Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Havers
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 1378 Bewertungen
Bewertung vom 18.02.2021
Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
Evaristo, Bernardine

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019


ausgezeichnet

Der britische Man Booker Prize wird seit 1969 verliehen, und Bernadine Evaristo war die erste schwarze Autorin, die ihn 2019 erhalten hat. Allerdings musste sie ihn sich mit Margaret Atwood teilen. Bereits das zeigt, wie wichtig ihr Roman „Mädchen, Frau etc.“, in welchem sie die Lebenswirklichkeit schwarzer Frauen in der britischen Gesellschaft beschreibt.

Auf über 500 Seiten kommen 12 Frauen zwischen 19 und 93 zu Wort und erzählen ihre Geschichten. Sie kennen sich, ihre Leben sind miteinander verknüpft, sie haben Ziele, Wünsche, Träume. Suchen nach Orientierung, nach Akzeptanz und Liebe, wollen Selbstbestimmung, Gender und Feminismus leben, Rassismus und Unterdrückung hinter sich lassen. Sie sind so verschieden wie ihre Lebensentwürfe. Aber sie haben eines gemeinsam, und das ist ihre Hautfarbe und daraus resultierend die kollektiven Erfahrungen, die sie unabhängig von Herkunft, Bildung, persönlichem und gesellschaftspolitischem Hintergrund während ihres Lebens gemacht haben. Dennoch ist diese Sammlung nicht exemplarisch, bildet keinen Querschnitt ab, sondern zeigt nur einen kleinen Ausschnitt des variantenreichen Lebens schwarzer Frauen in Großbritannien.

Der Stil ist locker, leicht lesbar, die Geschichten fließen ineinander, sind nur durch Absätze getrennt. Satzzeichen werden nur spärlich eingesetzt, Zeilenumbrüche ersetzen den Punkt, den es nur am Ende des jeweiligen Kapitels gibt. Man könnte vermuten, dass das auf Kosten der Lesbarkeit geht, aber dem ist nicht so. Es wird nie unübersichtlich, im Gegenteil, dadurch nehmen die Schilderungen Tempo auf, zwingen förmlich zum Weiterlesen, aber auch zum Zurückblättern, wenn ein Name auftaucht, den man schon einmal in anderem Zusammenhang gelesen hat.

Ich bin ein Fan von Episodenromanen, mag die verschiedenen Stimmen, die Vielfältigkeit und die daraus resultierende Abwechslung, die geboten wird. Und wenn mich dann noch eine Autorin an die Hand nimmt und in diverse Lebenswirklichkeiten hineinschnuppern lässt, ist das umso besser. So viele Leben, so viele Denkanstöße. Lesen!

Bewertung vom 17.02.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1


sehr gut

Autorenduos sind in Skandinavien gang und gäbe. Natürlich fallen mir da als erstes die genialen Maj Sjöwall und Per Wahlöö ein, aber auch Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt oder die Deutsch-Schweden Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson. Nun also Peter Mohlin und Peter Nyström, der eine Journalist, der andere Drehbuchautor, die mit „Der andere Sohn“ einen Reihenauftakt vorlegen, der sich durchaus sehen lassen kann.

Im Mittelpunkt der Handlung steht John Adderley, FBI-Agent aus Baltimore, der nach einem missglückten Undercover-Einsatz gegen ein Drogenkartell eine neue Identität benötigt und zu seiner eigenen Sicherheit von der Bildfläche verschwinden muss. Er entscheidet sich für seine alte Heimat Karlstad im schwedischen Värmland. Ein Entschluss, der sich nicht auf nostalgische Gefühle gründet, sondern dem Umstand geschuldet ist, dass seinem Halbbruder Billy der Prozess gemacht wird. Vor zehn Jahren wurde dieser bereits beschuldigt, für das Verschwinden einer jungen Frau verantwortlich zu sein, aber aus Mangel an Beweisen freigelassen. Die Leiche der Frau wurde zwar nie gefunden, aber offenbar können die Ermittler Fortschritte vorweisen, die es rechtfertigen, den alten Fall wieder aufzurollen. Eingeschleust in das Ermittlungsteam hat Adderley alias Fredrik Adamsson schnell Zweifel an den Methoden und Ergebnissen seiner schwedischen Kollegen, vermutet sogar, dass der wahre Täter aus Polizistenkreisen kommt und Billy als willkommenes Opfer benötigt wird, damit der wahre Täter davonkommt.

