Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2019
Herr der Fliegen
Golding, William

Herr der Fliegen


ausgezeichnet

Bellum omnium contra omnes

Sir William Golding, geadelter britischer Schriftsteller und Nobelpreisträger für Literatur, stieß mit seinem Debütroman «Herr der Fliegen» bei mehr als zwanzig Verlagen auf entschiedene Ablehnung, ehe ein beherzter Lektor doch noch das Potential dieses Buches erkannte und es 1954 herausbrachte. Auf Anhieb ein Bestseller im englischen Sprachraum, zählt sein Roman seither zum Kanon der britischen Literatur. Golding erhielt 1983 den Nobelpreis «für seine Romane, die mit der Anschaulichkeit realistischer Erzählkunst und der vieldeutigen Allgemeingültigkeit des Mythos menschliche Bedingungen in der heutigen Welt beleuchten», - er konnte später aber nicht mehr an den Erfolg seines Erstlings anknüpfen. Mit der neuen Übersetzung von Peter Torberg wurde der Roman 2016 sprachlich entstaubt und gehört damit nach wie vor zur literarischen Spezies der Pageturner, die man nur ungern aus der Hand legt, bevor man das Ende erreicht hat.

In seiner Robinsonade lässt der Autor eine Gruppe von 6- bis 12jährigen britischen Jungen bei einem Flugzeugabsturz auf einer unbewohnten Südseeinsel stranden. Nach dem anfänglichen Schock versammelt einer der älteren Jungs, der charismatische Ralph, die Kinder am Strand und versucht, Ordnung in die herumwuselnde Knabenhorde zu bringen. Er wird als der offensichtlich Vernünftigste zum Anführer gewählt. Man beschließt regelmäßige Versammlungen, die er jeweils durch das Blasen einer großen, hornartigen Schneckenmuschel zusammenruft. Sie wird damit zum Symbol für Disziplin, das Wort ist in der Versammlung jeweils dem Jungen erteilt, dem die Muschel übergeben wurde. Als wichtigste Maßnahme wird ferner beschlossen, durch den Rauch eines permanent brennenden Feuers vorbeifahrende Schiffe auf die Insel aufmerksam zu machen, dies ist die einzige Chance zur Rettung. Ein Teil der Kinder kommt aus einer Eliteschule, deren Uniform sie tragen und deren Chor sie angehören, ihr Anführer ist der ungestüme Jack. Die so urplötzlich dem Einfluss der Erwachsenen entzogenen Kinder ignorieren ihnen anerzogene Regeln und Werte, sie verhalten sich, von Jack angestiftet, zunehmend aggressiv und rücksichtslos. Zwischen Ralph und dem sich zurückgesetzt fühlenden Jack entwickelt sich schon bald eine offene Rivalität.

Diese Parabel von den metaphysischen Grundlagen menschlicher Existenz, verdeutlicht am Beispiel bis dato unschuldiger Kinder, die erstaunlich schnell verrohen und all die ihnen mühsam vermittelten elementaren Werte vergessen, hat kontroverse Diskussionen ausgelöst und zu vielerlei Deutungen angestiftet. William Golding entwickelt äußerst geschickt seine mit reichlich Symbolik aufgeladene, anthropologische Thematik in all ihren psychologischen und soziologischen Aspekten, sie erinnert in ihrer allegorischen Darstellung an die Vertreibung aus dem Paradies. Dabei bildet der hinreißend beschriebene, exotische Ort des Geschehens einen konträren Hintergrund für eine unaufhaltsame Eskalation, in der das Faustrecht obsiegt und die friedliche Insel in ein Inferno der Gewalt verwandelt, bei dem es schließlich sogar zwei Tote gibt. Besonders verstörend ist, welches ungeahnte Gewaltpotential den eigentlich ja für Unschuld stehenden Kindern bereits angeboren scheint und damit eine solche soziale Fehlentwicklung überhaupt erst möglich macht.

So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen, erinnert der Roman auch an ein Nazideutschland, dessen angeblich nichtsahnendes Volk durch geflissentliches Wegschauen einer politischen Mörderbande zumindest den Weg bereitet hat, sofern es nicht selbst mehr oder weniger aktiv beteiligt war. In diesem zivilisationskritischen Roman werden aus den harmlosen Kindern gewaltbereite Mitläufer einer skrupellosen, machtbesessenen Führerfigur, womit der Autor die innere Dynamik realer Herrschaftssysteme offenlegt. Er weist damit auf den Naturzustand der Menschheit hin, den schon Thomas Hobbes als «bellum omnium contra omnes» beschrieb.

Bewertung vom 21.07.2019
Die Familie
Maier, Andreas

Die Familie


schlecht

So lau wie stilles Wasser

Als siebter Band der Buchreihe «Ortsumgehung» von Andreas Maier ist kürzlich, dem aktuellen Trend zu autofiktionaler Literatur folgend, der Roman «Die Familie» erschienen. Wobei für den Autor bereits das Genre seines Buches fragwürdig ist, ein Roman im eigentlichen Sinne sei es nicht, hat er im Interview erklärt, er bevorzuge einen weit weniger starren Aufbau, der aus seinen Figuren heraus entstehe. «Ich hatte nie einen Überblick», erklärt er ergänzend. Nur alle Titel der Buchreihe hätten für ihn von Anfang an festgestanden, was sich in den einzelnen Büchern dann aber entwickeln würde, das sei ihm vorher nie bewusst. Deshalb habe jeder Band «eine schöne Unabhängigkeit», was Form und Inhalt anbelangt. Zu seinen literarischen Vorbildern zählt er Peter Kurzeck, dessen sechsteilige Romanreihe ähnliche narrative Ambitionen aufweist. Bei seinem eigenen, auf elf Bände angelegten Großprojekt thematisiert der vorliegende, eigenständig lesbare Band die Familie von Andreas Maier. Er schreibt darin über mafiöse familiäre Strukturen, die er zu erkennen glaubt, innerlich würden Kriege toben, nach außen hin aber trete man als verschworener, undurchdringlicher Clan auf.

«Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihre eigenen». Der Ich-Erzähler blickt ungewöhnlich distanziert auf seine Angehörigen, er bezeichnet sie als Avatare in der chronologisch erzählten Geschichte vom allmählichen familiären Verfall. Sie beginnt in seiner schon fast idyllischen Kindheit auf dem riesigen Gelände der einst vom Urgroßvater als Steinmetz aufgebauten, jahrzehntelang prosperierenden Firma im hessischen Städtchen Friedberg in der Wetterau. Sein Vater ist ein der CDU nahestehender Jurist, die toughe Mutter führt nach dem Tode des Großvaters jahrelang den Familienbetrieb, sein fünf Jahre älterer Bruder schließlich opponiert gegen die erzkonservativen Eltern, er setzt sich von der Familie ab und lässt nichts mehr von sich hören. Auch die Schwester ist unangepasst, sie führt ein chaotisches Leben auf Kosten der Eltern, bekommt Kinder von verschiedenen Männern, verschwindet öfter mal unmotiviert und ohne Nachricht ganz plötzlich - und lässt dann ihre Kinder allein zurück. Die von Kontaktabbrüchen und gegenseitigen Schuldzuweisungen geprägte Familie hält jedoch mafiaartig zusammen, wenn es darauf ankommt. Ein Paradebeispiel dafür ist der illegale Abbruch einer unter Denkmalschutz stehenden Mühle auf dem ehemaligen Werksgelände, das als Baugrund teuer verkauft werden könnte, - dieser Verstoß wird prompt mit einer Strafe in Millionenhöhe belegt. In listenreich geführten Prozessen gelingt es dem Clan aber doch, die Strafe abzuwenden.

Auf die viele Jahre lang immer wieder gestellte Frage des Ich-Erzählers nach familiären Verstrickungen während der Nazizeit erhält er von seiner Mutter stereotyp die gleiche Antwort: «Aber wir haben den Juden doch sogar Brand gegeben», - mit Brand ist hier Brennholz gemeint. Mehr ist aus der Mutter nie herauszubekommen. Eine für den Ausgang dieser Suche nach Wahrheit entscheidende Rolle kommt schließlich der Tochter des örtlichen Buchhändlers zu, sie hat herausgefunden, dass all der Wohlstand der angesehenen Steinmetz-Dynastie sich auf einem in der Nazizeit begangenen Unrecht an einem wohlhabenden Juden gründet.

Der mit einer Arbeit über Thomas Bernhard promovierte Andreas Maier, der wegen des lokalen Kolorits seiner Bücher als moderner Heimatschriftsteller gilt, hat mit dieser Familiengeschichte einen wenig originellen Beitrag zur modischen, autofiktionalen Literatur geleistet. Des Autors philosophische Erkenntnis: «Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts», hebt sein Schreiben über sich selbst, jenen Bernhardschen «Herkunftskomplex», nicht wirklich in literarische Höhen. Im Gegenteil, was da so uninspiriert und nüchtern, fast lakonisch erzählt wird von dieser Familie, das ist langweilig wie das Betrachten fremder Fotoalben, - so lau wie stilles Wasser!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.07.2019
Es hätte mir genauso
Smith, Ali

Es hätte mir genauso


sehr gut

Anspruchsvolle literarische Nische

Die in Großbritannien sehr geschätzte schottische Schriftstellerin Ali Smith hat in ihrem 2012 erschienenen Roman mit dem kryptischen Titel «Es hätte mir genauso» wieder eines der für sie typischen Prosawerke geschrieben, in denen die schiere Lust an der Sprache rigoros die schnöde Realität verdrängt. Als ehemalige Literaturdozentin benutzt sie gekonnt alle Facetten der Diktion und entlarvt ihren zweifellos statusabhängigen Wert. Im Jahre 2015 wurde sie durch die Aufnahme als Commander in den Ritterorden «Order of the British Empire» geehrt, Ali Smith erhielt ferner diverse britische Buchpreise, der vorliegende Roman wurde von einer professionellen 82köpfigen, nichtbritischen Jury sogar in den BBC-Kanon der hundert bedeutendsten britischen Romane aufgenommen. In Deutschland ist sie so gut wie unbekannt und besetzt mit ihrer ureigenen Poetologie allenfalls eine anspruchsvolle literarische Marktnische. Aber gerade in die hineinzuleuchten ist ja manchmal überaus lohnend für aufnahmebereite, wissbegierige Leser.

Der Roman beginnt mit dem unsinnigen, geradezu widersprüchlichen Satz «Tatsache ist, denk dir einen Mann, der in einem Gästezimmer auf einem Hometrainer sitzt», gleich am Anfang also geraten bereits Realität und Fiktion narrativ in Kollision. In vier mit jeweils einem der Wörter des Buchtitels überschriebenen Kapiteln erzählt die Autorin eine aberwitzige Geschichte, die mit einer Dinnerparty im Londoner Stadtteil Greenwich beginnt. Mark, einer der Gäste bringt überraschend einen Freund mit, Miles Garth, eine Zufallsbekanntschaft vom Vortage. Die Runde diskutiert eifrig, als Miles sich vor dem Dessert erhebt, ins Obergeschoss verschwindet und nicht mehr von dort zurückkommt, er hat sich ins Gästezimmer eingeschlossen und antwortet auch nicht, als die Gastgeber an die Tür klopfen und ihn rufen. Das bleibt dann so, er wird als ungebetener, monatelanger Dauergast schließlich sogar berühmt, sein Fall spricht sich herum, bald schon wird das Haus von gaffenden Fans belagert, sind Fernsehteams vor Ort, etablieren sich bereits Merchandising-Verkäufer, obwohl Miles sich nicht sehen lässt und mit niemandem spricht. Genüsslich karikiert Ali Smith mit diesem Hype als Rahmengeschichte die sensationsgeile Massengesellschaft und stellt ihr dann in den folgenden Kapiteln seine eigentlichen Protagonisten gegenüber.

