Bewertungen

Insgesamt 577 Bewertungen
Bewertung vom 17.11.2007
Alfred Hitchcock
Spoto, Donald

Alfred Hitchcock


ausgezeichnet

Wer sich wünscht, einmal ein großer Filmregisseur zu werden, der sollte Donald Spotos Biografie über Alfred Hitchcock lesen. Hitchcock hat zeitlebens unter der eigenen Unzulänglichkeit gelitten, für die er nicht selten einen filmischen Ausdruck gefunden hat. Für ihn war Film die Arbeit am Drehbuch, die er mit wechselnden Autoren akribisch bis in die letzte Sequenz vorbereitete. Er galt als einer der innovativsten Filmschaffenden bis in die Sechziger Jahre hinein, als ihn die Arbeit mehr und mehr zur Last fiel. Spoto wirft sein Licht auf den Menschen hinter der Kamera, der dazu imstande war, Meisterwerke der Kinematographie zu hinterlassen und der gleichzeitig für seinen Spott und Sarkasmus berüchtigt war. Ein starker Regisseur, der den Aufstieg zur Legende hartnäckiger Arbeit zu verdanken hatte, und ein schwacher Menschen, für den das Essen und später in zunehmendem Maße das Trinken lebensfüllend wurde. Spotos Biografie holt den Menschen Hitchcock hinter der Kamera hervor, setzt ihn ins Licht und zeigt uns, was es bedeutet, die eigenen Abgründe szenisch zu bebildern. Gleichzeitig liefert er eine faszinierende Geschichte der Filme, die der Regisseur hinterlassen hat. Alfred Hitchcock ist ein Großer des Films, aber der Preis war hoch, den er dafür zahlen mußte und andere zahlen ließ.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 17.11.2007
Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot
Beckett, Samuel

Warten auf Godot. En attendant Godot. Waiting for Godot


ausgezeichnet

Die Verzweiflung läßt sich nur ertragen, indem man sie auslacht. Es gibt viele tiefsinnige Analysen dieses Stücks. Sie reichen vom großen politischen Welttheater bis in die Niederungen tiefster philosophischer Erkenntnisse. Allen berühmten Stücken geht es so. Wir können sie nicht in Ruhe lassen, sie müssen gedeutet werden. Je länger sie auf dem Spielplan stehen, desto länger die Fußnoten, die Regisseure, Humanisten, Lehrer, Kritiker, Zuschauer, Leser ihnen anhängen. Das Spielerische geht dabei oft verloren und die Last der Verantwortung erdrückt die Figuren. Warum sollen wir nicht warten? Wenn das Leben sowieso ein einziges Warten ist. Und dann noch auf einen gewissen Godot. Den niemand kennt, niemand getroffen hat. Beim Widerlesen glaubt man das Stück zu kennen, doch taucht immer wieder dieses leichte Schmunzeln auf, das sich über die Jahre gehalten hat. Und dieses Lächeln über uns selbst, ist vielleicht das, was Beckett, wo er auch sei, schallend über sein Endzeitdrama lachen läßt. Eines der größten Stücke überhaupt, weil es so bescheiden ist. Wer kam vor Beckett schon mit so wenig Bühnenbild aus? Ich wage die Prognose, daß sich in hundert Jahren alles noch um diesen Baum dreht. Nicht wahr, Godot?
Polar aus Aachen

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.11.2007
Die Musik des Zufalls
Auster, Paul

