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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 874 Bewertungen
Bewertung vom 12.12.2019
Es geht uns gut
Geiger, Arno

Es geht uns gut


sehr gut

Funkelnde Diskurse

Mit dem Familienepos «Es geht uns gut» hat der österreichische Schriftsteller Arno Geiger 2005 den Deutschen Buchpreis gewonnen, «… ein Roman, der ebenso genau wie leicht vom Gewicht des Lebens spricht», wie die Jury ihre Wahl begründet hat. Aber auch die Rezensionen im Feuilleton waren überwiegend positiv. Der ironische Titel dieser drei Generationen umfassenden Geschichte deutet bereits darauf hin, dass hier mit einiger Distanz erzählt wird. Historischer Hintergrund ist die Geschichte Österreichs von 1938 bis 2001, überwiegender Handlungsort die stattliche Villa der Familie in Wien. In 21 tagebuchartigen Kapiteln wird aus jeweils einer Perspektive in klug gesetzten zeitlichen Voraus/Zurück-Sprüngen das wechselvolle Leben einer großbürgerlichen Familie gezeichnet, deren Patriarch es immerhin zum hochangesehenen Minister gebracht hat, während dessen schriftstellernder Enkel schlussendlich sich eher als lebensuntüchtiger Versager und lethargischer Träumer erweist, ein an die Buddenbrooks erinnernder, familiärer Abstieg.

Als Rahmen der Erzählung dient die Entrümpelungsaktion des erfolglosen Dichters Philipp, der von seiner Großmutter Alma die schon etwas heruntergekommene Wiener Familienvilla geerbt hat. Er hat ein Verhältnis mit der verheirateten Meteorologin Johanna, gelegentlich aber kommt es auch schon mal zu einem Quickie mit der Postbotin. Sein Großvater Richard, Sohn aus einer reichen, erzkonservativen Familie, macht als Jurist Karriere, bleibt auf Distanz zu den Nazis und wird nach dem Krieg Minister, der maßgeblichen Anteil hat an den Verhandlungen zum Staatsvertrag mit der Sowjetunion. Seine Frau Alma, die ihm zuliebe das Medizinstudium aufgegeben hat, widmet sich fortan dem Haushalt und den zwei Kindern Otto und Ingrid, sie liest gern und betreibt die Imkerei als Steckenpferd, im Garten der Villa steht ihr eigenes kleines Bienenhaus. Zwischen dem Paar kommt es zu intellektuell geradezu funkelnden ehelichen Diskursen, die aber nie eskalieren, weil Alma sich als die Klügere vorher meist zurücknimmt. Sohn Otto kommt bei Kämpfen kurz vor Kriegsende ums Leben, die Tochter Ingrid studiert Medizin und ist gegen den erbitterten Willen der Eltern mit dem erfolglosen Kleinunternehmer Peter liiert, das Verhältnis zu ihren Eltern nimmt dadurch irreparable Schäden. Trotzig heiratet sie ihn, als sie schwanger wird, und er geht denn auch prompt in Konkurs, findet später Arbeit als Verkehrsplaner und zieht nach Ingrids tragischem Unfalltod die beiden Kinder Sissi und Philipp alleine groß. Während Sissi später als Journalistin in New York lebt und kaum noch von sich hören lässt, versucht sich Philipp erfolglos als Schriftsteller. Er ist mit der ererbten Villa heillos überfordert, am Ende sitzt er hoch oben auf dem Dach: «Gleich wird Philipp auf dem Giebel seines Großelternhauses in die Welt hinausreiten», heißt es träumerisch.

Das Besondere an diesem Roman, dessen Thematik so neu ja nicht ist, sind die geistreichen und bissigen Diskussionen, die da schlagfertig ausgefochten werden. Besonders zwischen Ingrid und ihrem stockkonservativem Vater fliegen die Fetzen, sie ist trotz der finanziellen Abhängigkeit während des Studiums zu keinen Zugeständnissen bereit und kontert seine Vorhaltungen souverän. Gleiches gilt für Alma, die ihrem Mann auch keine Antwort schuldig bleibt, sich aber konzilianter verhält. Ihr grandioser innerer Monolog am Sterbebett ihres dementen Mannes ist eine geistreiche Aufarbeitung jahrzehntelanger Rücksichtnahme und Unterdrückung, - ein gelungenes Fazit des gesamten Romans.

