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TochterAlice
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 1401 Bewertungen
Bewertung vom 23.07.2022
Das Leben vor uns
Gorcheva-Newberry, Kristina

Das Leben vor uns


ausgezeichnet

Anja, eine Frau, nicht viel jünger als ich, die zur Zeit der Perestrojka eine Jugendliche war. Deren Zuhause die Sowjetunion war, auch wenn sie sich in vielerlei Hinsicht dort nicht daheim fühlte. Mit einer intensiven, nahezu zerstörerischen (einander und jeweils sich selbst), aber mehr noch erfüllenden Freundschaft zu Milka, die sich immer bei ihr aufhielt. Im Sommer sogar wochen-, ja monatelang in der Datscha von Anjas Familie wohnte.

Ein Beziehung, die sich, wie auch andere, die zu den Eltern beispielsweise, nicht durch das Miteinanderreden definiert, sondern durch gemeinsame Unternehmungen, Erlebnisse, Wagnisse. Der Grund dafür wird erst später deutlich.

Der Leser begleitet Anja in ihren Erinnerungen an ihre Jugend in den letzten Jahren der Sowjetunion. Ich fühle mich ihr unendlich nah, auch wenn ich nicht in der Sowjetunion aufwuchs.

Doch der Blick meiner Familie war ständig dorthin gerichtet, meine Vorfahren waren von dort geflüchtet - aus einem Teil der UdSSR, wenn auch nicht in Russland liegend, blieb dieser ein Sehnsuchtsort für sie. Den ich kannte wie meine Westentasche - jahrelang nur aus Erzählungen, doch ab Mitte der 1980er Jahre, genau der Zeit, in der Anjas Geschichte einsetzt, auch von Besuchen.

Nur zu oft sah ich die Dinge anders als Anja, als ihre Freunde, doch ist mir ihre Perspektive vertraut wie meine eigene. Und so erkenne ich, dass die Autorin Kristina Gorcheva-Newberry ehrlich ist - offen im Begreifen wie auch im Unverständnis ihrer literarischen Charaktere. Und in Teil 2 des Romans, nach ihrem Umzug in die Vereinigten Staaten, ändert sich ihre Sichtweise, nähert sich viel mehr der meinigen.

Nach einigen Jahren erfolgt der besagte Bruch - Anja zieht fort, kehrt jahrzehntelang nicht zurück in ihre Heimatstadt Moskau - und ist doch noch eine der Ihrigen, wie sich zeigt, als sie nach zig Jahren zurückkehrt. Dieses Buch hat sich mir geöffnet, es hat geschmerzt, vor allem aber hat es die Zeit der Perestrojka wieder zurückgebracht, das Gefühl, die Empfindungen, ja die Werte, die mich damals antrieben. Alles eins zu eins, wenn nicht von mir, dann von engen Freunden oder Verwandten erlebt.

Es gibt wenige Bücher, von denen ich das Gefühl habe, dass sie exakt für mich geschrieben wurden, aber dies ist eines davon: Es hat mich schlicht und einfach umgehauen.

Bewertung vom 23.07.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


sehr gut

Es beginnt mit einem wilden Mann, der laut Tradition in Basel aus dem Rhein ans Ufer steigt, um ein Tänzchen zu wagen und dem von einem kleinen Mädchen - Susanna, der Titelheldin des Buches - mit dem bloßen Finger ein Auge ausgestochen wird. Vor Schreck und aus Versehen, versteht sich.

Susanna nimmt von diesem Kindheitserlebnis etwas mit - mit auf ihre Lebensreise, die in der Tat eine weite Reise beinhaltet, nämlich nach New York. Dorthin bricht ihre Mutter auf, zu einem anderen Mann, nachdem sie den Vater und die Söhne verlassen hat. Sie ist auf dem Weg zu einem anderen Mann. Dieser ganze Neuanfang spielt sich im Gegensatz zum Beginn des Buches recht friedlich ab.

Ich habe mich sehr schwer getan mit dem Start in den Roman, empfand ihn als umständlich, einige Ausführungen erschienen mir ausgesprochen weit hergeholt. Doch ich habe durchgehalten - Gott sei Dank, muss ich im Nachhinein sagen, denn sonst hätte ich ein paar ebenso unkonventionelle Wendungen verpasst.

Wobei Alex Capus in mancherlei Hinsicht durchaus ein unkoventioneller Autor ist - beispielsweise in der, wie sehr er die Frau und ihre Belange - gerne auch wie hier in deutlich früheren Zeiten in den Mittelpunkt stellt. Nicht immer, aber es kommt bei ihm nicht gerade selten vor.