Die Musik des Zufalls


ausgezeichnet

Wer Paul Auster als Leser verfallen will, sollte Die Musik des Zufalls lesen. Dieser Autor, bei dem man nie weiß, ob sein nächstes Buch einen verärgert oder mit magischer Prosa verwöhnt, zeigt hier all seine Stärken. Am Ende eines Tunnels bilden sich die vom Schicksal Gebeutelten ein, ein Licht zu sehen. Die Pessimisten unter uns erkennen darin einen nahenden Zug. Jim Nashe verliert Frau und Kind, der Vater stirbt und dann erbt er doch glatt zweihunderttausend Dollar. Licht oder Zug? Als guter Amerikaner macht er sich auf die Reise, erlebt ein Road Movie und lernt Menschen kennen, denen er in der Ehe mit seiner Frau nie begegnet wäre. Und dann driftet mit Jack Pozzi die Geschichte wie häufig bei Auster ins real Surreale ab, und eine Mauer spielt eine entscheidende Rolle im Leben der beiden. Das clownesk Absurde seines Pozzi erinnert an eine wunderbar ähnliche lautende Figur aus Samuel Beckett Stück Warten auf Godot: Pozzo. Zufall oder beabsichtigt? Eine betörend leichte Geschichte, bei der zwei Menschen glauben, nichts zu verlieren zu haben, und doch auf der Suche nach sich selbst sind. So entscheidet der Zufall über das Licht oder den Zug im Tunnel, aber weil Auster dies zu banal ist, schreibt er einen verschrobenen, verrückten Roman darüber.
Polar aus Aachen

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.11.2007
Sein letzter Fall / Van Veeteren Bd.10
Nesser, Hakan

Sein letzter Fall / Van Veeteren Bd.10


ausgezeichnet

Wenn Autoren Kommissare so aufbauen, daß sie sich zu einer Reihe von Romanen eignen, sie darüber hinaus Erfolg damit haben, ist es schwer, sich von einem Protagonisten zu verabschieden, selbst wenn die Romane von Mal zu Mal sich davon nährt lebt, daß der Leser sich wie in seinem eigenen Wohnzimmer vorkommt. Hakan Nesser und sein Alter ego Van Veeteren sind in die Jahre gekommen und schleppen sich im letzten Fall zum vermeintlichen Ende, obwohl der Autor sich die Tür offen hält, ihn wiederzubeleben. Eine tote Frau im Swimmingpool, ein guter alter Bekannter, der sich eine neue Identität verliehen hat und viele hundert Seiten, in denen die bewährte Dramaturgie der Van Veeteren Fälle aufgewärmt wird, kann man nichts als gelungen bezeichnen. Es taucht nichts Überraschendes in dem Plot auf. Die finstere, böse Seite eines alten Schulfreundes eignet sich höchstens für eine schaurige Gute-Nacht-Geschichte beim zum Klassentreffen. Was an Spannung einst die Geschichten ausmachte, geht hier in Rente. Behaglich, beschaulich, spannungslos wie der Freitagabendkrimi im ZDF.
Polar aus Aachen

0 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.11.2007
Divisadero
Ondaatje, Michael

Divisadero


weniger gut

Manchmal kann es ein Fluch sein, ein guter Autor zu sein. Man wird an seinen früheren Büchern gemessen, und jede Neuerscheinung unter dem Gesichtspunkt gelesen, ob der Autor das Niveau noch einmal erreicht. Doch selbst ohne diese Vorgabe ist Divisadero eher dürftig. Wer Der Englische Patient oder Anil's Geist schätzen gelernt hat, wird von Ondaatjes neuem Roman enttäuscht sein. Zwar spielt sich auch in ihm eine komplexe Geschichte auf verschiedenen Zeitebenen ab, doch fehlt die große zeitgeschichtliche Klammer, die Ondaatjes Romane ausmacht. Dort wirken seine Protagonisten wie von der Zeit durchgerüttelt, in der sie leben, und ihre Schicksale spiegeln sich an der Unausweichlichkeit der Ereignisse, die von außen in ihr Leben drängen. Anders die Dreiecksgeschichte in Divisadero. Sie bricht in ein Davor und Danach auseinander, wird mutwillig gekappt. Kaum ist sie in Schwung gekommen und schon verlieren sich Claire, Anna und Cooper wieder, um reichlich konstruiert noch einmal zusammen zu finden. Natürlich vermag Ondaatje auch in diesem Roman betörend schöne Erzählpassagen zu schreiben, doch zerfasert seine Geschichte. An dem von Anna nacherzähltem Lebenslauf des Schriftstellers Lucien Seguras ist man angesichts der Tatsache nicht wirklich interessiert, daß man gerne mehr über die anderen Drei erfahren hätte. Zumal Seguras Geschichte vor dem Hintergrund des Krieges gelegentlich ins Klischee abdriftet. So bleiben wir als Leser erwartungsfroh, diesmal verdrossen zurück und hoffen auf den nächsten Roman.
Polar aus Aachen