Eheschlamassel, Alltagssorgen, die mühsame Emanzipation der eigentlichen Heldinnen Alma und Ingrid, geschickt verzahnt mit dem historischen Hintergrund, ist das wirklich Tragende bei diesem Roman. Die sympathischen Figuren und ein polyperspektivisch in Montagetechnik geradezu beiläufig erzählter, stimmiger Plot mit einer Fülle von Motiven machen diese Chronik zu einem äußerst bereichernden Lesevergnügen.

Bewertung vom 08.12.2019
Hunger
Hamsun, Knut

Hunger


ausgezeichnet

Weitab von der Spitzweg-Idylle

In seinem 1890 erschienenen Debütroman «Hunger» hat der norwegische Schriftsteller Knut Hamsun eigene Erfahrungen als Arbeitsloser aus dem Jahre 1886 verarbeitet. «Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist…» heißt es im ersten Satz dieses berühmten Romans, den viele Kritiker für sein bestes Werk halten. Der 1920 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Autor gilt mit seinem ersten Roman als ein bedeutender Wegbereiter der neuen Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, er hat viele prominente Kollegen entscheidend beeinflusst damit.

Ich-Erzähler ist ein junger Schriftsteller, der hungernd und frierend durch Kristiania streunt, dem heutigen Oslo, das sich, im Zeitalter der industriellen Revolution, im Wandel befindet. Nur selten gelingt es ihm, einen Artikel in einer Zeitung unterzubringen für ein Salär, von dem er gerade mal einige wenige Tage sehr bescheiden leben kann. Es gelingt ihm auch nicht, irgendeine noch so gering bezahlte Arbeit zu finden, er scheitert immer wieder geradezu schicksalhaft. Außer dem, was er auf dem Leibe trägt, seiner abgerissenen, fadenscheinigen Kleidung, sowie Papier und Bleistift für seine Artikel, besitzt er nichts. Meist ist er obdachlos, weil er die Miete auch für die primitivsten Schlafplätze nicht aufbringen kann, die selbst mitzubringende Schlafdecke hat er von einem Freund geliehen. Er streift hungergequält durch die Stadt, um irgendwie Geld aufzutreiben. Sein Stolz lässt es aber nicht zu, betteln zu gehen, und auch vor der Polizei hat er große Angst, nachdem er einmal als zerlumpter Obdachloser aufgegriffen wurde und eine Nacht in der Zelle verbringen musste. Immer wieder begegnet er Leuten, die er kennt, die er anpumpen kann, aber ganz selten bekommt er dann mal ein paar Kronen. Als er eine junge Frau trifft, endet auch diese kurze Episode ohne Fortune.

Diese handlungsarme Geschichte vom äußersten Rand der Gesellschaft wird ohne Pathos oder soziale Anklage nüchtern und sachlich erzählt, überwiegend als nicht abreißender Gedankenstrom. Sie zeichnet das Zerrbild einer fremden, unmenschlichen Welt, die sich für den dahinvegetierenden Protagonisten als Labyrinth erweist, in dem er auf der Suche nach dem Ich orientierungslos herumirrt. In die Zuschauerrolle gedrängt, erscheint er aus der Zeit gefallen, ein hoffungsloser Phantast und ewiger Fabulierer, der den Anschluss verloren hat, ein menschlicher Typus, wie ihn nur die anbrechende moderne Zeit hervorzubringen vermag. Er ist ein Intellektueller am Rande des Wahnsinns, der von Ängsten geplagt körperlich und seelisch immer mehr verfällt, gefangen in einem Strudel aus Hoffnung, Zweifel und Scham. Aufmerksam und sensibel beobachtend kreisen seine Gedanken, gesteuert vom puren Selbsterhaltungstrieb, unablässig um die nackte Existenz, um Essen und Obdach.