Die Story ist komplex, bedient sich zweier Zeitebenen, 2009 und 2019, um zum einen die zurückliegenden Ereignisse als auch die Ermittlungsarbeit in diesem Fall zu schildern. Das sorgt für eine ganz spezielle Dynamik, erzeugt sowohl Abwechslung als auch Spannung, hier merkt man ganz klar den Drehbuchschreiber. Die Personen sind mit ihren Stärken und Schwächen gut und glaubhaft charakterisiert, bieten dann und wann auch immer wieder Situationen zum Schmunzeln, die sich im Wesentlichen aus den kulturellen Unterschieden zwischen dem Amerikaner und den Europäern speisen.

Auch wenn die beiden Autoren das Rad nicht neu erfunden haben, ist „Der andere Sohn“ doch ein solider Kriminalroman und ein lesenswerter Reihenauftakt, weshalb ich John Adderley auch im Auge behalten werde.

Bewertung vom 16.02.2021
Winter Traffic
Greenall, Stephen

Winter Traffic


sehr gut

Sydney, Mitte der Neunziger: Ein Richter wird brutal ermordet, die Ermittlungen gehen nicht voran, das Team wird ausgewechselt. Karen Millar von der Internen übernimmt, unterstützt von DS Rawson, der zwar mit dem Fall vertraut, aber mit den Gedanken nicht bei der Sache ist, was seinem chaotischen Privatleben geschuldet ist. Hochverschuldet durch seine Zockerei, zwangsgeräumt, Familienprobleme. Seinem Gangster-Kumpel Sutton geht’s nicht besser, denn er hat sich mit den Falschen angelegt und wird jetzt von üblen Typen verfolgt. Das könnte ihren letzten Coup, der Geld, viel Geld, in die leeren Kassen spülen soll, durchkreuzen.

Alles, was wir von dem Genre kennen, ist vorhanden: Korrupte Cops, brutale Gangster, Drogen, Prostitution, Glücksspiel, mehrere Morde, blutige Schlägereien, Gewalt in jeder Form, aber auch Freundschaft, Loyalität, Moral und Gerechtigkeit. Die ungewöhnliche Form, die vielen Handlungsstränge und Andeutungen erfordern Aufmerksamkeit, aber Greenall verwebt sie sorgfältig und macht daraus eine runde Story, deren kantiges Personal und schwarze Ironie mir noch länger im Gedächtnis bleiben wird.

Stephen Greenalls Debütthriller als leichte Lektüre zu bezeichnen, die man so nebenbei wegliest, wäre vermessen. Bereits der Aufbau ist ungewöhnlich: drei Handlungsblöcke - Alpha, Beta und Omega – jeder für sich abfallend durchnummeriert, teilweise doppelt oder ins Minus gehend, die Ereignisse nicht linear erzählt. Personen verschwinden unvermittelt aus der Handlung und tauchen später wieder auf, als wenn nichts gewesen wäre, sie führen Selbstgespräche, aber auch innere Dialoge, dazu noch reichlich Verweise auf Musik und Literatur Ein ungewöhnlicher Stil, den sich so noch nie gelesen habe. Es braucht Zeit, bis man damit warm wird und sich in dem geordneten Chaos zurechtfindet. Aber man sollte sich darauf einlassen.

Bewertung vom 15.02.2021
Die Mitternachtsbibliothek (MP3-Download)
Haig, Matt

Die Mitternachtsbibliothek (MP3-Download)