Da ist zunächst Anna, die mit Miles vor Jahrzehnten eine Europareise unternommen, ihn aber seither völlig aus den Augen verloren hat, sodann Mark, den mit Milo, wie die Menge Miles inzwischen nennt, eine homoerotische Neigung verbindet, schließlich die demente May, deren Mark sich bei ihrem Ausbruch aus der Klinik liebevoll annimmt. Aber die neunjährige Brooke, ein äußerst wissbegieriges, vorlautes Mädchen aus der Nachbarschaft, ist die eigentliche Schlüsselfigur des Romans, ihre Gespräche mit den Eltern, beide Akademiker offensichtlich, gehören zu den ebenso amüsanten wie intellektuellen Höhepunkten des Romans. Speziell in diesen köstlichen Dialogen, und mit der ungebremsten kindlichen Schwatzhaftigkeit, demontiert Ali Smith aus ungewohnter Perspektive genüsslich weitverbreitete Erwartungshaltungen, entlarvt gängige Klischees, eine narrative Methode, die man auch aus anderen ihrer Werke kennt.

Ohne Zweifel ist die Geschichte selbst nur ein Vehikel der Autorin. Ihr geht es erkennbar um das Spiel mit Sprache, das sie ganz unprätentiös und mit leichter Hand, mit Witzen, abgedroschenen Phrasen und kreativen Wortspielen in ihre Erzählung einbringt. Bei allem Wortzauber, den derzeit unter den deutschsprachigen Autoren kaum jemand ähnlich virtuos beherrscht, ist letztendlich die Sprachkritik ihr Anliegen. Dabei bleibt der Plot nebensächlich, selbst den Grund für die Verbarrikadierung von Miles lässt sie offen, keine Lektüre also für handlungsorientierte Leser. Die anderen aber werden ihren Lesegenuss zweifelsohne finden.

Bewertung vom 12.07.2019
Farm der Tiere
Orwell, George

Farm der Tiere


sehr gut

Der Mensch ist ein Schwein

George Orwell ist durch seine 1945 veröffentlichte sozialkritische Fabel «Farm der Tiere» weltbekannt geworden, ihr folgte wenig später mit «1984» eine ebenso berühmte politische Dystopie. In scharfer Form attackiert der britische Autor in seiner märchenartigen Geschichte von der Machtübernahme der Tiere auf einer englischen Farm den sowjetischen Kommunismus, schon in seinem Buch «Mein Katalonien» über seine Kriegserlebnisse während des Spanischen Bürgerkriegs hatte er vehement gegen den Stalinismus angeschrieben. Nun war aber die UDSSR als Alliierter im Zweiten Weltkrieg quasi sakrosankt, jedwede Kritik unerwünscht, die Veröffentlichung dieser dezidiert sowjetfeindlichen Fabel erwies sich als recht schwierig. Was der überzeugte Sozialist Orwell zum Anlass nahm, in einem Nachwort ein leidenschaftliches Plädoyer für die Pressefreiheit zu halten und die Servilität seiner Landsleute dem verbündeten Russland gegenüber heftig anzuprangern.

Dieses Buch ist eine Parabel auf die Geschichte der Sowjetunion, die auch hier mit einer Revolution der Unterdrückten gegen die herrschende Klasse beginnt, auf dem Bauernhof der Fabel verkörpert durch den Menschen, der die Tiere brutal ausbeutet. Nach einem Traum von einer besseren Zukunft ruft der alte Eber als Primus inter Pares die Tiere der Farm zu einer nächtlichen Versammlung in die Scheune, er erzählt begeistert seinen Traum und fordert alle zur Revolution auf. Der Mensch sei die Wurzel ihres Übels, er müsse nur verjagt werden, dann könnten die Tiere die Farm übernehmen und in eigener Regie ausschließlich zum eigenen Nutzen betreiben, so seine Vision. Ihre Revolte ist erfolgreich, alle Menschen werden von der Farm verjagt. Charismatischer Nachfolger des verstorbenen alten Ebers wird nun Napoleon, er und seine Artgenossen erweisen sich als die schlauesten und übernehmen die Führung der tierischen Genossenschaft. Man legt Regeln für das künftige Zusammenleben fest, ein Denksystem, in dem alle gleiche Rechte und Pflichten haben, formuliert als «Animalismus» in sieben Geboten, die in Großbuchstaben an die Wand der Scheune gemalt werden. Trotz einiger herber Rückschläge gedeiht die «Farm der Tiere», allen geht es deutlich besser als unter den Menschen. Allmählich aber bröckelt der hehre Gleichheitsgrundsatz, Napoleon wird immer selbstherrlicher, die Schweine entwickeln sich zu einer neuen Oberschicht und bekommen ständig mehr Privilegien. Am Ende verbrüdern sie sich gar mit den Menschen, die sie eigentlich doch allesamt aus England fortjagen wollten. In einer feuchtfröhlichen ersten Zusammenkunft erklärt ihr menschlicher Nachbar den Schweinen: «Sie müssen sich mit unteren Tieren herumstreiten und wir mit den unteren Klassen», er löst damit bei allen schallendes Gelächter aus.

