslos. In seiner Branche gibt es offenbar nur eine Generation, die die aktuell zur Firma gehört. Drinnen oder draußen - das wird von Jens Mars, dem Boss, täglich neu entschieden. Ein Mars und Jung-Mitarbeiter hat sich mit dem Boss beim Kickerspielen zu messen, die Fitnesswerte seiner Angestellten werden Jens Mars per App geliefert. Wer seine Zugriffsrechte als Machtinsignien verliert oder wessen Spind geräumt wird, den degradiert das zu "Dingens", dessen Namen keine Erwähnung mehr wert ist. Thomas Hessel kämpft an allen Fronten gleichzeitig - um den Ruf des derzeitigen Klienten, die Anerkennung seines Chefs und gegen die alltäglichen Widrigkeiten in Ländern in Äquatornähe. Eine weitere Front hat sich gerade im Privaten aufgetan. Freundin Marina, der Thomas ein sorgenfreies Studium der Ethnologie ermöglichte, bewirbt sich ebenfalls in der Beratungsbranche und wird damit zur direkten Konkurrentin. Mit Kenntnissen über indigene Völker lassen sich kluge Reden schwingen, auch wenn die Ethnologin die Länder selbst nicht kennt, für die gerade Kampagnen gestrickt werden. Im täglichen Hamsterrad der Selbstoptimierung ist die Partnerbeziehung längst zur Rechengröße degradiert. Thomas sinnt darüber, ob ihm statt Marina nicht eine seinem gefühlten heutigen Status angemessene Frau zustehen würde. Im Zeitalter moderner Kommunikationsmittel lässt sich rund um die Uhr verfolgen, was Freund und Feind gerade treiben. Das Selfie wird zur Waffe im Rosenkrieg und im Kampf um den Platz auf der Hühnerleiter bei Mars und Jung.

Karl Wolfgang Flender schickt seinen Protagonisten in den brasilianischen Regenwald, an den Brandort in einer indischen Textilfabrik und in die weltweit größte und giftigste Halde von Elektronikschrott in Accra/Ghana. Damit demontiert er nicht nur vorgeblich ökologisch zertifiziertes Blendwerk, sondern auch seinen Helden. Der Witz bei der Sache ist es, dem Icherzähler Thomas Hessel bei seinen Selbsttäuschungen und Selbstinszenierungen auf die Schliche zu kommen. Jemand wie er würde schließlich für eine Kampagne auch seine Großmutter verkaufen. Trotz der Beschränkung auf die Perspektive des Icherzählers zwingt Thomas' Lavieren zwischen Schein und Wirklichkeit zum äußerst konzentrierten Lesen.

Bewertung vom 04.01.2017
Das zufällige Leben der Azalea Lewis
Ironmonger, John

Das zufällige Leben der Azalea Lewis


ausgezeichnet

Dass ein kleines Kind davonmarschiert und verlorengeht, für das ich verantwortlich bin, gehörte schon immer zu meinen Urängsten. Genau das passiert Azalea Ives auf einem Rummelplatz in Devon. Ihre roten Haare lassen vermuten, dass sie irischer Herkunft sein könnte. Das kleine Mädchen berichtet der Polizei, dass sie mit ihrer Mutter auf dem Weg zu ihrem Daddy war, der auf einem Boot lebt. Auch mit einiger Phantasie können die Polizisten keine Familie Ives finden. Später wird eine falsche Zeitungsmeldung über Azaleas Schicksal entscheiden. So kommt das Mädchen in eine Pflegefamilie und wird von den Folleys adoptiert, die mit ihr in einer anglikanischen Missionsschule in Uganda leben. Die Landkarte vorn im Buch weist darauf hin, dass Ereignisse in dieser Region eine Rolle in Azaleas Leben spielen werden. Den Namen Lewis erhält Azalea bei einer weiteren Adoption. Azalea wächst zu einer spröden, abenteuerlustigen Person heran, von der anzunehmen ist, dass auf tragische Weise ihre Wurzellosigkeit über ihr Leben entschieden hat. Dreißig Jahre später treffen in der Londoner U-Bahn Azalea und Thomas Post aufeinander, der an der Londoner Uni Philosophie lehrt und sich mit Zufällen befasst. Zufälle und Muster, auch die Magie von Daten, haben für Azalea eine besondere Bedeutung, darunter Wiederholungen von Kalenderdaten.