ausgezeichnet

Es ist der Tag, der Nora Seed den Boden unter den Füßen wegzieht. Ihr Kater wird überfahren, sie verliert nicht nur ihre Arbeit, sondern auch noch ihren Nebenjob. Sie zieht Bilanz: Erwähnenswerte Freunde hat sie nicht, ihre Eltern sind tot, zu ihrem Bruder hat sie kaum Kontakt. Kurz, sie fühlt sich einsam, alleingelassen in einer Welt, die nichts Schönes für sie zu bieten hat. Warum also weiterleben? Also beschließt Nora zu sterben, schluckt ihre Antidepressiva. Aber offenbar will selbst der Tod sie nicht haben, ist ihre Zeit noch nicht abgelaufen. Und so landet sie an einem Ort zwischen Leben und Tod, in der Mitternachtsbibliothek, wo sie eine alte Bekannte aus ihrer Kindheit empfängt. Mrs Elm, die Bibliothekarin, führt sie herum und zeigt ihr die Bücher, die allesamt die Möglichkeiten in Noras Leben verkörpern, die sie nicht ergriffen hat und die sie an diesem Ort nun nachholen kann. Ein verlockender Gedanke, mit dem wohl jede/r spielt, der im Rückblick auf sein/ihr Leben mit getroffenen Entscheidungen hadert. Auch für Nora, die natürlich diese Gelegenheit ergreift und ihre alternativen Lebensentwürfe ausprobiert. Und es überrascht nicht, dass sie aus diesen Erfahrungen ihre Lektionen lernt.

Schon die Rahmenbedingung „Mitternachtsbibliothek“ dieses Romans lässt den Schluss zu, dass wir es hier mit einem Märchen zum Thema Depression und Selbstmord zu tun haben. Natürlich kann man die eine oder andere Erkenntnis in das reale Leben übernehmen, zumindest gibt Haig Denkanstöße. Allerdings gleitet er nicht in den Lebenshilfe/Ratgeber-Modus ab, sondern bleibt durch die Konzentration auf seine Hauptfigur in der Fiktionalität. Und das ist auch gut so, denn unterm Strich feiert er mit diesem Roman das Leben mit seinen Schwächen und Stärken.

Das Hörbuch „Die Mitternachtsbibliothek“ ist eine gekürzte Fassung des Romans von Matt Haig, angenehm unaufgeregt und unsentimental gelesen von Annette Frier.

Bewertung vom 14.02.2021
Big Sky Country
Wink, Callan

Big Sky Country


gut

August wächst auf einer Milchvieh-Farm in Michigan auf. Es gibt viel zu tun, jede Hand wird gebraucht. Darwin, der Vater ist ein wortkarger, pragmatischer Typ, tut, was getan werden muss. Und wenn die Katzen auf dem Hof überhand nehmen, muss man sie eben erschlagen. So kommt August zu seinem ersten bezahlten Job: Katze erschlagen, Schwanz abschneiden, auf ein Brett nageln. Pro Schwanz 1 Dollar. Bonnie, die Mutter, ist nicht glücklich mit diesem Leben, träumt sich mit ihren Büchern und Filmen davon und hat sich auch räumlich distanziert. Ist in ein leerstehendes Haus auf dem Grundstück gezogen. Sie wünscht sich ein anderes Leben für ihren Sohn. Deshalb packt sie eines Tages ihre Sachen und überzeugt August, dass er mit ihr geht. Ihr Ziel ist Montana, Big Sky Country, so der Beiname des US Bundesstaates im Nordwesten, wo sie eine Stelle als Bibliothekarin annimmt. August geht zur Schule, spielt Football, erfährt Ablehnung und Freundschaft, die erste Liebe. Ein typisch amerikanisches Teenagerleben. Seine Mutter wünscht sich, dass er aufs College geht, aber er verdingt sich nach seinem Schulabschluss als Hilfsarbeiter auf einer Farm. Die harte Arbeit macht ihm nichts aus, er liebt das menschenleere Land und den weiten Himmel ohne Grenzen. Ist es dieser grenzenlose Himmel, der ihn dazu bringt, sein Leben und seine Möglichkeiten zu reflektieren?

„Big Sky Country“ ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden in einer rauen Welt, einer Männerwelt, in der die Väter ihre Söhne auf das spätere Leben vorbereiten, allerdings ohne Hinweis auf die Möglichkeiten, die noch auf sie warten könnten.