«Alle Tiere sind gleich, einige Tiere aber sind gleicher als andere» stand jetzt auf der Scheunenwand geschrieben, die sieben Gebote waren von dort verschwunden. In dieser allegorischen Darstellung des Bolschewismus stehen viele Figuren stellvertretend für Größen des Stalinismus, von Stalin selbst, den das Schwein Napoleon verkörpert, bis zu Lenin, Trotzki und Molotow. Es wimmelt nur so von politischen und soziologischen Anspielungen, ergänzt von einem hintersinnigen Symbolismus, ein reichhaltiges Feld also für Interpretationen aller Art. So ist der überraschende Angriff der Menschen auf die Farm eine Anspielung auf das Unternehmen Barbarossa, die Schlussszene weist auf die Teheran-Konferenz im Jahre 1943 hin.

George Orwell gelingt das Kunststück, seine entlarvende Gesellschaftskritik in einer lockeren, gar nicht märchenhaften Sprache sehr anschaulich zu erzählen, er versteckt seine brisante Thematik der menschlichen Korrumpierbarkeit geschickt in einer harmlos wirkenden, häufig sehr amüsanten Erzählweise. So wartet auf den Leser dieses weltberühmten Buches neben der wenig überraschenden Erkenntnis, der Mensch ist ein Schwein, auch einiges an Lesevergnügen.

Bewertung vom 10.07.2019
Zazie in der Metro
Queneau, Raymond

Zazie in der Metro


gut

Ich bin älter geworden

Mit der gerade erschienenen Neuübersetzung von Frank Heibert wird der satirische Roman «Zazie in der Metro» von Raymond Queneau aus dem Jahre 1959 in Deutschland soeben wiederentdeckt. Sein Welterfolg beruht im Wesentlichen auf der unkonventionellen Sprache, die hier zum puren Selbstzweck erhoben ist, Handlung und Figuren dienen narrativ als bloßes Beiwerk. Mit der dreizehnjährigen Zazie hat der Autor ein, allerdings nur vom Bekanntheitsgrad her, vergleichbares französisches Pendant zu «Lolita» oder «Pippi Langstrumpf» geschaffen. Ein sehr spezieller Typus selbstbewusster Mädchen also, die gewitzt und rotzfrech die Welt der Erwachsenen gehörig aufmischen. Kein Wunder, das Louis Malle diesen Stoff schon ein Jahr später ebenso erfolgreich verfilmt hat, inzwischen ist Zazie unverkennbar zu einer Figur der französischen Folklore geworden.

Die altkluge Titelheldin wird von Ihrer Mutter, die in Paris ihren Liebhaber treffen will, über das Wochenende bei Onkel Gabriel untergebracht. Ihren brennenden Wunsch, einmal mit der Metro zu fahren, die sie als Kind vom Lande nur vom Hörensagen her kennt, kann er ihr aber nicht erfüllen, denn wie es der Zufall will, die Metro wird gerade bestreikt. Schon am nächsten Morgen büxt Zazie aus, gerät, allein durch die Stadt stromernd, in allerlei Kalamitäten, aus denen sie sich aber gewitzt und frech immer wieder befreien kann. So gerät sie an einen Lustmolch, der ihr «Caco Calo» spendiert und eine «Bludschiens» kauft. Dem erzählt sie ihre traurige Geschichte: Ihr Vater hätte ihr immer wieder nachgestellt, ihre Mutter habe ihm deshalb mit dem Beil den Kopf gespalten, sie musste als Zeugin beim Prozess ausgesagt. Ähnlich haarsträubend sind alle Szenen des Romans, der hünenhafte, bärenstarke Onkel ist nicht wie behauptet Nachtwächter, sondern Star einer Travestieshow. Weitere Figuren sind seine sanfte Frau Marceline, die durchaus auch ein Marcel sein könnte, der Autor lässt uns Leser da im Ungewissen. Skurril auch der Kneipenwirt Turandot, dessen sprechender Papagei überall dabei ist und mit seinem «Du quasselst, du quasselst, das ist alles was du kannst» häufig in die Gespräche eingreift. Bei einem Besuch des Eifelturms treffen Zazie und ihr Onkel auf eine Reisegruppe, die von Gabriels Erklärungen so begeistert ist, dass sie ihn als neuen Reiseleiter kurzerhand entführt, verfolgt von Zazie und einigen anderen der skurrilen Romanfiguren. Sie alle landen nächtens in der Schwulenbar, wo der Onkel im Tutu den sterbenden Schwan tanzt. Nach Abreise der Touristen und einer Massenschlägerei lassen sie dann alle am Place Pigalle bei Zwiebelsuppe den turbulenten Tag ausklingen.

In der vom französischen Verlag überarbeiteten Pléiade-Ausgabe von 1989, die der Neuübersetzung zugrunde liegt, kommt Zazie doch noch zu ihrer Metrofahrt, die sie allerdings verschläft. Im Nachwort erläutert der Übersetzer sein Konzept, den vor Sprachwitz strotzenden, mit unzähligen Zitaten, Verweisen und Mehrdeutigkeiten gespickten Roman in ein adäquates Deutsch zu übertragen. Als besonders schwierig stellten sich dabei die als «ortograf fonétik» lautmalerisch der Umgangssprache nachempfundenen Wendungen heraus.

Stilistisch negiert dieser surrealistische Roman ohne nachvollziehbaren Plot systematisch alle Konventionen. Sämtliche Figuren sind grotesk widersprüchlich angelegt, ihre Gestik wird nur lapidar durch in Klammer gesetzte Begriffe ausgedrückt (lacht). Raymond Queneau wechselt den Sprachstil variantenreich von gepflegter Hochsprache bis zum Argot und schafft damit zusätzliche Kontraste. Dieser Roman ist ein großangelegtes Experiment mit der Sprache, er erscheint wie die Parodie eines Romans und leidet erkennbar an den bei der Übersetzung unvermeidbaren Verlusten an Sprachwitz. «Ich bin älter geworden» antwortet Zazie, das quasselnde, pubertäre Ungeheuer, am Ende auf die Frage der Mutter, was sie denn erlebt habe, - und mehr ist ja auch tatsächlich nicht passiert!