Es ist die äußerst realistische, ans Kannibalische grenzende Darstellung des Hungers, die hier zutiefst beklemmend und mit bitterer Komik erzählt wird. So wenn der verzweifelte Held um Knochen für den Hund bittet, die er dann selber abnagt, oder wenn er aus lauter Verzweiflung Holzspäne kaut, um seinen leeren Magen zu täuschen, wenn er schließlich sogar einen Stein in den Mund nimmt, um mit Kaubewegungen dem malträtierten Körper etwas vorzutäuschen. Im ständigen inneren Dialog mit sich selbst ergeht er sich in Befürchtungen, Selbstzweifeln, Wahnvorstellungen und wilden Assoziationen, ein traumatisches Chaos an Gedanken, denen eine abweisende, kalte Stadt als brutale Realität gegenüber steht. Der Leser erfährt nichts von der Vorgeschichte dieses Mannes, es gibt keine Rückblenden, Knut Hamsun erzählt nur von dessen ausweglos scheinender Not weitab von jedweder Spitzweg-Idylle, beendet seine Geschichte aber immerhin mit einem Hoffnungsschimmer. Eine literarisch hochstehende, anspruchsvolle Lektüre mithin, die alles kann, - nur nicht angenehm unterhalten!

Bewertung vom 05.12.2019
Nana
Zola, Emile

Nana


ausgezeichnet

Lichtenberg bringts auf den Punkt

Der 1880 erschienene Roman «Nana» von Émile Zola gehört zu den erfolgreichsten des großen französischen Romanciers, er ist Teil des 20bändigen Zyklus ‹Rougon-Macquart›, einer breit angelegten Familiengeschichte aus dem Zweiten Kaiserreich, in deren Stammbaum auch eine gewisse «Anna Coupeau dite Nana» auftaucht. Als typischer Positivist hat der berühmte Autor seinen bekanntesten Roman als soziologische Milieustudie angelegt, in der eine Hundertschaft von Figuren aus der Pariser Halbwelt, von der Straßenhure bis zum Kammerherrn der Kaiserin, in ihren Lebensumständen und Beziehungen detailliert beschrieben werden. Er zeichnet eine promiskuitive großstädtische Gesellschaft, in die er die dekadente adelige Oberschicht ebenso mit einbezieht wie die Dirnen aus dem Rotlichtmilieu, weil sich deren Verhalten in nichts von dem der verheirateten, hochgestellten Damen unterscheide, wie er mehrfach betont. Der vorab im Tagesblatt ‹Le Voltaire› in Fortsetzungen veröffentliche Roman mit seiner anrüchigen Thematik wurde heftig umstritten und war, vielleicht gerade deswegen, ein Riesenerfolg, der für damalige Zeiten brisante Stoff wurde fürs Theater adaptiert und später auch mehrfach verfilmt, zuletzt im Jahre 2001.

Als blonde Venus bekommt die ehemalige Straßendirne Nana trotz völliger Talentlosigkeit eine kleine Rolle in einem Varietétheater. Ihr erster Auftritt bei der Premiere ist eine Schlüsselszene für den ganzen Roman: «Ein Schauer durchwogte den Zuschauerraum. Nana war nackt. Sie war völlig nackt und trug ihre Blöße mit ruhiger Kühnheit zur Schau, im sichern Selbstgefühl der Allmacht ihrer Fleischespracht. Einzig ein dünner Schleier hüllte sie ein.» Die Zuschauer waren wie berauscht, die Herren hatten rote Köpfe bekommen. «Unmerklich hatte Nana das Publikum erobert, hatte von ihm Besitz ergriffen, und jetzt waren ihr die Männer samt und sonders verfallen. Die geile Brunst, die von ihr ausging wie von einem läufigen Tier, hatte immer weiter um sich gegriffen». Fortan liegen ihr die Herren der Gesellschaft zu Füßen, sie genießt als Mätresse reicher Liebhaber einen nie gekannten Luxus und bekommt Zugang zur gehobenen Gesellschaft. Gleichwohl bleibt sie die strohdumme Dirne vom Land, verprasst völlig maßlos das viele Geld, das ihr zufließt, und ist immer pleite. Nachdem sie ihren wichtigsten Gönner, einen Bankier, in den Ruin getrieben hat, erleidet auch sie einen herben finanziellen Rückschlag und versucht mit einem ehemaligen Theaterkollegen in das einfache Leben zurückzufinden, was aber gründlich schiefgeht. Nach einem grandiosen Comeback hat sie im weiteren Verlauf des Romans schließlich etliche der ihr hörigen Männer bedenkenlos und selbstsüchtig ins Verderben gestürzt, ja sogar zum Selbstmord getrieben, muss am Ende aber völlig mittellos vor ihren Gläubigern aus Paris flüchten.