Ein ruhiger Roman, stellenweise melancholisch, es passiert nicht viel, eine lethargische Abfolge wiederkehrender Tätigkeiten. Selten geschieht etwas, aber wenn doch, verwundert den/die Leser/in die Empathielosigkeit der Beteiligten, die des Protagonisten nicht ausgenommen. Das Bild des „harten“ Mannes in der ländlichen Umgebung, das hier transportiert wird, entspricht dem, wie wir es aus den alten Western kennen, Frauen sind quasi nicht existent, und wenn doch, haben sie keinen Einfluss. Die Sprache des Autors ist präzise und klar, meist lakonisch, wenn es um Zwischenmenschliches geht. Zumindest in Ansätzen poetisch wird sie nur dann, wenn es um die Beschreibung der Landschaft geht. Und die Story? Langatmig und ohne Fortschritte, ohne besondere Höhepunkte, alles in allem eher enttäuschend. Aber vielleicht habe ich die Genialität des Autors auch nicht erkannt…

Bewertung vom 11.02.2021
Kim Jiyoung, geboren 1982
Cho, Nam-joo

Kim Jiyoung, geboren 1982


ausgezeichnet

„Kim Jiyoung, geboren 1982“ der Autorin Nam-Joo Cho ist zwar vom Umfang her ein schmales Büchlein, aber inhaltlich ein Werk von enormer Brisanz. Die 200 Seiten kommen zwar als Roman daher, sind aber vielmehr als das. Sie sind eine Bestandsaufnahme eines Frauenlebens nicht nur in asiatischen Gesellschaften, aber in diesem speziellen Fall geht es um Südkorea. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die in den Roman integrierten kommentierenden Passagen, die anhand offizieller Publikationen die Aussagen der Autorin untermauern. Zusätzlich sind zahlreiche Fußnoten mit Bezug zu den Inhalten zu finden.

Das Leben von Kim Jiyoung - der Name ist dem vergleichbar, den wir als Jane Doe aus dem englischen Sprachraum kennen - steht stellvertretend für das aller koreanischen Frauen, unterscheidet sich nicht von dem anderer Mädchen, Töchter, Ehefrauen und Mütter des ostasiatischen Landes. Ein Leben im Korsett der tradierten Moralvorstellungen, der männlichen Erwartungshaltungen, der gesellschaftlichen Vorgaben, die allesamt durch strukturellen Sexismus geprägt sind und sich über die Jahrzehnte kaum verändert haben.

Jiyoung, 33 Jahre alt, verheiratet, seit einem Jahr Mutter, fällt bei einem Familienfest buchstäblich aus der Rolle, nimmt die Persönlichkeit ihrer Mutter an, spricht mit deren Intonation. Sie kann es nicht steuern, und es ist keine, wie ihr späterer Psychiater feststellen wird, dissoziative Persönlichkeitsstörung. Es ist eine psychische Erkrankung, geschieht unbewusst und gibt den Druck und die Diskriminierungen, denen sie ihr gesamtes bisheriges Leben lang ausgesetzt war, auf diese Weise nach außen ab. Ganz gleich, ob in der Familie, der Schule, der Universität oder im Berufsleben, es gibt immer einen Verhaltenskodex, an den sich Frauen aus Sicht der Männer zu halten haben. Und Bildung macht dabei absolut keinen Unterschied. Was bedeutet nun diese Krankheit für Jiyoun? Sie ist „verrückt“, und dies ermöglicht ihr erstmals den Ausstieg aus der Rolle, die ihr die Gesellschaft zugewiesen hat, auch wenn das auf den ersten Blick keine gravierende Veränderung ihrer Lebensumstände bewirkt. Aber die Hoffnung bleibt, dass sich für die nachfolgende Generation das Leben verändern wird.

Auch wenn dieser Roman in Südkorea verortet ist, zeigt er doch ebenfalls mit dem Finger auf westliche Gesellschaften. Lohndumping, keine Frauen in Führungspositionen, die Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung, all das findet sich auch bei uns. Zwar gibt es erste positive Ansätze zur Veränderung, aber noch immer ist viel zu tun. Ein wichtiges Buch, das jede Menge Zündstoff bietet und die Sinne für die Alltagsmisogynie und den systemischen Sexismus sensibilisiert. Lesen!