Bewertung vom 08.07.2019
Jeder stirbt für sich allein
Fallada, Hans

Jeder stirbt für sich allein


gut

Mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet

Nomen est omen beim Pseudonym Hans Fallada, der abgeschlagene Pferdekopf des Grimmschen Märchens ist Wahrheitskünder ebenso wie der Schriftsteller Rudolf Ditzen selbst, dessen letzter Roman «Jeder stirbt für sich allein», nach einem grandiosen Comeback im Ausland, 2011 auch in Deutschland wiederentdeckt wurde. Mit seinen realistisch-nüchternen Werken gilt Fallada als typischer Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die im vorliegenden Roman den Widerstand gegen das NS-Regime nicht auf der Ebene der Eliten, sondern aus der Masse der kleinen Leute heraus behandelt. Die neue, ungekürzte Originalfassung des 700-Seiten-Romans, den der Autor kurz vor seinem Tode in nur vier Wochen niederschrieb, erscheint nun derber, widerborstiger, und damit auch authentischer als die zensierte Erstausgabe von 1947. Seine anfängliche Ablehnung diesem Romanprojekt gegenüber hat Hans Fallada in einem Brief so begründet: «Einmal wegen der völligen Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vornherein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit, kein Hochschwung». Er hat dann diese und andere Schwierigkeiten aber doch überwunden, es sei ihm «seit ‹Wolf unter Wölfen› wieder der erste richtige Fallada» gelungen, verkündete er frohlockend.

Der Stoff basiert «in großen Zügen» auf der authentischen Geschichte eines Berliner Arbeiter-Ehepaares, das in den Jahren 1940 bis 1942 seine Abscheu gegen das Naziregime durch handgeschriebene Postkarten äußert, die heimlich in belebten Geschäftshäusern der Stadt ausgelegt werden. Nach zweijährigen vergeblichen Ermittlungen kann die Gestapo sie nach einer Denunziation verhaften, beide werden im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet. In vier Teilen mit insgesamt 73 Kapiteln entwickelt Hans Fallada daraus seinen Roman eines ohnmächtigen Kampfes gegen das Dritte Reich, beginnend mit den beiden Tätern, deren grenzenlose Wut ausgelöst wird, als sie die Feldpost mit der Todesnachricht von ihrem an der Ostfront kämpfenden Sohn erreicht. Nach und nach führt der Autor immer weitere Figuren in seine Geschichte ein, von der Briefträgerin mit ihrem arbeitsscheuen Mann und der Freundin des toten Sohnes bis zu den Mitbewohnern des Hauses, dem ständig vor der Haustür herumlungernden Denunzianten und Kleinganoven, dem versoffenen Nazi mit den drei gewalttätigen Söhnen, der alten Jüdin im obersten Stockwerk, dem pensionierten Richter. Ein durchaus sympathisch beschriebener Gestapo-Kommissar steht mangels Fahndungserfolg seinerseits unter schlimmen Repressalien durch seine wutschnaubenden Vorgesetzten, aber auch nach einer schmählichen Strafversetzung findet sein Nachfolger die Kartenschreiber nicht, - bis «Kommissar Zufall» hilft.

«Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde» schwärmte Primo Levi. Dieser bildstarke Zeitroman, in dem auch die Metropole Berlin eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist allerdings keine große Literatur, sein kitschiges Finale ist geradezu peinlich. Aber er schildert sehr anschaulich die Befindlichkeiten und Ängste seiner manchmal etwas schablonenhaften Figuren, beschreibt deren Leben unter den ständigen Pressionen einer verbrecherischen Diktatur. Zwischen verschiedenen Handlungssträngen wechselnd wird der Spannungsbogen gekonnt aufrechterhalten, auch wenn der Ausgang ja von vornherein bekannt ist.

Mit seiner Schilderung der existentiellen Nöte des weitaus größten Teils der deutschen Bevölkerung im Tausendjährigen Reich, die zumeist nur Resignation und stille Duldung ausgelöst haben, bestenfalls passiven Widerstand, hat Hans Fallada einen wichtigen Beitrag zur Kahlschlag-Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet. In seinem Vorwort schreibt er entschuldigend: «Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet».

Bewertung vom 08.07.2019
Jeder stirbt für sich allein
Fallada, Hans

Jeder stirbt für sich allein


gut

Mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet

Nomen est omen beim Pseudonym Hans Fallada, der abgeschlagene Pferdekopf des Grimmschen Märchens ist Wahrheitskünder ebenso wie der Schriftsteller Rudolf Ditzen selbst, dessen letzter Roman «Jeder stirbt für sich allein», nach einem grandiosen Comeback im Ausland, 2011 auch in Deutschland wiederentdeckt wurde. Mit seinen realistisch-nüchternen Werken gilt Fallada als typischer Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die im vorliegenden Roman den Widerstand gegen das NS-Regime nicht auf der Ebene der Eliten, sondern aus der Masse der kleinen Leute heraus behandelt. Die neue, ungekürzte Originalfassung des 700-Seiten-Romans, den der Autor kurz vor seinem Tode in nur vier Wochen niederschrieb, erscheint nun derber, widerborstiger, und damit auch authentischer als die zensierte Erstausgabe von 1947. Seine anfängliche Ablehnung diesem Romanprojekt gegenüber hat Hans Fallada in einem Brief so begründet: «Einmal wegen der völligen Trostlosigkeit des Stoffes: zwei ältere Leute, ein von vornherein aussichtsloser Kampf, Verbitterung, Hass, Gemeinheit, kein Hochschwung». Er hat dann diese und andere Schwierigkeiten aber doch überwunden, es sei ihm «seit ‹Wolf unter Wölfen› wieder der erste richtige Fallada» gelungen, verkündete er frohlockend.