Das Besondere an «Nana» sind natürlich die Schilderungen der dekadenten Gesellschaft kurz vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges, «Nach Berlin!» skandieren die Massen auf der Straße am Ende des Romans. Neben aufschlussreichen Einblicken in die halbseidene Operettenwelt mit ihrem Lebemänner-Publikum werden auch die mondänen ‹Salons› der besseren Pariser Gesellschaft ausführlich beschrieben, man erlebt zudem hautnah und mitreißend die Faszination der Galopprennen, aber auch den wüsten Pöbel in den verruchtesten Hinterhof-Kaschemmen. Für die erwünschte Wahrhaftigkeit in der Darstellung hat Émile Zola einen erheblichen Recherche-Aufwand betreiben müssen, wie er berichtet hat.

Diese in vierzehn Kapiteln erzählte, bitterböse Gesellschaftskritik ist genial konstruiert, glänzt mit anschaulichen szenischen Beschreibungen und entlarvt unerbittlich die Dekadenz der Oberschicht jener Zeit. Der für seine köstlichen Aphorismen bekannte Georg Christoph Lichtenberg hat einst geschrieben: «Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an», - das kann ich hier wirklich auch empfehlen!

Bewertung vom 02.12.2019
Keyserlings Geheimnis
Modick, Klaus

Keyserlings Geheimnis


gut

Besser das Original lesen

Mit seinem Roman «Keyserlings Geheimnis» hat der in vielen literarischen Genres tätige Schriftsteller Klaus Modick die Reihe seiner Künstlerromane fortgesetzt, schon der Buchumschlag ist dem Vorgänger «Konzert ohne Dichter», der schnell zum Bestseller avancierte, auffallend ähnlich. Auch hier bilden wieder Dichtung und Malerei die Kulisse für eine Geschichte um den «baltischen Fontane», wie Eduard von Keyserling oft bezeichnet wird. Ähnlich den anderen Romanen aus gleicher Feder weist auch der jüngste, pünktlich zum hundertsten Todestag 2018 erschienene Band eine sonst eher bei amerikanischen Autoren anzutreffende, erzählerische Leichtigkeit auf. Zu deren Kennzeichen zählen eine einfache Diktion und ein unkomplizierter, leicht nachvollziehbarer Plot, aber auch Realitätsnähe und sorgfältig arrangierte Motiv-Vielfalt. Eigenschaften mithin, die eine angenehm unangestrengte Lektüre und gute Unterhaltung verheißen.

Der Schriftsteller Max Halbe und seine Frau laden im Sommer 1901 ein paar Freunde aus der Schwabinger Boheme in ihr Landhaus am Starnberger See ein. Dazu gehören der Maler Lovis Corinth und der Dichter Eduard von Keyserling, ein adeliger Dandy, der, schon von Natur aus hässlich, nun zusätzlich auch noch durch die Spuren der Syphilis entstellt ist. Gleichwohl lässt er sich von seinem Malerfreund überreden, ihm für ein Porträt Modell zu sitzen. In den Gesprächen während dieser Sitzungen in Bernried versucht der Maler, von Keyserling mehr über seine von wilden Gerüchten umrankte Studentenzeit an der estnischen Universität Dorpat zu erfahren, aber er bekommt nichts aus ihm heraus. Der Skandal vor mehr als zwanzig Jahren hat den Dichter in den heimatlichen Adelskreisen zur ‹persona› non grata› werden lassen. Von der Universität exmatrikuliert musste er Hals über Kopf nach Wien fliehen. Er hat dort ein neues Leben als Dichter begonnen, das ihn später dann nach München führte. Bei einem gemeinsamen Konzertbesuch mit Frank Wedekind, ebenfalls Mitglied der Schwabinger Clique, der zu Besuch an den See gekommen ist, begegnet er einer Sängerin, die damals in den Skandal verwickelt war.

