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Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 643 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2022
Kaiserstuhl
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


sehr gut

A votre santé!

Es stehen die 60er Jahre im Mittelpunkt des neuen Romans von Brigitte Glaser, die wie keine andere vergangene Zeiten mit all ihren grauen Seiten beleuchtet. Es ist nicht immer alles Schwarz oder Weiß, es gibt immer mehr als einen Blickwinkle und mehr als eine Interpretation.
Nun eben 1962/63, die Jahre in denen der Elysée Vertrag unterschrieben wurden von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Dieses Bündnis soll mit einer guten Flasche Champagner begossen werden aus dem Jahr 1937 der aber erst nach Bonn gelangen muss. Hier kommt nun Henny, die Weinhändlerin ins Spiel mit ihrer ganzen Sippe. Henny übernahm den väterlichen Weinhandel und baute ihn nach dem Krieg wieder auf, nun muss Champagner ins Sortiment.
Die Geschichte arbeitet die deutsch-französische Freundschaft auf mit all ihren Facetten, das Elsass als ein ständiger Reibungspunkt zwischen den Nationen ist im Blick. Es gibt viele Sprünge in der Zeit, in den Personen und in den Blickwinkeln, das macht es spannend und auch sehr bereichernd.
Wer die beiden bisher erschienen Romane von Brigitte Glaser noch nicht kennt: Bühlerhöhe und Rheinblick sollte sie dringend lesen, genau wie diesen: Kaiserstuhl. Ich mag den Schreibstil und die Art der Erzählung immer sehr wir Brigitte Glaser Familiengeschichten mit politischen Gegebenheiten verknüpft und uns alle erhellt!
Hinten im Roman gibt es einen Stammbaum, der hilft so machens Mal, wenn man den Faden doch verloren hat.
Fazit: A votre santé! Lasst euch den Roman gut schmecken!

Bewertung vom 28.02.2022
BÄR
Engel, Marian

BÄR


sehr gut

Der Bär ist und bleibt ein Bär

Kein neuer Roman, dieses Buch „Bär“ von Marian Engel. Es ist eines dieser wiederentdeckten Bücher, das zwar in den 70er Jahren erschien, aber zeitlos ist.
„Wenn mir die Erfahrung nicht wieder weggenommen werden soll, dachte sie, muss ich sofort damit anfangen, sie zu machen.“ (S. 51)
Es geht um Lou, die an einem historischen Institut in Toronto arbeitet. Eine Frau im mittleren Alter, die bisher nur mittelmäßige Erfahrungen gemacht hat, langweilige Männer leid ist und ihre Arbeit liebt: das archivieren. Nun darf sie sich auf machen in den Norden, denn das Institut hat ein Haus geerbt in dem eine staatliche Bibliothek untergebracht ist und Lou soll dort hin in den wilden hohen Norden auf die Insel, in das Fowler-Oktagon und die Bibliothek sichten und katalogisieren. Es ist nicht nur ein Haus fern ab der Zivilisation, es ist ein Haus mit Bär, der auch dort lebt. Sie nähern sich an und durch Lous Einsamkeit und neuergründeten Autonomie wird mehr aus ihr und dem Bären als es sein dürfte.
„Ist ein Leben, dass sich plötzlich als Abwesenheit entpuppt, überhaupt ein Leben?“ (S. 18)
Ein Roman der sachlich darlegt; weder kitschig noch verklärt daherkommt. Ein Roman der eine Frau in der Wildnis porträtiert, die auf einen domestizierten Bären trifft, der natürlich weiterhin ein wildes Tier ist und bleibt.
Die Autorin schrieb in klarer Prosa, aber abgewandt vom blühenden nature writing. Die Ambivalenz der Protagonistin, wenn sie die Veränderungen an sich selbst wahrnimmt, eine neugewonnenen Selbstbestimmtheit. Sie nimmt gar eine Rolle der Unterdrückerin gegenüber dem Bären ein, aber entronnen der eigenen Unterdrückung.
„Dir fehlt der Stolz, dir fehlt das Gespür für dich selbst.“ (S. 166)
Ein starker Roman, der viele Elemente hat, die noch heute diskussionswürdig sind und hier angerissen werden im Jahr 1976: Wenn es um die first nations geht, um Kolonialisierung, um die Rolle der Frau und das alles kondensiert in einem Sommer im wilden Kanadischen Norden, denn Lou mit dem Bär verbringt und sich selbst entsteigt.
Ja, ein starker Roman, aber ob es der beste kanadische Roman aller Zeiten ist wie es auf unter dem Titel der Neuauflage des btb Verlages heißt, sei mal dahingestellt. Aber ich kann diese Neuauflage sehr empfehlen, denn das Nachwort zum Roman der Schriftstellerin Kristine Bilkau ist sehr erhellend und komplementiert den Roman erheblich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.02.2022
Unser Glück
Buchholz, Natalie