Der Stoff basiert «in großen Zügen» auf der authentischen Geschichte eines Berliner Arbeiter-Ehepaares, das in den Jahren 1940 bis 1942 seine Abscheu gegen das Naziregime durch handgeschriebene Postkarten äußert, die heimlich in belebten Geschäftshäusern der Stadt ausgelegt werden. Nach zweijährigen vergeblichen Ermittlungen kann die Gestapo sie nach einer Denunziation verhaften, beide werden im Zuchthaus Plötzensee hingerichtet. In vier Teilen mit insgesamt 73 Kapiteln entwickelt Hans Fallada daraus seinen Roman eines ohnmächtigen Kampfes gegen das Dritte Reich, beginnend mit den beiden Tätern, deren grenzenlose Wut ausgelöst wird, als sie die Feldpost mit der Todesnachricht von ihrem an der Ostfront kämpfenden Sohn erreicht. Nach und nach führt der Autor immer weitere Figuren in seine Geschichte ein, von der Briefträgerin mit ihrem arbeitsscheuen Mann und der Freundin des toten Sohnes bis zu den Mitbewohnern des Hauses, dem ständig vor der Haustür herumlungernden Denunzianten und Kleinganoven, dem versoffenen Nazi mit den drei gewalttätigen Söhnen, der alten Jüdin im obersten Stockwerk, dem pensionierten Richter. Ein durchaus sympathisch beschriebener Gestapo-Kommissar steht mangels Fahndungserfolg seinerseits unter schlimmen Repressalien durch seine wutschnaubenden Vorgesetzten, aber auch nach einer schmählichen Strafversetzung findet sein Nachfolger die Kartenschreiber nicht, - bis «Kommissar Zufall» hilft.

«Das beste Buch, das je über den deutschen Widerstand geschrieben wurde» schwärmte Primo Levi. Dieser bildstarke Zeitroman, in dem auch die Metropole Berlin eine nicht unwesentliche Rolle spielt, ist allerdings keine große Literatur, sein kitschiges Finale ist geradezu peinlich. Aber er schildert sehr anschaulich die Befindlichkeiten und Ängste seiner manchmal etwas schablonenhaften Figuren, beschreibt deren Leben unter den ständigen Pressionen einer verbrecherischen Diktatur. Zwischen verschiedenen Handlungssträngen wechselnd wird der Spannungsbogen gekonnt aufrechterhalten, auch wenn der Ausgang ja von vornherein bekannt ist.

Mit seiner Schilderung der existentiellen Nöte des weitaus größten Teils der deutschen Bevölkerung im Tausendjährigen Reich, die zumeist nur Resignation und stille Duldung ausgelöst haben, bestenfalls passiven Widerstand, hat Hans Fallada einen wichtigen Beitrag zur Kahlschlag-Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet. In seinem Vorwort schreibt er entschuldigend: «Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet».

Bewertung vom 28.06.2019
Die Nacht aus Blei : Roman. Mit e. Nachw. vers. von Josef Winkler / Bibliothek Suhrkamp ; Bd. 682
Jahnn, Hans Henny

Die Nacht aus Blei : Roman. Mit e. Nachw. vers. von Josef Winkler / Bibliothek Suhrkamp ; Bd. 682


gut

Es ist, wie es ist

Als vorab veröffentlichter Auszug seines unvollendeten Romans «Jeden ereilt es» erschien 1956 die Erzählung «Die Nacht aus Blei» von Hans Henny Jahnn, es war sein letzter und wohl auch meistgelesener Prosatext. Der Autor gehört zu den lebenslang heftig umstrittenen, sogar von Gewalttätigkeit bedrohten deutschen Schriftstellern, bejubelt und verrissen gleichermaßen. Als krasser literarischer Außenseiter protestiert er gegen ein Weltbild, das den Menschen als Mittelpunkt des real Existierenden darstellt. Sein Werk basiert vielmehr auf der konträren Überzeugung, dass der Mensch ein «Schöpfungsfehler» sei, er reduziert ihn auf das biologische Sein. Die Natur aber ist mitleidlos grausam, eine Versöhnung des Menschen mit ihr sei nur durch die Kunst möglich. Sie allein sei Antrieb seines Schaffens, und dabei verweigert er konsequent jede Moral, negiert zudem jedwede Möglichkeit der Sublimierung, was metaphysische Deutungen einschließt. Eine beinharte Perspektive also eines als überaus schwierig geltenden Schriftstellers!

Mit den Sätzen «Ich verlasse dich jetzt. Du musst allein weitergehen.» beginnt die kafkaeske Geschichte des 23jährigen Mathieu, der nachts von einem Engel in einer unbekannten Stadt ausgesetzt wird, er soll die Stadt erforschen. Auf der Suche nach einer Unterkunft streift er durch menschenleere Strassen mit düsteren Häusern, deren Fenster alle unbeleuchtet sind. Aus einem Hauseingang heraus spricht ihn nach einiger Zeit überraschend ein livrierter Mann an und lädt ihn ein, hereinzukommen, eine schöne Frau erwarte ihn. Ein lasziver Gnom führt ihn in ein Zimmer zu Elvira, einer stark geschminkten, attraktiven jungen Frau, die ihm köstliche Speisen und Getränke vorsetzt. Sie munden ihm aber nicht, erscheinen ihm dumpf, offenbar hat er den Geschmackssinn verloren. Elvira nötigt ihm Geld auf und bittet ihn dann, einen Moment zu warten, sie verschwindet durch eine Nebentür. Nach einer Weile ruft sie ihn in ihr Boudoir, sie liegt schon im Bett. Als er ihr Nachtgewand öffnet, erkennt er, dass ihr Leib gänzlich schwarz ist und wie poröser Stein wirkt, völlig unbelebt unter der dicken Schminke.