In Rückblicken erzählt Klaus Modick von der Jugend seines Protagonisten auf dem estnischen Schloss Tels-Paddern, von dessen Studentenzeit und der durch den Skandal ausgelösten Zäsur, die ihn dann endgültig auf den immer schon angestrebten Weg zur Schriftstellerei geführt hat, seiner wahren Berufung. Dabei taucht der Autor tief ein in die Zeit des Fin de Siecle und das Leben des ostelbischen Junkertums, beschreibt die Streifzüge seines Helden durch Wiener und Schwabinger Kneipen und Bordelle und die hitzigen Diskussionen beim Künstlerstammtisch. Geschickt hat der Autor das wenige Verbürgte aus dem Leben seines Helden fiktional aufgepusht und damit einen Spannungsbogen geschaffen, der die Frage nach dem «Geheimnis» in seiner Erzählung sehr lange offen lässt. Letztendlich erweist sich das allerdings als Lappalie, die gleichwohl von einem Widersacher benutzt wird, um ein Duell zu provozieren.

Sprachlich unprätentiös findet der Autor immer wieder gelungene Metaphern, so wenn Lovis Corinth zum Beispiel dem neugierigen Keyserling einen Blick auf das gerade erst angefangene Gemälde verweigert: «Das ist noch kein Bild, sondern bestenfalls eine optische Absichtserklärung». Gelungen sind auch diverse intertextuelle Verweise wie dieser: «… dann erzählte Katharina Geschichten aus den alten Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hatte und manche Fische sogar sprechen konnten, zum Beispiel der Butt». Verhoben aber hat sich der Autor mit seinem leichtfüßigen Capriccio, wo er literarisch den Vergleich mit Keyserling sucht, der als Erzähler von Rang inzwischen zum Kanon deutscher Literatur zählt. Klaus Modicks eher langweiliger Roman erreicht dessen Niveau weder sprachlich noch von der gedanklichen Tiefe her. Das Original mal selbst zu lesen, zum Beispiel Keyserlings Roman «Wellen», wäre die bessere Alternative!

Bewertung vom 01.12.2019
Der Sommer meiner Mutter
Woelk, Ulrich

Der Sommer meiner Mutter


sehr gut

Eine Art Rosetta-Mission

Mit einem narrativen Paukenschlag beginnt «Der Sommer meiner Mutter», der neueste Roman von Ulrich Woelk. «Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben» lautet der angeblich oft ja schon die ganze Geschichte enthaltende erste Satz. Der promovierte Astrophysiker hat recht listig durch diese scheinbare Vorwegnahme des narrativen Kulminationspunktes schlagartig Spannung beim Leser aufgebaut.

Ich-Erzähler dieser Coming-of Age-Geschichte ist der elfjährige Tobias, der als Einzelkind mit seinen Eltern in einem Dorf bei Köln lebt. Als für Raumfahrt begeisterter Junge fiebert er der ersten Mondlandung entgegen, die im Fernsehen übertragen werden soll. Im Nebenhaus zieht ein Ehepaar mit ihrer dreizehnjährigen Tochter ein, man freundet sich schnell an mit den neuen Nachbarn, obwohl sie in vielerlei Hinsicht anders sind. Während der konservative Vater von Tobias ein realitätsbezogener, nüchterner Ingenieur ist, ist Rosas Vater als Philosophie-Dozent ein intellektueller Freidenker und überzeugter Kommunist. Auch die Frauen unterscheiden sich deutlich, die unbekümmerte, emanzipierte Nachbarin weckt bei der in ihrer Hausfrauenrolle gefangenen Mutter den allzu lang unterdrückten Wunsch nach Selbstverwirklichung. Zwischen den beiden Kindern entwickelt sich eine innige, auch sexuell konnotierte Beziehung, der naive, ahnungslose Tobias erlebt, ohne es richtig einordnen zu können, durch Rosa, die ihm geistig und entwicklungsmäßig deutlich voraus ist, seine Initiation. Auch die kreuzweise Sympathie der Paare ist unübersehbar, ein Bäumchen-wechsle-dich-Spiel findet aber nicht statt. Mehr sei hier fairerweise nicht verraten, nach dem Suizid der Mutter jedoch, an dem Tobias nicht ganz unschuldig ist, zerbricht auch die nachbarliche Idylle.