Azaleas Mutter Marion hat geglaubt, den Vater ihrer Tochter verheimlichen zu müssen. Wenn Azalea in ihrem Heimatort aufgewachsen wäre, wäre mit der Heimlichtuerei in dem Moment Schluss gewesen, in dem jemand die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter erkannt hätte. Doch durch den Zufall auf dem Rummelplatz muss Azalea mit ungeklärter Identität aufwachsen und sucht noch als Erwachsene Erklärungen in Zufallsmustern. In diesem Buch gibt es verschiedene Wahrheiten und verschiedene Versionen. Als Leser tappt man lange im Dunkeln, wohin der Erzähler einen auf seiner Rallye durch Azaleas Leben am Ende führen wird.

J. W. Ironmonger verknüpft mit skurrilem britischen Humor Handlungsfäden auf zwei Kontinenten und aus unterschiedlichen Zeiten zu einer warmherzigen Geschichte, die spannend wie ein Krimi wirkt. Sein Ton klingt selbst für die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts wundersam verschnörkelt. Ironmongers Themen sind das Recht darauf, über die eigene Herkunft informiert zu sein, aber auch die Missionstradition in Afrika und Bürgerkriege der Neuzeit. Die Missionsstation, an der draußen das Leben vorbeizieht, ist eines von Ironmongers wunderbaren Sprachbildern, das einen ahnen lässt, wie stark Afrika den Autor selbst und seine Figuren beeinflusst hat. Außer dem von Bürgerkriegen zerrissenen Afrika nehmen auch Ereignisse im Nordirland-Konflikt und der Falklandkrieg Einfluss auf die Handlung.

"Das zufällige Leben der Azalea Lewis" erscheint in einer Young Adult-Reihe für Leser ab 14 Jahren. Nicht jedes Buch, in dem Jugendliche eine zentrale Rolle spielen, ist deshalb gleich ein Jugendbuch. Auch wenn die Suche nach den eigenen Wurzeln ein zentrales Thema der Pubertät ist, ordne ich den Roman als Belletristik ein, die auch von interessierten Jugendlichen gelesen werden kann. Das Buch scheint mir ein weiteres Beispiel dafür zu sein, dass Verlage im Bereich von Young Adult und New Adult viel experimentierfreudiger sind als in ihren Belletristik-Programmen und dort auch skurrilen Erzählern eine Chance geben. John Ironmongers nächstes Buch Not Forgetting the Whale steht schon auf meinem Wunschzettel.

Bewertung vom 04.01.2017
Kraft seines Wortes / Cape Cod Bd.1
Taylor, Phoebe Atwood

Kraft seines Wortes / Cape Cod Bd.1


sehr gut

Prudence, die Ich-Erzählerin der Geschichte, verbringt ihre Ferien in einem kleinen Häuschen auf Cape Cod, gemeinsam mit ihrer Nichte Betsey, der Köchin Olga und dem Kater Ginger. Da das Haus so winzig ist, können sie leider nur zwei von Prus zahlreichen Freunden als Besucher unterbringen, obwohl es erheblich mehr Interessenten gäbe, die gern einen kostenlosen Urlaub am Meer verbringen würden. Als ein "ölig" wirkender Schriftsteller tot aufgefunden wird, tritt Asey Mayo auf den Plan, eine männliche Version der Miss Marple. Zu klären ist, wer über Motiv, Waffe und Gelegenheit zur Tat verfügte. In einem Ferienort haben die Leute viel Zeit, andere zu beobachten, so dass es viele Beobachtungen und viele Meinungen gibt. Asey muss zunächst ordnen, welche der Aussagen zu gebrauchen sind. Asey kann sich den Luxus eines Daueraufenthaltes auf Cape Cod erlauben, wie später noch herauskommen wird. Der Mann ist ein vielseitiges Faktotum, der zur See gefahren ist, als Koch gearbeitet hat und aus alten Zeiten viele nützliche Verbindungen pflegt. Asey schulden viele Leute noch einen Gefallen und im Fall des toten Schriftstellers fordert Asey diese Gegenleistungen zügig ein. Natürlich tickten die Uhren damals noch in anderem Tempo, so wird z. B. ein Telegramm mit einer Frage losgeschickt und die Antwort geduldig abgewartet. Asey wendet erfolgreich die Taktik an, sich weit dümmer zu stellen, als er ist und die Befragten möglichst lange im Unklaren zu lassen, worauf er mit seinen Fragen hinaus will. Im Vergleich zu Cape Cods detektivischer Geheimwaffe gibt Sheriff Slough Sullivan ein eher schwaches Bild ab. Auch Prudence beteiligt sich rege an den Ermittlungen, sagt man ihr doch nach, die Instinkte ihres Vaters, eines Strafverteidigers, geerbt zu haben.