Entsetzt verlässt Mathieu das Haus und trifft wenig später auf der Strasse einen hilfsbedürftig wirkenden jungen Mann, den er zum Essen einlädt. Der hungrige junge Mann stellt sich als der zehn Jahre jüngere Mathieu heraus, sein früheres Ich also, Mathieu nennt ihn deshalb Anders. Die Spelunke, die sie nach langer Suche finden, kann ihnen aber nichts anbieten, weder Essen noch Getränke seien vorhanden, sagt die Bedienung, selbst Zigaretten kann sie den Beiden nicht verkaufen. Als sie wieder auf die Strasse treten, rieselt ein seltsam grauer Schnee vom Himmel herab, es ist bitterkalt. Anders, sein nur chronologisch anderer Doppelgänger, ist nach einem Überfall schwer verletzt und führt ihn mit letzter Kraft zu seiner gruftartigen Kellerwohnung, in der am Ende auch Gari auftaucht, der dunkle Engel der Beiden.

«Auch krumme Striche wissen, dass sie gerade sein könnten, wenn sie nicht irgendein Stümper verpfuscht hätte» heißt es an einer Stelle. In einer geradezu surrealistischen Bildersprache behandelt Hans Henny Jahnn in dieser apokalyptischen Erzählung mit dem Tod eines der für ihn typischen Themen. Als Atheist stellt er ihn ungeschönt als Auflösung des Selbst dar, als die unausweichliche Vergänglichkeit, der nichts entgegen zu setzen ist. Sein Protagonist spürt ein «völliges Entsinnlichtsein, die Auflösung seines Körpergefühls». Knallhart wird hier dem Leser eine gemarterte Kreatur vorgeführt, werden - bis an die Grenze des Sagbaren gehend - schrecklichste Abgründe beleuchtet. Vermutlich muss man diese trostlose Erzählung dialektisch verstehen, könnte man als verstörter Leser denken. Jedenfalls hat es der Autor seinen Lesern nie leicht gemacht, mir auch nicht. «Es ist, wie es ist, und es ist fürchterlich» hat Hans Henny Jahnn mal lakonisch angemerkt, und damit hatte er ja wohl doch Recht!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.06.2019
Armand
Bove, Emmanuel

Armand


sehr gut

Haarsträubendes Verhängnis

Seinem zweiten, 1925 erschienenen Roman «Armand» hat der französische Schriftsteller Emmanuel Bove die Widmung «Für Madame Colette» vorangestellt. Sidonie-Gabrielle Colette, Grande Dame der französischen Literatur, hatte ihm geholfen, seinen Debütroman «Mes amis» herauszubringen, - der dann auf Anhieb erfolgreich war und mit dem damals höchsten Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Zu seinen Bewunderern gehörten Sacha Guitry, Klaus Mann und Rainer Maria Rilke, Samuel Beckett empfahl ihn mit den Worten «wie niemand sonst verfügt er über das treffende Detail». Max Jacob schrieb, «Emmanuel Bove müsste zum Schutzpatron der (reinen) Schriftsteller erkoren werden, noch mehr als Kafka und genau so wie Anton Tschechow und Francis Scott Fitzgerald». Gleichwohl geriet sein umfangreiches Œuvre nach seinem frühen Tode im Jahre 1945 schnell in Vergessenheit. Der spätere französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing beklagte 1972 in einem Brief, Boves Bücher seien «vollkommen verschwunden» und nicht einmal mehr «in den hinteren Räumen der Buchhandlung» zu finden. Erst Ende der siebziger Jahre begann in Frankreich die Wiederentdeckung dieses literarischen Klassikers des Zwanzigsten Jahrhunderts. Als bekennender Sympathisant des Verkannten machte Peter Handke ihn dann durch seine Übersetzungen auch einem anspruchsvolleren Lesepublikum in Deutschland bekannt.

Der Kurzroman «Armand» ist die Geschichte eines haarsträubenden Verhängnisses. Der dreißigjährige Ich-Erzähler Armand, von dem nicht mehr bekannt wird, als dass er ein armer Teufel war, hat in Jeanne eine zehn Jahre ältere, wohlhabende Freundin gefunden, die ihn aushält. Er wohnt seit einem Jahr bei ihr und ist ihr absolut ergeben, sie sind sehr glücklich miteinander. Bei einem Spaziergang trifft er zufällig seinen alten Kumpel Julien, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat und der nach wie vor in den ärmlichen Verhältnissen lebt, aus denen auch Armand kam. Trotz anfänglicher Bedenken, Jeanne den ziemlich verwahrlosten Freund zu präsentieren, lädt er ihn doch spontan zum Essen in ihre Wohnung ein. Als er später Julien besucht, trifft er dort dessen jüngere Schwester Marguerite, die von Julien sehr schlecht behandelt wird. Er besucht sie am nächsten Tag in ihrer Wohnung, um ihr sein Mitgefühl auszudrücken. Einer unbedachten Regung folgend drückt er ihr einen Kuss auf den Mund und flüchtet verwirrt aus ihrem Zimmer. Am nächsten Tag ist Jeanne sehr abweisend zu ihm. Es stellt sich heraus, dass Marguerite offensichtlich ihren Bruder informiert hat, und der war inzwischen schon bei Jeanne, um von dem Vorfall zu berichten. Jeanne weist Armand brüsk aus dem Haus, er ist also wieder auf der Strasse, wo er hergekommen ist.

«Ich nahm dann die Strasse, die abwärts führte. Kinder spielten da Ball, die kleineren weiter oben, die größeren weiter unten, damit beide die gleichen Chancen hätten» lautet der letzte Satz. In vielen von Emmanuel Boves Werken hat er gesellschaftskritisch solche traurigen Heldenfiguren geschaffen, den Typus des gehemmten, erfolglosen Außenseiters, der zum Daseinskampf unfähig ist, der den Aufstieg niemals schaffen wird. Seine eigenen, zeitweise prekären Lebensumstände spiegeln sich darin deutlich wider.