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.02.2021
Die Experten
Kröger, Merle

Die Experten


ausgezeichnet

Im Nahen Osten brodelt es. Präsident Nasser möchte Ägypten die Vormachtstellung sichern, betreibt in den sechziger Jahren im großen Stil die Aufrüstung gegen Israel. Um die Raketen- und Flugzeugproduktion anzukurbeln, ist er allerdings auf das Know how westlicher Experten angewiesen, die er im großen Stil dafür anwirbt. Auch die Familie des Flugzeugingenieurs Hellberg folgt dem Ruf und übersiedelt nach Ägypten, wobei deren Tochter Rita allerdings erst später nachkommt. Sie ist fasziniert von den Möglichkeiten, die dieses Land im Umbruch bietet und stürzt sich voller Elan in dieses Leben, das so anders als gewohnt ist. Sie arbeitet als Sekretärin für einen Kollegen ihres Vaters und dringt so allmählich in den inneren Zirkel der Experten vor. Erst als sie nach und nach Einzelheiten über deren Vergangenheit, über deren Verflechtungen mit dem NS-Regime erfährt, wird sie hellhörig, sensibilisiert für das, was um sie herum passiert. Zumal sowohl BND als auch Mossad plötzlich Interesse an ihr zeigen. Erkennt, dass die Täter von gestern im Begriff sind, die Täter von heute zu werden, und sie erkennt, dass auch sie eine Entscheidung darüber treffen muss, auf welcher Seite sie stehen will.

Merle Krögers neuer Roman „Die Experten“, auf dem Cover fälschlicherweise als Thriller bezeichnet, verbindet eine Familiengeschichte mit historischen Ereignissen, garniert mit Spannungselementen. In dem ausführlichen Nachwort nennt sie es selbst einen dokumentarischen Roman zwischen historischer Untersuchung und politischem Thriller. Und dass die Autorin unglaublich akribisch recherchiert hat, lässt sich an dem umfangreichen Quellenverzeichnis am Ende des Buches nachvollziehen. Sie stellt die Frage nach dem „cui bono“ historischer Wahrheiten, deren Entstehung, Akzeptanz und Verschwinden. Dabei stützt sie sich auf Dokumente aus der Familiengeschichte von Stefanie Schulte Strathaus, Enkelin eine Flugzeugingenieurs, und verarbeitet diese höchst interessant in einem weitgehend vergessenen Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte. Lesen!

Bewertung vom 02.02.2021
Dein bestes Brot
Erdin, Judith

Dein bestes Brot


ausgezeichnet

Brötchen aus Teiglingen und Brot mit einer Unzahl von dubiosen Zusatzstoffen sind mittlerweile in vielen Bäckereien gang und gäbe. Da die Anzahl der Bäcker, die noch mit Herz und Hand backen ständig abnimmt und Biobäcker eher in Großstädten und weniger in ländlichen Gegenden zu finden sind, gibt es für all diejenigen, die den Geschmack von gutem Brot und Brötchen schätzen, dennoch eine praktikable Alternative: Selber backen. Aber bitte nicht mit den Backmischungen aus dem Supermarktregal.

Für Anfänger (aber auch für erfahrene Hobbybäcker) bietet „Dein bestes Brot“ von Judith Erdin hier nicht nur den idealen Einstieg, sondern enthält auch wertvolle Tipps, die das Brotbacken zu einem Kinderspiel machen. Die Autorin ist ausgebildete Bäckerin-Konditorin und weiß, dass zum einen zuhause üblicherweise nicht das Profi-Equipment der professionellen Bäckereien, wie beispielsweise Hochleistungsöfen, zur Verfügung steht, zum anderen es üblicherweise gerade anfangs an dem entsprechenden Know how fehlt. Deshalb widmet sie letzterem Punkt in einem ausführlichen Theorieteil besondere Aufmerksamkeit. Sie beschreibt das benötige Backwerkzeug, die Zutaten sowie die Zubereitung samt der unterschiedlichen Prozesse wie Kneten, Teiggare, Formen, Backen und Aufbewahrung.

Der Rezeptteil lässt keine Wünsche offen. Vom klassischen Misch-, Weiß-, Dinkel- und Vollkornbrot bis hin zu Foccacia, Wurzelbrot, Hefezopf und dem diversen Kleingebäck wie verschiedene Brötchensorten oder Laugenbrezeln ist für jeden etwas dabei.