Unser Glück


ausgezeichnet

Wohnung in guter Lage abzugeben

Was würde man heutzutage alles für eine größere Wohnung in bester städtischer Lage tun? Wie hoch muss der Leidensdruck werden um die absurdesten Situationen zu akzeptieren?
Genau das sind Fragen, die den Protagonisten Coordt umtreiben, denn er landet genau in diesem Dilemma. Coordt und Franziska sind kürzlich Eltern geworden vom kleinen Frieder, leben aber leider in einer zu kleinen Wohnung in eher mäßiger Lage in München. Nun gibt es da dieses verlockende Angebot einer Wohnung, die groß ist, sehr gepflegt in bester Lage und auch noch bezahlbar. Der Haken an der Wohnung ist der Ex-Mann der Vermieterin. Er wohnt weiterhin in dieser Wohnung in einem separaten Zimmer mit eigenem Bad und Küchenzeile!
„Ziehen Sie hier ein, mache ich Ihnen das Leben zur Hölle.“ (S. 18)
Diese kammerspielartige Geschichte entspinnt sich nach und nach. Erzählt aus Coordts Perspektive wirkt erst seine Frau unentspannt, die in der neue Wohnung wieder Schwung und Kraft findet. Wohingegen bei Coordt das Pendel an anderer Stelle umschwingt und er zum Paranoiden wird. Eine Stärke des Romans ist Gegenüberstellung von Standpunkten ohne moralischen Zeigefinger. Oft werden im Laufe der Geschichte Gegensätze aneinander gerieben wie das heimelige mit dem unheimlichen. Die Autorin Natalie Buchholz schreibt diese durchdringende kurze Prosa, die eine Sprache für die Sprachlosigkeit findet. Was diesen Roman auch auszeichnet, sind auch die offenen Stellen, die jede:r Leser:in Raum gewähren um hineinzuspüren.
München ist zwar der Ort des Geschehens dieses Romans, aber er könnte auch genauso in Hamburg, Frankfurt, Düsseldorf oder Berlin angesiedelt sein. Eine moderne Geschichte, die so viele gegenwärtige Allgemeingültigkeit in sich trägt, dass es schmerz und dabei wahnsinnig unterhaltsam ist!
Schon jetzt eines meiner Highlights in 2022!

Bewertung vom 27.02.2022
2040
Baumann, Patrick

2040


ausgezeichnet

Realistisches negatives Zukunftsszenario mit mega spannendem Plot in Berlin!

Denkt euch mal 20 Jahre in die Zukunft, der Tag der deutschen Einheit 2040 steht vor der Tür. Wir befinden uns in Berlin. Die Rechten haben die Oberhand gewonnen und die „PAD“ = Patriotische Alternative Deutschlands regiert mit ihrem gestellten Kanzler Wischnewski. Die PAD ist dabei die demokratischen Strukturen zu unterwandern, ein autokratischer Überwachungsstaat ist das Ziel welches mit Hilfe eines Technologieriesens erreicht werden soll: Sunrise.
In diesem Thriller wird ein sehr realistisches Bild einer nicht so freundlichen Zukunft in Deutschland gezeichnet, die es JETZT gilt abzuwenden. Genau aus diesem Grund schätze ich die fiktive Aufarbeitung von politischen Szenarien, in diesem Fall eine klare Dystopie, die uns zeigt, dass wir handeln sollten.
Ach ja und das ist eingebettet in eine spannende Thrillerhandlung. Aber, keine Sorge, hier überwiegt der gut angelegte Plot in der rechtsradikalen Überwachungsstaat-Dystopie. Komplex? Ja! Überfordernd? Nein! Und auch was für Leser, die sonst keine Thrillerfans sind (ich!).
Spannung kommt durch Paul Kanter zustande. Kiosksbesitzer, der unermesslich hohes Schutzgeld zahlen muss an die Al-Fasi für seinen Neuköllner Kiosk. Seine Ex-Freundin, eine Journalistin wird in ihrer Wohnung überfallen und Kanter gerät leider ins Visier der Ermittler, da er ein Ex-Verbrecher ist. Nun ermittelt er auf eigene Faust parallel zur Polizei und der neuen SNS (=Sonderstelle Nationale Sicherheit).
Schnell getaktet, kann man diesen Thriller kaum aus der Hand legen. Ich habe mich sehr gut unterhalten gefühlt und fand es thematisch gut mit dem negativen Zukunftsszenario verzahnt. Geschrieben wie Kopfkino, blitzen die Bilder in einem nur so auf und ich wollte einfach wissen wie es ausgeht.
Spannend ist, dass Patrick Baumann das Buch in Eigenregie publiziert hat, lasst euch davon nicht abschrecken. Ich würde behaupten, da ist den großen Verlagen was durch die Lappen gegangen, denn er hat es von Anfang an als Alleingang so geplant!
Eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 24.02.2022
Baku und der weiße Elefant
Burfeind, Anke