Andererseits ist die umständliche und manchmal tüddelige Erzählweise, derer er sich desöfteren bedient, alles andere als unkonventionell, bzw. ist sie nicht mit derartigen Begriffen zu beschreiben. So schreiben Menschen, die schreiben müssen, nicht wie solche, denen es quasi wie von Geisterhand aus der Feder fließt.

Erfreulicherweise ändert sich diese Ausrichtung, als Susanna und ihre Mutter Maria in den Staaten eintreffen: früh entdeckt Susanna ihre Begabung als Malerin und die damit verbundene Verdienstmöglichkeit.

Sie wird Mutter eines Sohnes mit einem ähnlich starken Charakter wie dem ihrigen: als sie nach einer großen Erbschaft beschließt, auf große Fahrt zu gehen, setzt sich der Sohn mit seinem Reisewunsch durch und die beiden landen vor der Behausung von Sitting Bull, dem zweiten wilden Mann in der Geschichte, wo sie wochenlang bleiben.

Was dann passiert, sollten sie aber selber lesen - nach einem etwas steinigen Start erwartet Sie durchaus ein Lesevergnügen.

Bewertung vom 22.07.2022
Yes we camp! Der kulinarische Campingführer
Noormann, Gesa;Hein, Katja

Yes we camp! Der kulinarische Campingführer


ausgezeichnet

Campen und Schlemmen an einem Ort
Wer hat nicht schon davon geträumt, lecker essen - und natürlich auch trinken - zu gehen und sich danach gleich an Ort und Stelle lang auszustrecken und das wohlverdiente Verdauungsnickerchen zu machen!

Dieser völlig neuartige Campingführer macht es möglich: durch ihn erlangt man die Möglichkeit, kostenlos an einem Gasthof zu nächtigen. Die Häuser, die dies möglich machen, sind alle in diesem Band aufgelistet. Eine Nacht darf man bei jedem von ihnen im eigenen Wohnmobil stehen bleiben, um dann gleich zum nächsten weiterzuziehen.

Registrieren kann und muss man sich natürlich auch, was eine im Buch enthaltene und entnehmbare Gästevignette ermöglicht. Diese ist auf die Jahre 2022/2023 beschränkt.

Auch so ist das Buch hilfreich, stellt es doch viele schöne Gasthäuser über Deutschland wie auch Österreich (naja, ein paar jedenfalls) vor, die man möglicherweise noch nicht kennt. Sogar ein paar Ausflugstipps sind enthalten.

Bewertung vom 22.07.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


gut

Wussten Sie es? Wie sich das alles so entwickelte? Also, das mit dem Lesen, Schreiben - den Aktivitäten, die das Denken festhalten sollten? Und was dann mit den Dokumenten, auf denen nun selbiges verzeichnet war, machte?

Wie man mit ihnen umging, wie man sie wertschätzte, hortete, erwarb, weitergab? Ja, nicht zuletzt natürlich: wie man sie verteilte, über sie informierte, sie auf diverse Art verbreitete.

Und wie man lernte, Nutzen aus ihnen zu ziehen? Das ergab sich erst so nach und nach, wie man sich denken kann. Denn nur wenige Menschen waren des Lesens mächtig und noch weniger von ihnen lebten in einem solchen Umfeld, in dem sie über neue Dokumente, die man dann später mal als Bücher bezeichnete, informiert wurde. In denen man die Gelegenheit erhielt, ihnen zu begegnen, sie anzuschauen, zu lesen, zu bewundern. Mit ihnen zu leben also. Das war jahrtausendelang kaum jemandem möglich - und so ist die Entwicklung dieser Rollen, später Bücher und noch mehr ihre Verbreitung ein ausgesprochen schleichender Vorgang.

Einer, dem sich Irene Vallejo, die Autorin von "Papyrus", in aller Ausführlichkeit, mit viel Geduld, Wissen, zahllosen Recherchen und nicht zuletzt mit Humor nähert.

Aber: auch wenn ich Bücher liebe, auch wenn ich Geschichte so sehr liebe (aber nicht die ganz alte), dass ich sie sogar studiert habe: so ganz ist das nicht mein Buch. Dazu fehlt mir dann doch die Offenheit und die Geduld. Auch wenn ich wieder und wieder gerne hineinschaue und diesem Nachkommen des Papyrus unzählige Leser wünsche!