Dabei gibt es aber eine Besonderheit, die dieses Backbuch von anderen Publikationen unterscheidet. Erdin stellt 14 Grundrezepte vor, die sie variiert und so aus jedem Ausgangsteig mit einem besonderen Kniff 3 komplett unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Die Zubereitung ist im Detail mit jedem Schritt beschrieben, ruft nochmals ins Gedächtnis, was es zu beachten gilt und sorgt so im Endergebnis für Resultate, die Profiqualität haben.

Zu Beginn des Buches gibt es eine bebilderte, zweiseitige Rezeptübersicht, die die Grundteige samt Variationen auflistet. Ich hätte mir zusätzlich ein alphabetisches Gesamtverzeichnis am Ende des Buches gewünscht, damit man nicht erst die Bilder durchgehen muss um auf die Schnelle ein Rezept wiederzufinden.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.01.2021
Der Solist
Seghers, Jan

Der Solist


sehr gut

„Der Solist“ ist der Auftakt einer neuen Reihe des Autors Jan Seghers, dessen Kriminalromane mit Kommissar Marthaler und Team nicht nur in gedruckter Form vorliegen, sondern auch verfilmt wurden.

Nun schickt er mit Neuhaus - ohne Vornamen - einen neuen Protagonisten ins Rennen. Der neue Einsatzort des Top-Ermittlers vom BKA Wiesbaden ist Berlin. Der Stadt steckt noch immer der islamistische Anschlag von Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt in den Knochen, und es wäre fatal, wenn sich so etwas zum jetzigen Zeitpunkt wiederholen würde, stehen doch die Bundestagswahlen unmittelbar bevor. Deshalb soll Neuhaus der Sondereinheit zur Terrorabwehr SETA unter die Arme greifen. Aber das ist nicht seine einzige Aufgabe, wie sich im Verlauf der Story herausstellen wird.

Und es geht gleich richtig los, denn unmittelbar nach seiner Ankunft wird er zu einem Tatort gerufen. Nahe einer Synagoge wurde der jüdische Aktivist David Schuster erschossen aufgefunden, bei der Leiche liegt ein Bekennerschreiben. Ein „Kommando Ansi Amri“ übernimmt die Verantwortung für diese Hinrichtung. Die Ermordung Schusters kommt zu einem Zeitpunkt, der nicht ungünstiger sein könnte, zumal das nächste Mordopfer, eine muslimische Anwältin, nicht lange auf sich warten lässt. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der „Aufrechten“, einer Partei, die am äußersten rechten Rand angesiedelt ist. Und obwohl der Verantwortliche für die beiden Mordfälle schnell identifiziert ist, stellt sich die Frage nach dessen Auftraggeber.

Neuhaus ist kein Teamplayer, er ist ein Einzelgänger, der nach seinen eigenen Regeln spielt, seine Entscheidungen selbst trifft und außer dem BKA-Präsidenten niemandem Rechenschaft schuldet. Aber selbst der beste Ermittler benötigt dann und wann Unterstützung, und so wird ihm die junge türkischstämmige Suna-Marie, genannt „Grabowski“, zur Seite gestellt. Die Dynamik, die sich aus der Zusammenarbeit dieser beiden doch sehr verschiedenen Typen entwickelt, verleiht diesem Roman eine besondere Note, zumal die junge Kollegin, ein typisches Kreuz-Kölln Gewächs, den Solisten auf ihre unnachahmliche sarkastische Art nicht nur mit den Besonderheiten seines neuen Einsatzortes vertraut macht, sondern auch seiner harten Schale den einen oder anderen Riss zufügt.

Ein sympathisches Team, eine spannende Story mit Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen, eine versierte Sprache, die ohne Umwege auf den Punkt kommt, von Beginn an durchgängig hohes Erzähltempo mit gut platzierten Cliffhangern…was will man mehr?

Dennoch gibt es zwei Punkte, die den guten Eindruck trüben. Zum einen hört Neuhaus im Auto das Lied von Tom Waits‘ "In a cold cold ground". Das ist der Originaltitel des ersten Buchs aus Adrian McKintys Sean-Duffy-Reihe "Der katholische Bulle". Hmm.