Mit genauem Gespür für Atmosphäre erzählt der Autor in einer kristallklaren Sprache seine auffallend dialogarme Geschichte mit ihren vielen grotesken Szenen. Seine Aufmerksam richtet sich dabei aber weniger auf seinen glücklosen Helden als auf das scheinbar Insignifikante des Geschehens. Mit scharfem Blick spürt er jedem noch so kleinen Detail nach, registriert akribisch jede Geste und Regung seiner vier Figuren, sinniert über seine schnappschussartigen Eindrücke. Emmanuel Bove ist damit zum Vorreiter des Nouveau Roman geworden, er hat sich mit seiner Beschreibungskunst, die alles Sichtbare in den Fokus nimmt und Gefühle in den Hintergrund verbannt, in den Olymp französischer Romanciers eingereiht.

Bewertung vom 24.06.2019
Jarmila
Weiß, Ernst

Jarmila


sehr gut

Reminiszenz an die alte Welt

Die Novelle «Jarmila» des in Brünn geborenen und zum Kreis um Franz Kafka gehörenden Schriftstellers Ernst Weiß wurde im Sommer des Jahres 1937 in Paris geschrieben. Der dort im Exil lebende jüdische Autor hatte sich 1940 beim Einmarsch der deutschen Truppen das Leben genommen, viele seiner unveröffentlichten Manuskripte gingen verloren. Ein Typoskript von «Jarmila» mit dem ironischen Untertitel «Eine Liebesgeschichte aus Böhmen» wurde jedoch 1995 in Prag entdeckt und posthum erstmals veröffentlicht. Dieses späte Werk ist eine berührende Reminiszenz an die innig geliebte, für ihn damals aber unerreichbare böhmische Heimat des Autors. «Die Novelle ‹Jarmila› ist eine Ihrer stärksten», hat sein Freund und Gönner Stefan Zweig in einem Brief dazu angemerkt. Die Titelfigur gehört zur Gruppe jener Frauengestalten, die als Femme fatale im Werk dieses Autors häufig vorkommen.

Ich-Erzähler ist ein in Paris lebender Obsthändler, der geschäftlich nach Prag reist. Seine vor Reiseantritt in Paris gekaufte, billige Taschenuhr erweist sich als extrem launisch, er verpasst ihretwegen seinen Geschäftspartner. Im Café wartend lernt er den Spielzeughändler Bedřich kennen, der sich als geschickter Uhrmacher anbietet, die störrische Uhr zu reparieren, was aber misslingt. Sie kommen ins Gespräch, und Bedřich erzählt ihm von seiner schicksalhaften Liebe zu Jarmila, die mit einem deutlich älteren Bauern verheiratet ist, der sich auf Gänsefedern spezialisiert hat und damit viel Geld verdient. Seinen Spitznamen Bombardon trägt er, weil er in der dörflichen Kapelle die Basstuba spielt. Bedřichs Affäre mit der Dorfschönheit bleibt nicht ohne Folgen, sein Sohn Jaroslaus wird geboren. Als er mit ihr und dem Kind nach Amerika auswandern will, lehnt Jarnila das allerdings strikt ab, sie genießt ihr Leben an der Seite des wohlhabenden Bombardon. Es gelingt dem hörigen Bedřich nicht, sich von ihr zu trennen, im Gegenteil, sie bezirzt ihn immer wieder und wird erneut schwanger von ihm. Erbost baut der gehörnte Ehemann daraufhin heimlich eine Falltür in das als Liebesnest dienenden Lager für Gänsefedern ein. Bei einem letzten Stelldichein unmittelbar vor seiner geplanten Auswanderung legt Bedřich zur Ablenkung Feuer in Bombardons Scheune, zwei Landstreicher sterben darin. Die schwangere Jarmila stürzt im Liebesnest durch die Falltür zu Tode, Bombardon aber geht straffrei aus. Bedřich hingegen wandert für fünf Jahre ins Zuchthaus, und als er freikommt, entführt er seinen Sohn, mit dem er nun auswandern will. Er taucht auf der Durchreise überraschend mit Jaroslaus beim Ich-Erzähler in Paris auf. Aber es kommt alles ganz anders als geplant.

Mit der als äußerer Rahmen dienenden Ich-Erzählung huldigt der Autor, erkennbar autobiografisch beeinflusst, liebevoll seiner böhmischen Heimat und schließt die dörfliche Liebesaffäre als Kerngeschichte darin ein. Das schicksalhafte Verhängnis der Erzählung wird an vielen Stellen schon früh angedeutet und hält den Leser in Spannung. Geradezu leitmotivisch fungiert dabei die unzuverlässige Taschenuhr, aber auch Begriffe wie Grenze oder Feder kehren ebenfalls ständig wieder. Letztere als kuscheliges Symbol für das heimliche Liebesnest im Lagerschuppen von Bombardons Gänsefedern, aber auch in Form der Uhrenfeder, die dann in dem katharsisartigen, dramatischen Finale eine verhängnisvolle Rolle spielt.

Atmosphärisch dicht evoziert Ernst Weiß in seiner inneren Erzählung von der böhmischen Dorfidylle Lebensumstände und Werte einer «alten, von uns geliebten Welt», wie er sie Stefan Zweig gegenüber genannt hat. In seinem für ihn wenig erfreulichen, prekären Exildasein schafft er damit literarisch ein Gegengewicht zu den sich abzeichnenden Ungeheuerlichkeiten der Nazi-Barbarei, die er früh schon vorausgeahnt hatte. Angesichts der literarischen Qualität dieser geradezu klassisch angelegten Novelle kann man sich nur freuen, dass sie doch noch aufgefunden und veröffentlicht wurde.