Raffiniert hat Ulrich Woelk seinen Plot einer sich anbahnenden Tragödie konzipiert und zu einem nachdenklich machenden Finale geführt. Eine wichtige Rolle spielt dabei die kindliche Erzählperspektive, die geschickt, mit dem epochalen Raumfahrt-Ereignis als Hintergrund, die zu ahnende Entwicklung mit den sich ändernden Konstellationen sehr naiv schildert. Nach einem Zeitsprung von vierzig Jahren erzählt schließlich der als Astrophysiker bei der ESA tätige Tobias von seiner Mitarbeit bei der Rosetta-Mission, der erstmaligen weichen Landung einer Raumsonde auf einem Kometen. Ferner berichtet er von einer Lesung auf der Frankfurter Buchmesse, wo seine Jugendliebe Rosa, an die er über dreißig Jahre lang nicht mehr gedacht hat, ihren neuen Roman vorstellt. Sie erkennt ihn nicht, als er am Signiertisch mit ihr spricht, und er gibt sich auch nicht zu erkennen, obwohl es viele Fragen gäbe, die er ihr hätte stellen können, «… aber musste irgendeine davon nach all den Jahren noch zwingend beantwortet werden?» Und so ließ er in sein Buch als Widmung «Für Rosetta» schreiben. Später hat er dann aber die Geschichte jenes Sommers doch noch aufgeschrieben, eine schöne ‹Roman im Roman›-Fiktion. «Ich habe das Manuskript in einen Umschlag gesteckt und an Rosa adressiert. Ich nehme an, dass ihr Verlag den Brief an sie weiterleitet. Morgen werde ich ihn abschicken». Mit diesen Worten endet der Roman, - und lässt alles offen.

Völlig unartifiziell und mit viel Zeitkolorit erzählt Ulrich Woelk in einer nüchternen, schnörkellosen Sprache seine Geschichte der technischen, politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Um- und Aufbrüche. Er spiegelt die gescheiterte Emanzipation der Mutter an der erwachenden Sexualität des Sohnes, stellt dem rigiden Konservatismus in dessen Elternhaus die liberale, unkonventionelle Modernität im Nachbarhaus gegenüber. Über dem gesamten Plot schwebt als emotionale Grundlage ständig eine leise Melancholie, die sich dann in einer so vom Leser nicht voraussehbaren Eskalation entlädt, wobei insbesondere der geschickt aufgebaute Spannungsbogen und das ergreifende Finale diesen Roman auszeichnen.

Bewertung vom 29.11.2019
Die Habenichtse
Hacker, Katharina

Die Habenichtse


sehr gut

Kein Wohlfühlroman

Mit dem Roman «Die Habenichtse» von 2006 hat Katharina Hacker eine ungewöhnlich konträre Rezeption ausgelöst, den fast durchweg positiven Buch-Besprechungen des Feuilletons stehen überwiegend negative, fast wütende Bewertungen der Leserschaft gegenüber. Nicht zuletzt hat dieser Roman ja den Frankfurter Buchpreis gewonnen, und die Jury hatte damals dazu ausgeführt: «In einer flirrenden, atmosphärisch dichten Sprache führt Katharina Hacker ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart, ihre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln? Die Qualität des Romans besteht darin, diese Fragen in Geschichten aufzulösen, die sich mit den plakativen Antworten von Politik und Medien nicht zufriedengeben». Wer hat denn nun recht, die Profis oder die Laien?