'Kraft seines Wortes' ist der erste Band einer Krimireihe um den Hobbyermittler Asey Mayo, der 1931 auf Englisch und 1986 in der deutschen Übersetzung erschien. Krimicouch verzeichnet 22 Bände, von denen wohl nur 5 ins Deutsche übersetzt wurden.

Als 80 Jahre alten Krimi, der in einem Urlaubsort spielt, kann man Taylors ersten Band mit Vergnügen als Gesellschaftsroman lesen. Hier hängt der Entdecker eines Toten nicht wie in modernen Krimis würgend über dem Blumenbeet, sondern die Damen fallen wirkungsvoll in Ohnmacht und werden mit Ammoniakdüften wiederbelebt. Autos haben Räder mit hölzernen Speichen und unterscheiden sich offenbar so wenig von Kutschen, dass aus einem erfolgreichen Kutschenbauer ein erfolgreicher Automobilproduzent wird, dessen Nachfolger Bill mit zum Detektivpersonal des Krimis gehört. In diesem Kriminalfall werden sehr viele Personen aktiv, die Autorin legt viele Fährten aus. Allein die Sprache ihrer Figuren lässt einen beim Lesen vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Beim Nachschlagen, was ein Zweidollarwort gewesen sein könnte, bin ich auf einer Webseite hängengeblieben, die auswertet, wann und wie häufig früher bestimmte Ausdrücke benutzt wurden.

Das Buchcover in hellen Tönen signalisiert leichte Urlaubslektüre - zu heiß sollte es beim Lesen allerdings nicht sein, sonst könnte man sich zwischen Taylors Handlungsfäden leicht verirren.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Würfel sind gefallen / Leona Bd.1
Rogneby, Jenny

Die Würfel sind gefallen / Leona Bd.1


ausgezeichnet

In Stockholm begeht ein kleines Mädchen einen Banküberfall. Die Kunden sind so schockiert von ihrem Auftritt, dass die Kleine die Bank mitsamt ihrer Beute ungehindert verlassen kann. Ermittlerin in dem skurrilen Fall ist Leona Lindberg, die einen großen Teil des Buches aus der Ichperspektive erzählt. Weitere Handlungsstränge beschreiben u. a. die Sicht des kleinen Mädchens Olivia. Leona ist der klassische Fall der berufstätigen Mutter, die trotz staatlicher Kinderbetreuung ihre Arbeitszeiten nur schwer mit der Familienarbeit vereinbaren kann. Auseinandersetzungen mit Leonas Eltern und Ehemann Peter sind an der Tagesordnung, warum Leona ausgerechnet diesen Beruf haben muss, der Peters Ansicht nach zudem schlecht bezahlt wird. Schon zeitig zeigt sich Leona als perfektionistische Außenseiterin an der Grenze zur psychischen Störung. Auch ihre Erpressbarkeit ist eine fatale Ausgangssituation für eine Kriminalbeamtin. Einige Möglichkeiten fielen mir dazu ein, welches Problem oder welche psychische Erkrankung Leona belasten könnte; schlimmer noch fand ich die Vorstellung, dass eine skrupellose und psychisch so stark belastete Person kleine Kinder zu versorgen hat.

Leona ist kein Teamplayer und steht zu dieser Eigenheit. Trotzdem muss sie den Fall der kindlichen Bankräuberin in Zusammenarbeit mit Kollegen lösen. Wie überall anders nervt die Presse die Ermittler und nicht alle Kollegen sind so umsichtig, wie Leona das gern hätte. Für die Leser stellt sich außer der Suche nach dem Hintermann der Banküberfälle - inzwischen fanden mehrere Überfälle statt - die Frage, welche Verbindung zwischen den einzelnen Handlungssträngen besteht. Jenny Rognebys polarisierender Debüt-Roman wird weder als Krimi noch als Thriller beworben, obwohl er meiner Ansicht nach durchaus Psychothriller-Qualitäten hat. Wegen der Beteiligung von Kindern an diesem Fall ist das Buch nicht in allen Lebenslagen uneingeschränkt zu empfehlen. Die Perspektive der Icherzählerin, der ihre Leser zunächst alles glauben müssen, finde ich in diesem Psychogramm einer gestörten Ermittlerpersönlichkeit im Gegensatz zu manch anderem in der Ichperspektive erzählten Buch sehr spannend. Der einzige Mangel des Buches war für mich, dass Leona in ihrem Denken und Sprechen keine gradlinige glaubwürdige Alltagsprache benutzt, sondern sich - trotz spürbarer Erschöpfung unter dem Zwang die Fassade wahren zu müssen - zu einigen ungewöhnlich exaltierten Wortschöpfungen hinreißen lässt.
Knappe 5 Sterne.