1 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2007
Weiße Nacht / Rebecka Martinsson Bd.2
Larsson, Åsa

Weiße Nacht / Rebecka Martinsson Bd.2


ausgezeichnet

Kein Buch der schnellen Schnitte, der sich überschlagenden Handlung, überraschenden Wendungen. Nach Sonnensturm der zweite Roman von Asa Larsson, der einen wieder in das Pastoren-Milieu Schwedens trägt und die bewährten Protagonistinnen, die Anwältin Rebecka Martinsson und die Kommissarin Anna-Maria Mella, zusammenbringt. Wieder ist man überrascht, mit wie wenig an handelsüblichem Thriller die Autorin auskommt. Ein Kammerspiel im Abseits. Die Welt dort oben ist überschaubar. Die Speisekarte bietet das Tagesgericht und Tiefkühlkost. Der Fall ist spektakulär, trotzdem verfällt man dem Erzählfluss, den Charakteren, die sich um eine Pastorin drehen, die mit emanzipatorischer Wucht Althergebrachtes in Frage stellt und aufgehängt in ihrer Kirche gefunden wird. Wir erleben, wie die Einsamkeit das Leben in der Gemeinde zuschnürt. Wie die Mitgliedschaft in einer Jagdgesellschaft zur Auszeichnung wird. Wie ein Vater seine Familie terrorisiert. Hahnenkämpfen zwischen einer weiblichen Pastorin und ihrem männlichen Gegenüber den Alltag bestimmt. Alles nicht spektakulär, nicht in blutgetränkt, aber in diesen Reihen wächst ein Mörder heran. Leise klingt das nach. Einfühlsam wird Rebecca Martinssons Kampf mit dem Folgen ihres Mordens am Ende von Sonnensturm beschrieben und die verschiedenen Erzählstrtöme gebündelt. Asa Larsson läßt uns am Ende verstört mit dem Schrecken einer Überlebenden zurück. Eine leise Geschichte, die ihre Spannung weit spannt.
Polar aus Aachen

1 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.11.2007
Die Komplizen
Simenon, Georges

Die Komplizen


sehr gut

Fahrerflucht, geschieht aus Panik vor den Folgen, vor dem eigenen Versagen. Für Schuldgefühle bleibt in diesem Moment keine Zeit. Die meisten hoffen, daß niemand sie gesehen hat. Die Entscheidung fällt zwischen der Bremse und dem Gaspedal. Joseph Lambert hat viel zu verlieren, und er entscheidet sich gegen die Hilfe. Ein Schulbus verunglückt seinetwegen, lähmt eine Stadt angesichts der Katastrophe, während Lambert an nichts anderes denkt, als seine Existenz zu retten. Das alles wegen einer Liebschaft zu seiner Sekretärin, die so eingefahren scheint, daß sie nicht viel Zukunft verspricht. Simenon entwickelt einmal mehr die Schuld aus dem Zufall, dessen Wurzeln allerdings soweit zurückreichen, daß er fast so wirkt, als sei er unausweichlich. Joseph Lamberts Leben unterliegt dem Schein von Verantwortung und Respekt, dem ihm gegenüber gebracht wird. Für die Liebe ist da vielleicht in der Jugend Platz oder in den Stunden gewesen, die er abzweigt, um einen Seitensprung zu wagen. Simenon feilt auch in diesen Roman weiter an seinem großen Bilderbogen des bürgerlichen Scheiterns, das selten sichtbar wird und wenn unweigerlich mit der Vernichtung endet.
Polar aus Aachen