Und dann ist da noch der Hintergrund von Neuhaus' Mutter, die eh nur am Rande vorkommt. Ehemalige RAF-Sympathisantin? Das haben wir doch schon einmal gelesen. Richtig, bei Horst Eckert. Die Mutter seines Protagonisten Vincent Veih kommt auch aus dieser Ecke. Wenn das Verneigungen vor diesen Autoren sind, ist es für mich ok, aber hätte man kenntlich machen sollen.

Bewertung vom 27.01.2021
Anne Boleyn / Tudor-Königinnen Bd.2
Weir, Alison

Anne Boleyn / Tudor-Königinnen Bd.2


sehr gut

“Divorced, Beheaded, Died: Divorced, Beheaded, Survived”. Ob die englischen Schüler im Geschichtsunterricht noch immer diesen Reim lernen, um sich an das Schicksal der sechs Ehefrauen des Tudorkönigs Heinrich VIII. zu erinnern, ist mir nicht bekannt, aber zumindest kann man an sich dieser Reihenfolge das Schicksal von Heinrichs Gemahlinnen merken. Mein Interesse gilt besonders Anne Boleyn, derjenigen mit der interessantesten Geschichte.

Sie ist eine faszinierende Persönlichkeit. Wenn man sie im Kontext der damaligen Zeit sieht, ist sie eine Ausnahmeerscheinung, was bestimmt auch ihrem Aufenthalt als Hofdame im Ausland geschuldet ist, der die Heranwachsende geprägt hat. Das Leben in Flandern am Hof von Margarete, der habsburgischen Statthalterin der Niederlande, hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei ihr, die starke Monarchin ist ihr ein Vorbild, hält sie dazu an, ihre Rolle als Schachfigur im adligen Heiratskarussell zu hinterfragen, kümmert sich um ihre Ausbildung. Der Wechsel an den französischen Königshof hingegen verpasst ihr nur noch den letzten Schliff bezüglich des Verhaltens in den Kreisen des Hochadels. Sie ist gebildet, mutig und willensstark, aber auch überambitioniert. Hat klare Vorstellungen davon, was sie will und wie sie ihr Ziel erreichen kann. Dass ihr das später um die Ohren fliegen und mit ihrer Hinrichtung enden wird, hat sie allerdings nicht einkalkuliert.

In dem vorliegenden Roman nutzt die Historikerin Alison Weir die verbrieften Fakten, die sie bereits in ihrem vor fünfundzwanzig Jahren erschienenen Sachbuch „The Six Wives of Henry VIII:“ zu Anne Boleyn zusammengetragen hat, fügt eine ordentliche Menge Tudor-Glamour sowie eine große Portion Drama hinzu und verknüpft so auf gekonnte Weise Fakten und Fiktion. Das Ergebnis ist ein farbenprächtiger historischer Roman, in dem uns die Autorin an Anne Boleyns kurzem Leben teilhaben lässt. An den Jahren als Hofdame, an ihrem Aufstieg am englischen Hofe bis hin zu ihrer Krönung, aber auch an ihrer zunehmenden Verzweiflung, als der geforderte männliche Erbe ausbleibt und Heinrich VIII. ihrer überdrüssig wird (damals weiß er allerdings noch nicht, dass die gemeinsame Tochter Elizabeth als die spätere Königin 45 Jahre lang höchst erfolgreich die Geschäfte führen wird). Heinrich VIII. bezichtigt Anne des Ehebruchs sowie des Hochverrats, lässt ihr den Prozess machen und schickt sie schlussendlich auf das Schafott.

Mit Hilary Mantels Cromwell-Trilogie, die im gleichen Zeitraum angesiedelt ist, kann und sollte man diesen Roman nicht vergleichen, denn die Booker Prize Gewinnerin spielt in einer anderen Liga. Aber dennoch ist „Anne Boleyn: Die Mutter der Königin“ sehr empfehlenswert, weil er sowohl historisch korrekt als auch unterhaltsam und gut lesbar geschrieben ist, und so vielleicht den/die eine/n oder andere/n dazu motiviert, sich etwas näher mit dieser spannenden Periode der englischen Geschichte zu beschäftigen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.