Baku und der weiße Elefant


ausgezeichnet

Schlimme Kinderschicksale fiktiv transparent gemacht!

Anke Burfeind kam vom Thema zum Schreiben und das ist in diesem Fall eine super Sache. In ‚Baku und der weiße Elefant‘ geht es um Kinderhandel in Indien. Ja, harter Tobak für ein Lesealter ab 9 Jahren, aber es ist aus meiner Sicht milde vermittelt. Sprich, dieser Roman mag zwar teilweise verglichen mit real existierenden Strukturen und Gegebenheiten etwas naiv und zu einfach erzählt sein. Aber mal ehrlich, die volle Dröhnung wollen wir den Kindern in diesem Alter noch nicht zumuten, wenn sie noch keinerlei Berührung mit dem Thema hatten.
Im Mittelpunkt steht der 10jährige Baku, der wegen Spielschulden seines Vaters verkauft wird und eigentlich in einer Fabrik schuften soll, es kommt aber anders. Denn der Fabrikbesitzer leiht ihn an einen Obsthändler weiter, der die Güte hat, ihm das Lesen und Schreiben beizubringen. Auch seine Schwester wird kurz nach ihm verkauft und die beiden treffen nicht nur zufällig aufeinander, sie schaffen es auch zurück zu ihren Eltern zu fliehen.
Ja, sicher passiert es im echten Leben nicht oft, dass Kinder lebend eine Flucht schaffen. Aus meiner Sicht auch nicht das Anliegen hier, sondern Kindern zu zeigen, dass es auf der Welt andere Kinder gibt, die weder zur Schule gehen dürfen noch genügend zu essen haben und dann auch noch zu allem Überdruss Kinderarbeit leisten müssen. Schlimm genug zu ertragen.
Fazit: Tolles Buch um mit den eigenen Kindern Kinderarmut, Kinderarbeit und -sklaverei zu themazieren und bewusst machen, dass es noch HEUTE solche schlimmen Missstände gibt!

Bewertung vom 24.02.2022
Nelly & Düse - Pudel frisch gestrichen
Mahne, Nicole;Opheys, Caroline

Nelly & Düse - Pudel frisch gestrichen


ausgezeichnet

Was haben wir gelacht!
Ein wirklich erfrischend herrlich lustiges Kinderbuch für die Grundschulzeit.
Nelly hat einen Hund names Düse, im Haus schleicht ihre Beautyqueen-Halbschwester mitten in der Pubertät durchs Haus. Diese Sophie bekommt mehr als einmal ihr Fett weg vom kleinen Schwesterherz und das meist ohne Absicht was es noch witziger macht. Dann ist da noch der dämliche Max aus ihrer Klasse und die neuen Nachbarn Elmar und Berta, die auch samt Pudeldame einziehen. Diese Gemengelage entspinnt sich zu einer einfachen, aber ECHT witzigen Geschichte.
Durch die vielen netten Illustrationen von Caroline Ophenys ist der Text aufgelockert und für gute Erstleser eine wirkliche Entdeckung. Klar, das Buch kann auch ab der Vorschule schon sehr gut mit den Eltern zum Vorlesen entdeckt werden. Hier wirklich eine Empfehlung auch zum Vorlesen, weil auch wir Vorlesetiere auf ihre Kosten kommen. Wie gesagt – ich rang das eine und andere Mal nach Luft so laut musste ich lachen!
Was bin ich froh, dass Nicole Mahne, hier abseits ausgetretener (langweiliger) Pfade mal was Neues probiert und uns so erheitern konnte. Wir danken herzlichst!