Bewertung vom 17.07.2022
... und plötzlich Pilger
Zenker, Johannes

... und plötzlich Pilger


gut

Seit langem liebäugele ich damit, mir einen Teil des spanischen Jakobsweges zu erwandern. Aufgrund meiner körperlichen Konstitution ein recht gewagtes Unterfangen, aber man darf ja träumen...

Um den Träumen Nahrung zu geben, lese ich zu gerne die Erlebnisse anderer auf diesem Weg. Wenn sie gut geschrieben sind und Tiefe haben. Was mir bei Johannes Zenker beides fehlte. Eigentlich erstaunlich, weil er als Journalist ja durchaus wissen sollte.

Was es mir ein wenig schmackhafter machte, waren die Schilderungen des Autors zu Begegnungen mit anderen Pilgern, nicht selten von ihm als eigenartig beschrieben. Hier wurde vieles erläutert, was manch einer - ich eingeschlossen - nicht als erwähnenswert betrachtet hätte. Andererseits hatte ich desöfteren den Eindruck, dass der Autor von nicht gerade wenigen Pilgern wie auch Herbergseltern am Rand des Weges selbst gewissermaßen als Original betrachtet wurde, ohne dass ihm dies bewusst war.

Nun, eine Bereicherung war diese Lektüre allemal - sie gab mir viel zu denken und mehr noch zu staunen - darüber, was unsere Mitmenschen so machen und tun. Und nicht zuletzt, was ihnen so durch den Kopf geht.

Bewertung vom 16.07.2022
Die Tochter
Hye-jin, Kim

Die Tochter


sehr gut

Eine Frau in Südkorea - Anfang sechzig verwitwet, Mutter einer erwachsenen Tochter. Sozial befindet sie sich - so schätze ich es ein - wohl so in der Mitte der Gesellschaft, doch in ihrer Heimat ist es wohl für keinen einfach, finanziell klarzukommen und so arbeitet sie als Pflegerin in einem privaten Altenheim. Sie ist zuständig für eine einzige Patientin, eine sehr interessante Frau, die ein Leben im Ausland, verbunden mit dem Einstehen für zahlreiche Menschen hinter sich hat. Sie kann nicht verstehen, dass diese, jetzt, auf den letzten Stufen ihres Lebens und obwohl sie für ihre Unterkunft selbst zahlt und zwar eine ordentliche Summe, von der Leitung des Heimes mehr und mehr mit Geringschätzung behandelt wird und versucht ihrerseits, soweit möglich, es ihr noch so bequem wie möglich zu machen.

Ihre Tochter trifft sie nur einmal wöchentlich und wenn diese sich außer der Reihe meldet, geht es immer nur um Geld. Um sie unterstützen zu können, erwartet die Tochter sogar, dass die Mutter ihr eigenes Leben umstellt, selbst auf den wenigen Komfort, den sie hat, verzichtet.

Doch irgendwann ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Tochter - selbst schon über Dreißig - zu ihrer Mutter zurückzieht, aus rein wirtschaftlichen Gründen. Sie kommt nicht allein, sondern mit ihrer Lebensgefährtin.

Die Homosexualität ihrer Tochter kann die Mutter nicht akzeptieren, obwohl die Partnerin ihrer Tochter eine überaus angenehme junge Frau ist, die sich zudem durchaus um sie bemüht. Erst durch die Eskalation der Situation der queeren Community wie auch der Situation im Pflegeheim kann sie sich öffnen.

Ein ungewöhnlicher Roman, der sowohl einfühlsam als auch kraftvoll daher kommt. Gerade dadurch, dass der Schilderung eine gewisse Sachlichkeit zugrunde liegt, gewinnt die Handlung an Eindringlichkeit.

Bewertung vom 15.07.2022
Violeta
Allende, Isabel

Violeta


sehr gut

Eine ausgesprochen faszinierende Frau ist Violeta, die das Ende einer langen Reihe von Geschwistern markiert: mit ihr schließt sich als einziger, ersehnter Tochter die Familieplanung der del Valles nach einem Reigen von fünf Söhnen.

Sie blickt zurück auf ihr Leben und berichtet aus verschiedenen Epochen selbst an einen jungen Verwandten: ihr Leben wird markiert von zwei dramatischen Eckpunkten, nämlich zwei Pandemien: der Spanischen Grippe, die 1920 in Südamerika wütete und Corona, das den Kontinent - wie auch viele andere Gebiete der Erde Hundert Jahre später ereilt.