Die in 39 Kapiteln mit wechselnden Handlungssträngen erzählte Geschichte vom Haben und Sein bildet soziologisch drei Gesellschaftsschichten ab, das verwahrloste Prekariat, die kleinkriminelle Unterwelt und den gutsituierten Mittelstand. Handlungsorte sind London und Berlin, der Zeitrahmen wird durch die Zäsur von 9/11 und den Beginn des Irakkrieges geprägt. Recht plakativ steht gleich zu Beginn des Plots der Angriff auf das World Trade Center, der 33jährige Berliner Jurist Jakob hätte just an diesem Tag einen Termin mit einem Kunden dort gehabt. Den hat aber auf seinen Wunsch ein Kollege kurzfristig für ihn wahrgenommen, der dann bei dem Anschlag umgekommen ist. Jakob wollte unbedingt eine gleichzeitig in Berlin stattfindende Party besuchen, auf der er seine frühere Freundin und große Liebe Isabelle wieder zu treffen hoffte. Er findet tatsächlich erneut mit ihr zusammen, sie heiraten bald darauf, der verhängnisvollen politischen Zäsur zeitgleich ist dies also ein ebensolcher Einschnitt in sein bisheriges Privatleben. Der in New York umgekommene Kollege war für einen Wechsel in eine Londoner Kanzlei vorgesehen, die sich auf komplizierte Restitutionsbegehren spezialisiert hat, die in die DDR und bis in die Nazizeit zurückgreifen. Nun bekommt Jakob den Posten und zieht mit seiner Frau nach London, Isabelle kann als Mitinhaberin einer Grafikagentur problemlos auch per Heim-Office kreativ in ihrer Firma mitarbeiten. Die neuen Nachbarn sind eine Proletarier-Familie mit zwei Kindern, der Vater ein brutaler Säufer, es geht oft laut zu nebenan. In der Nachbarschaft gibt es aber auch den Dealer und Kleinkriminellen Jim, der von einem Ausbruch aus seinem Milieu träumt, wenn er seine verschwundene Freundin Mae wiedergefunden hat.

Über die verschiedenen Figurengruppen wird in diversen Rückblicken aus Sicht der Handelnden berichtet, wobei die Vielzahl der Figuren die Leser vor ziemliche Probleme stellt. Einerseits, weil sie ohne Einführung quasi hineingeschubst werden in die Handlung, andererseits aber auch, weil sie kaum Empathie zu erzeugen vermögen, man weiß fast nichts von ihnen. Nach etwa einem Drittel des Romans beginnen die Handlungsstränge allmählich aufeinander zuzulaufen, es kommt zu ersten Begegnungen und auch Konfrontationen, man begreift allmählich, worauf das hinaus soll.

Der Reiz dieses raffiniert konstruierten, zeitkritischen Romans liegt in der Konfrontation dieser verschiedenen Lebensformen in stimmigen Szenen, mit dem verblüffenden Ergebnis, dass auch das junge Paar zu den «Habenichtsen» gehört, - nicht materiell, sondern seelisch. Denn sie sind menschlich verarmt, ihr Leben ist völlig aus den Fugen geraten, sie haben sich allzu schnell auseinandergelebt und scheitern an ihrer Gedankenlosigkeit. Jakob ist von seinem charismatischen, homosexuellen Chef fasziniert, Isabelle fühlt sich zu dem verwahrlosten Junkie hingezogen, wird von ihm aber verachtet und gedemütigt. Minutiös und hoch verdichtet wird hier lakonisch über Desillusionierung berichtet, kein Wohlfühlroman also, eher ein ambitioniertes Sprachkunstwerk, wie man es selten zu lesen bekommt.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2019
Als Gast
Kurzeck, Peter

Als Gast


weniger gut

Langmut als Lesertugend

Nicht weniger als das Konservieren der Zeit war das ambitionierte Ziel von Peter Kurzeck, der Roman «Als Gast» erschien als zweiter Band eines «Das alte Jahrhundert» betitelten und auf zwölf Bände projektierten Zyklus, von dem insgesamt aber nur sieben Romane erschienen sind, der letzte posthum in diesem Jahr. Der proustsche Dimensionen erreichende Romanzyklus stellt einen absoluten Schwerpunkt dar im umfangreichen Œuvre des mit vielen Preisen ausgezeichneten Schriftstellers. In dem ehrgeizigen, autobiografisch angelegten Romanprojekt berichtet der Autor in einer ganz eigenständigen, stilistisch ungewöhnlichen Erzählweise vom eigenen Leben und den Ereignissen in seiner hessischen Umgebung.