Bewertung vom 08.11.2007
Als wir träumten
Meyer, Clemens

Als wir träumten


sehr gut

Clemens Meyer ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur. Er schert sich nicht um die literarhistorische Tradition der Nachkriegszeit, er verfällt nicht der Dreiecksbeziehung des "ich habe eine große Liebe, aber sie geht mit einem anderen ins Bett" oder puscht Geschichten mit tiefgründigem philosophisch Aufgewärmten, auch sucht man vergeblich nach Esoterischem, nach Mainstream. Meyer schaut sich um, erzählt von dem, was er sieht. Das geht weit über den Bukowski-Kosmos der individuellen Verweigerung hinaus. Saufen ist nicht Lebenszweck, saufen tun alle, schlagen tun alle. Is so. Wenn schon alles den Bach runtergeht, dann wenigstens cool bleiben. Clemens Meyer besitzt die Sprache, um davon zu erzählen, wie man von der Zeit überrollt wird, nicht dagegen ankommt und trotzdem nicht depressiv wird. Solange ich schreie, lebe ich. Ob Leipzig begreift, daß hier ein Autor einen Roman über eine Stadt geschrieben hat, wie Thomas Mann es für Lübeck in seiner Zeit getan hat? Thomas Mann ist das nicht zu hoch gegriffen, werden die Literaturschergen fragen. Was sonst vermag gute Literatur, als ihre Zeit einzufangen? Zahnlos kommt der Autor dabei nicht daher. Er besitzt ein hohes Tempo und den notwendigen Humor, über seine Helden zu lachen. Gut so, Clemens Meyer.
Polar aus Aachen

11 von 11 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2007
Wie der Soldat das Grammofon repariert
Stanisic, Sasa

Wie der Soldat das Grammofon repariert


sehr gut

Das Erfinden von Geschichten rettet den Jungen in diesem Roman. Seien sie noch so abstrus, teilweise dem Klischee zugeneigt, vermag man sich beim Lesen nicht dem Humor des Autors zu entziehen. Wir folgen Alexander bei dem Versuch, in der Zeit danach zu Recht zu kommen. Wir begleiten ihn auf seinem Weg, dem Schrecken des Bosnienkriegs zu entfliehen, seine Heimat in die Fremde hinüber zu retten. Visegrad kann überall sein, solange jemand an die Menschen dort denkt. Dabei verschweigt der Autor nicht, daß Krieg alles zerstört hat, nur die Phantasie sie wieder zum Leben erweckt. Es ist nicht der schlechteste Weg einem Trauma zu entfliehen, indem man es nur soweit an sich heran läßt, daß man sich gedrängt fühlt, Geschichten von Menschen zu erfinden, die untergegangen und nur noch am Leben sind, weil sich jemand an sie erinnert. Die Hardliner mögen behaupten, daß dies niemandem weiterhilft, die Grausamkeit der Realität ausgespart wird, doch wer diese sucht, dem seien andere Roman und Sachbücher angeraten. Grotesk und erschütternd kommt Wie der Soldat das Grammofon repariert daher, als behaupte da jemand, daß er sich die Heimat von niemandem nehmen lasse. Nicht einmal von der Wirklichkeit.
Polar aus Aachen

6 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.11.2007
Die Vermessung der Welt
Kehlmann, Daniel

Die Vermessung der Welt


sehr gut

Was macht diesen Roman so erfolgreich neben der Tatsache, daß er irgendwann zum Selbstläufer wurde und hundertfach ungelesen in den Bücherregalen bei jenen endete, die keinen Trend verpassen wollen? Humboldt und Gauß sind nicht unbedingt die Helden, die eine Marktanalyse herausfiltern, über die man unbedingt ein Buch schreiben sollte. Selbst im Erscheinungsjahr, im Humboldt-Jahr nicht. Also muß es am Autor liegen, an der Art, wie er die Geschichte erzählt, an seinem Humor, an seiner Fähigkeit Dialoge pointiert kurz zu halten. Als Leser folgt man seinen Beobachtungen, die sich zumeist auf das Wesentliche konzentrieren, aus der Flut einen minimalen Erzählstrom filtert, der historische Persönlichkeiten wie Humboldt und Gauß äußerst menschlich dastehen lassen.
Polar aus Aachen

7 von 12 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.