Ein Roman, der nicht ganz so farbig ist wie ihre großen Würfe aus der Vergangenheit, sei es "Das Geisterhaus", oder meine persönlichen Lieblinge "Fortunas Tochter" oder "Ein unvergänglicher Sommer", auch dies ein Spätwerk. Doch die Lektüre lohnt sich allemal, denn die Autorin steht in Stil und Sprache der von ihr geschaffenen Figur in nichts und in Bezug auf die Alterweisheit (da fehlen einfach noch 20 Jahre) ihrer Figur nur in wenig nach.

Zudem hat die große Autorin in ihren letzten Werken einen überaus entspannten Humor entwickelt, den ich durchaus zu goutieren weiß!

Bewertung vom 14.07.2022
Dämmerstunde
Sok-Yong, Hwang

Dämmerstunde


gut

Ein Mann und eine Frau - Minu und Uhi - in Seoul sind die Protagonisten diesen Romans, die wechselweise jeweils aus ihrer Perspektive berichten. Beide nicht aus reichem Hause, beide hat es nach Seoul verschlagen, beide müssen ums Überleben kämpfen, jeder auf seine Art.

Peu à peu wird deutlich, dass ihre Geschichten in irgendeiner Form zusammenhängen, dass es irgendwo einen Überschneidungspunkt gibt. Aber wo mag der sein?

Ein Roman, der mich mit seiner klaren reduzierten Sprache zwar anspricht, aber nicht berührt, geschweige denn fesselt oder packt. Nein, er lässt mich vielmehr seltsam reduziert zurück. Das wiederum hängt mit der Handlung zusammen.

So klar die Sprache - auch in der Übersetzung - ist, der Inhalt ist es nicht. Dieser ist im Gegenteil seltsam verwirrend und stellenweise schwer nachzuvollziehen, ich fühle mich sogar immer wieder aufs Abstellgleis geschoben. Ist es die im Titel vorkommende Dämmerung, die Zeit zwischen Tag und Nacht, die so verwirrt?

Auf eine bestimmte Art durchaus. Dämmerstunde - die Zeit zwischen Tag und Traum; hier vielleicht auch zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Leben und Tod? Hier lässt sie mich vor allem ratlos werden, ich fühle mich stellenweise, was die Handlung betrifft, geradezu aufs Abstellgleis geschoben..

Ein Roman, der einerseits die beiden Erzählstränge zusammenführt, die dadurch erlangte Klarheit jedoch auf der anderen Seite wieder zunichte macht. Ein Roman, der mich irritiert zurücklässt wie auch seltsam unberührt.

Bewertung vom 10.07.2022
Ein Leben für das Glück der Kinder / Die Hafenärztin Bd.2
Engel, Henrike

Ein Leben für das Glück der Kinder / Die Hafenärztin Bd.2


sehr gut

Einstehen für Gerechtigkeit: Das tun die drei Protagonist:innen dieses Buches: die titelgebende (Hafen)Ärztin Anne Fitzpatrick, die kurz vor ihrem Abschluss als Lehrerin stehende Helene Curtius und der Kriminalkommissar Berthold Rheydt - und zwar jeder auf seine Art.

Anne kümmert sich um die Ärmsten der Stadt Hamburg, von denen viele zu den Auswanderern, die im Hafen ihr Leben fristen und auf ihre Übersetzung in die neue Welt warten, gehören. Helene unterrichtet im Rahmen ihres zur Ausbildung gehörenden Praktikums die Kinder im Hafen, von denen die meisten kein Deutsch sprechen. Berthold hingegen fällt die Aufgabe zu, für Gerechtigkeit zu sorgen, worum er sich auch redlich müht - alles andere als einfach, wenn man diese denen zukommen lassen will, die in der gesellschaftlichen Hackordnung ganz weit unten stehen.

Sie alle führt nach einigen Monaten der Weg wieder einmal zueinander. Kein Wunder, liegen ihre teilweise selbst gewählten Aufgabenbereiche doch eng zusammen. Und seien wir ehrlich: im Jahre 1911, in dem die Handlung angesiedelt ist, interessieren sich noch weniger Menschen als heute für die, die ganz unten stehen. Ganz im Gegenteil, manch einer versucht noch, seine eigene Last, was für eine das auch immer sein mag, auf diese abzuladen.

Diesmal geht es um Giftattentate, zu deren Opfern vor allem die Kinder der Auswanderer zählen: wer hat einen Grund, diesen den Tod zu wünschen? Sowohl Berthold als auch Anne und Helene hegen ein großes Interesse in der Aufklärung dieser Fälle und kämpfen schon bald nicht mehr nur gegen Windmühlen. Nein, offenbar kommen sie jemandem - oder gar einigen - ordentlich ins Gehege.