Bewertung vom 24.02.2022
Das Mädchen mit dem Drachen
Colombani, Laëtitia

Das Mädchen mit dem Drachen


ausgezeichnet

Gesellschaftliche Diebe der Unschuld & Zukunft vieler Mädchen in Indien

"Haltet die Diebe der Freude, der Unschuld, der Zukunft, die Diebe von Talent und Intelligenz." (S. 223)
Auch dieses Buch hat wieder Bestsellerpotenzial, denn Laetitia Colombani schafft es auf ihre ganz eigene Art die Leserschaft mitzureißen und sich auch auf unbequeme Reisen zu begeben und trotz allem am Ende einen Hoffnungsschimmer am Horizont aufzuzeigen. Und das ohne Kitsch und Drama. Sie schreibt recht sachlich und nüchtern, nur einzelne Sätze driften fast ins kitschige ab, aber das mag man ihr nachsehen.
Dieses Mal begeben wir und mit Léna nach Indien. Nach einer Tragödie in der französischen Heimat versucht sie Abstand zu gewinnen zu ihrem Schicksalsschlag und möchte wieder Energie für ein anderes Leben gewinnen, für ein Leben das sich noch finden muss.
„Sie hat Schiffbruch erlitten; ihr Kompass ist kaputt.“ (S. 86)
Und in dieser Verfassung trifft sie auf ein Mädchen, dass ihr das Leben rettet, das Mädchen mit dem Drachen. Es entsteht eine kaum greifbare, aber eine Verbindung der beiden und Lena beschließt zu helfen. Da sie Lehrerin war, hat sie das Ziel vor Augen diesem Mädchen das Lesen und Schreiben beizubringen.
"Wissen ist Macht. Bildung ist der Schlüssel zur Freiheit." (S. 60)
In diesem Roman steckt eine zutiefst persönliche Geschichte der helfenden und suchenden Léna sowie eine wichtige Anklage an die gesellschaftlichen Probleme der indischen Bevölkerung. Formal, im Gesetzestext hat sich in den letzten Jahrzehnten in Indien viel gebessert, aber in den ärmlichen Dorfstrukturen sieht es auf wie eh und je: Frauen sind nix wert, brauchen keine Bildung, werden früh verheiratet und ein Kreislauf wird in Gang gesetzt. Und dazu noch das unsägliche Kastensystem das noch sein Übriges tut.
„Ein Kind zu schlagen dauert nur eine Sekunde, sein Vertrauen zu gewinnen deutlich länger.“ (S. 192)
Laetitia Colombani zeigt mit dieser fiktionalen Geschichte und ihrem prägnant knackig kurzen Stil das es starke indische Frauen braucht um sich zu widersetzen. Eine erschütternde Lektüre, die aufrüttelt, aber auch Hoffnung gibt, dass JEDE Hilfe die Lage zum Besseren wenden kann.
Fazit: Trotz Internet und Informationsüberfluss braucht es strukturell gute Bildung auf der Welt um Missstände zu erkennen und Chancen zu geben.

Bewertung vom 24.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Binge reading in kurz!

Ein Buch, dass ich echt nicht aus der Hand legen konnte. Die Geschichte ist keine neue, nein, bei weitem nicht. Ein Schweizer Held dieser Wilhelm Tell, der von Schiller als sein letztes Stück Teil des deutschsprachigen Bildungskanons wurde. Nun könnte man gähnen und sagen, nicht noch mal den Apfel vom Kopf schießen. ABER es ist eine Neuauflage der besonderen Art.
Der Schweizer Joachim B. Schmidt macht daraus eine neue Inszenierung des Schweizer Nationalhelden die begeistert. Er lässt die barbarischen Zeiten ans Licht kommen und den einfachen Drang Wilhem Tells seine Familie zu ernähren, auch wenn das bedeutet waghalsige Manöver zu unternehmen. Der Schreibstil ist kurz, knackig, prägnant. Ständig wechselt die Perspektive und die zu uns sprechende Stimme. Zack, zack, zack – schnelle Schnitte und Wechsel. Mir erschienen die einzelnen erzählten Szenen eher wie Blitzlichter, die dann ein gelungenes Bild der Habsburger eisernen Herrschaft zeigt. Düster, manches mal brutal ist die Grundstimmung und in dieser Gemengelage versucht Wilhelm Tell sein Glück. So nachvollziehbar. Man taucht erst nach und nach in seinen Charakter ein. Erst scheint er ein wortkarger Eigenbrötler zu sein und nach und nach ändert sich die Sichtweise. Man bemerkt er hat den Schelm im Nacken und treibt es manches Mal zu bunt.
Fazit: Wer vom klassischen Held nicht wissen will, sollte gerade hier zugreifen!