Ein mitreißender Roman, irgendwo zwischen Historienroman und Krimi angesiedelt, den ich - einmal angefangen - nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Autorin hat akribisch recherchiert und versteht es, mitreißend zu schreiben und dabei so wichtige Themen wie die damalige Frauenbewegung und weitere politische Entwicklungen nicht außer Acht zu lassen. Einzig ganz am Ende ging es mir doch zu weit - es war quasi ein Ende wie aus einem Action-Film. Aus meiner Sicht wäre hier weniger mehr gewesen. Aber dennoch hat mich das Buch insgesamt begeistert. Eine sehr geeignete Lektüre für die möglicherweise bevorstehenden Sommerferien, zumal es einen ersten Band gibt, der die Möglichkeit bietet, die Beschäftigung mit den drei Protagonisten noch zu vertiefen.

Bewertung vom 04.07.2022
Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2
Abel, Susanne

Was ich nie gesagt habe / Gretchen Bd.2


sehr gut

Der Leser trifft auf den Moderator Tim Monderath, einen Endvierziger, bei dem sich seit "Stay away from Gretchen", dem ersten Teil seiner Familiengeschichte, so einiges geändert hat.

Eigentlich zum Besseren: er lebt nun in einer glücklichen Beziehung mit Kind, seine demente Mutter Greta wird durch die langjährige Nachbarin Helga gut getreut und kann dadurch weiterhin allein in der ehemaligen Familienwohnung in Köln-Porz, direkt am Rhein, wohnen bleiben.

Doch auf der Arbeit hatte er sich aufgrund der privaten Entwicklungen eine Auszeit genommen und es ist nicht sicher, ob der Wiedereinstieg so glatt wie erwartet über die Bühne geht. Denn die Konkurrenz schläft nicht und er selbst ist sich nicht sicher, wie flexibel er denn eigentlich ist.
Zudem ergibt sich wieder privat manches Überraschende, wobei diesmal sein Vater und dessen aus Köln stammende Familie im Fokus stehen. Mit ihm hatte Tom bis zu dessen Tod ein sehr gespanntes Erlebnis und erfährt nun, dass er noch einen
älteren Halbbruder hat und zwar in Amsterdam. Hat sein Vater, der eine gynäkologische Praxis in der Kölner Innenstadt betrieb, etwa ein Parallelleben geführt?

Sein Halbbruder Henk ist jedenfalls eine Bereicherung - nicht nur für Tom, sondern auch für dessen große Liebe Jenny und das Verhältnis entwickelt sich rasch zu einer engen Bindung - etwas ganz Neues für Tom, der bisher gar keine Geschwister kannte. Aber das ist nicht das Einzige, das sich hier entwickelt,

Ein spannender Roman, der sich für meinen Geschmack manchmal etwas zu wild zu galoppieren begann, bei der Entwicklung ihrer Figuren hingegen konnte ich Autorin Susanne Abel in diesem zweiten Teil der Geschichte deutlich besser folgen und empfand diese insgesamt als stimmig.

Aber was mich wieder vor allem fesselte und bewegte, war die Einbindung historischer Themen in die Handlung. Diesmal ging es vor allem um die medizinischen Aspkete des Nationalsozialismus. Sowohl den Umgang mit "unwertem Leben" als auch Fragestellungen der Familienplanung, in denen die Politik kräftig mitmischte. Hier traf die Autorin mit Darstellung genau ins Schwarze und bewegten mich tief. Auf jeden Fall widmet sich dieser Roman auch einigen Aspekten, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen nicht ganz so häufig in der Literatur eine Rolle spielen! Wer sich gern mit diesem Thema beschäftigt, wird hier so manche neuen Impulse und Eindrücke mitnehmen können!

Zudem zeigt mir Susanne Abel sowohl Neues als auch Altbekanntes in meiner eigenen Heimatstadt Köln auf. Nur konnte ich der Liebsten des Protagonisten so gar nicht in der Entscheidung, lieber in Porz als in Lindenthal wohnen zu wollen, folgen - ich habe meine Kindheit und Jugend damals auf der "schäl Sick" verbracht und mich zumindest in älteren Jahren nicht mehr in Porz zu Hause gelebt und und genieße jetzt schon seit einigen Jahren das entspanntere Leben in Lindenthal, der "grünen Lunge" der Stadt!