Bewertung vom 17.02.2022
Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung
Rulffes, Evke

Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung


ausgezeichnet

Das Mädchen für alles

Wer glaubt, dass die Hausfrau eine historisch uralte Institution ist, irrt gewaltig. Eine Entwicklung die Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt hatte und hoffentlich bald zu Grabe getragen wird.
Sehr erhellend für diesen Erkenntnisgewinn ist das Sachbuch ‚Die Erfindung der Hausfrau - Eine Geschichte der Entwertung‘ von der Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes. Dieses Buch war erhellend wie kein anderes für mich zum Thema, vor allem was unser heutiges Rollenverständnis angeht.
Der Bogen wird gespannt vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Es wird der Leserschaft vor Augen geführt wie es dazu kam, dass Frauen unentgeltlich die gesamte Haushaltsarbeit leisten. Wahnsinn wie die Veränderung sich durch die Jahrhunderte zog. Stelle man sich vor, dass Frauen im Mittelalter noch Teil vieler Zünfte waren und es undenkbar war, dass Frauen nicht gearbeitet haben, weil Familien das Geld einfach brauchten.
Die Veränderung fand schleichend statt. Erst der Wandel vom Stand zum Bürgertum brachte den Stein ins Rollen. Denn die Repräsentanz sollte gewahrt werden, aber das Bürgertum hatte nicht das nötige Geld um Angestellte zu haben somit musste die Ehefrau und Mutter hier tätig werden.
Den negativ Höhepunkt erreichte es 1900 als die Hausfrauenehe im BGB landete und Ehefrauen schlicht nicht mehr geschäftsfähig waren, da sie keine Entscheidungsgewalt mehr hatten und es gesetzlich verpflichtend war für Ehefrauen sich um das Heim und Kinder zu kümmern. In der BRD erst 1977 wieder abgeschafft. Dieses Hausfrauendasein ersparte dem Patriachat viel Geld, da sie ihren Lebensstandard halten konnte ohne Personal.
Ein weiterer Aspekt ist die Einsamkeit der Hausfrau durch die Konzentration auf die Kernfamilie und eine Art Boreout durch die technischen Errungenschaften der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts.
Ein wirklich äußerst lesenswertes Sachbuch! Eine geschichtliche Entwicklung verknüpft mit den heutigen schier unerreichbaren Anforderungen an Mütter ausgelöst durch gesellschaftlichen Druck und eigen kreiertem Anspruch.
Fazit: Auch gekaufter Kuchen macht Kinder glücklich.

Bewertung vom 14.02.2022
Grenzgänge
Statovci, Pajtim

Grenzgänge


ausgezeichnet

Dunkle Ecken ausleuchtend um Identität zu finden

Was bedeutet Heimat? Was Zugehörigkeit? Wer bestimmt wann und wo man ein Teil von wird? Und wann endet die rastlose Suche? Einiger dieser Fragen und noch viele mehr treibt den Protagonisten in dem Roman ‚Grenzgänge‘um. Es ist der Ich-Erzähler Bujar, der in Albanien groß wird und dem Elend mit seinem Freund Agir entschwinden will. Nicht nur wegen der ärmlichen Verhältnisse, auch die sexuelle Orientierung hat im traditionell verhafteten Umfeld keine Chance auf Entfaltung.
Die beiden flüchten sich zunächst nach Italien und Bujars Flucht setzt sich dann durch die verschiedensten Länder und Städte fort. Nicht nur das, auch er selbst wechselt nach außen hin die Identitäten, mal täuscht er vor Italiener zu sein, mal eine Frau. Er traut sich, versteckt sich und vor allem sucht er sich selbst und seinen Platz. Letztendlich landet er in Finnland.
Dieses Buch beschreibt grandios die inneren und äußeren Grenzgänge, die der Protagonist durchmacht und nimmt uns mit. Bujar kämpft mit allen Tricks und Täuschungen nach außen hin und lässt uns an seinem inneren Aufgewühlten teil haben mit sehr klugen Gedanken.
Wahnsinnig gut erzählt und das auch noch verwoben mit albanischen alten Mythen, die der Autor hier gekonnt einflicht. Pajtim Statovci, 1990 im Kosovo geboren, wanderte mit 2 Jahren mit seinen Eltern nach Finnland aus. Nun ist er einer DER Nachwuchsautoren Finnlands und legt mit ‚Grenzgänge‘ aus dem Jahr 2016 einen tollen zweiten Roman vor, der nun auch in deutscher Übersetzung von Stefan Moster vorliegt.
In diesem Roman wird aufgezeigt was Anderssein bedeutet, was Ungleichheit ausmacht und wie Multikulturalität gelebt wird. Übrigens auch ein Roman, der Jugendliche zusagen könnte, die auch auf der Suche sind.
Ich wünsche dem Roman viele viele Leser! Er ist herausragend aus meiner Sicht.