Der vorliegende Band behandelt dem Titel entsprechend die Zeit des Ich-Erzählers als Gast bei wohlmeinenden Bekannten, die dem finanziell abgebrannten Schriftsteller, der, von seiner Freundin verlassen, unter erbärmlichsten Bedingungen lebt, vorübergehend eine neue Bleibe angeboten haben. Die örtlich in Frankfurt am Main und zeitlich 1984 angesiedelte Geschichte, in Rückblicken dann auch auf die Jugend in einem hessischen Dorf im Jahre 1948 ausgedehnt, ist eine breit angelegte, detailversessene Erinnerung an die gelebte Zeit. Wobei es sich ganz offensichtlich überwiegend um eigenes Erleben von Peter Kurzeck selbst handelt, ergänzt um fiktionale Erlebnisse seiner Romanfigur, dem an seinem dritten Buch schreibenden Schriftsteller. Sehr oft, wenn er von ihm in der dritten Person schreibt, folgt relativierend hinter dem Komma ein ergänzendes, den Leser irritierendes «also ich». Als Chronist seiner Zeit hat Peter Kurzeck einen beinahe mikroskopisch präzisen Blick auf die Nachkriegszeit, von der er, häufig örtlich und zeitlich abschweifend, minutiös berichtet. Seine geradezu fanatisch penible, detailgenaue Erzählweise ist eine direkte Folge seines Kampfes gegen das Vergessen, auch gegen das Verschwinden von Gewohntem, Liebgewonnenem. Diese ständige Selbst-Vergewisserung ist ein geradezu manisches Inventarisieren der Gegenwart. Bei allem chronistischem Eifer wird im Roman aber auch deutlich Gesellschaftskritik geübt, ein Anschreiben gegen immanent scheinende Verhaltensmuster zudem. Hinter den deprimierenden Beobachtungen und Erkenntnissen aber bleibt in dem assoziationsreichen Text immer auch die Hoffung erkennbar, manchmal keimt sogar Humor auf.

«Müsste nicht der Mann von Sybilles Mutter jetzt draußen vorbei? Er heißt Peter wie ich. Kommt jeden Samstag aus Oberrad in die Stadt. Einkaufen. Lottozettel. Auf der Zeil die Schaufenster. Die Sonderangebote alle Samstage und Preise vergleichen. Neue Schuhe. Jeden zweiten Samstag zum Friseur. Eine neue Jacke. Vollwaschbar. Kochfest. Trockner geeignet. Indanthren. Soll man als nächstes einen Trockner zur Jacke dazu? Aber besser bringt man sie doch in die Reinigung. Werbewoche. Dann ist es billiger. Chemische Reinigung. Kleiderpflege. Sicher ist sicher. Haarspray. Mundwasser. Niveacreme. Sonderpreis. Zwölf Paar Socken. Ein paar Jahre lang jeden Samstag ein Hemd». In diesem Duktus ist der gesamte Roman verfasst, von der ersten bis zur letzten Seite.

Der praktisch handlungslose Roman wird in einem ununterbrochenen Bewusstseinsstrom erzählt, der immer wieder in sinnfreie Assoziationen mündet. Als akribisches Protokoll seiner Zeitgenossenschaft verzichtet der Autor völlig auf Spannung zugunsten seiner zuweilen auch pathetisch geäußerten Beobachtungen. Im Stil heutiger Minimal-Kommunikation via Internet findet der Autor seinen ureigenen, unverwechselbaren Ton. Im Stakkato eilt der Text in Einzelwörtern, Satzfetzen und prädikatlosen Wortreihungen voran, dem Prinzip der permanenten Wiederholung folgend. Auch wenn ich Siegfried Unseld ausdrücklich widerspreche, der ablehnend von «Kneipenliteratur» sprach, ist diese Prosa kaum goutierbar für das Lesepublikum, wie die Rezeption überdeutlich zeigt. Es ist schlicht ein Übermaß an Langmut, das dem Leser hier abverlangt wird.

Bewertung vom 26.11.2019
Flammenwand.
Streeruwitz, Marlene

Flammenwand.


weniger gut

Starker Tobak für arglose Leser

In Dantes göttlicher Komödie ist die «Flammenwand» der Übergang vom Fegefeuer ins Paradies, im gleichnamigen Roman von Marlene Streeruwitz wird man mit diesem Bild im Kopf als Leser auch gleich auf die richtige Spur gesetzt. Der Untertitel «Roman mit Anmerkungen» weist auf eine zweite Erzählebene hin, im Anhang berichtet die streitbare österreichische Autorin von politischen Geschehnissen in ihrer Heimat während der Entstehung ihres Romans, beginnend am 19. März 2018 und endend am 9. Oktober des gleichen Jahres. Parallel zu ihrer aus feministischer Sicht geschilderten Geschichte einer gescheiterten Beziehung gleicht die zweite Erzählebene einem süffisanten, 83teiligen journalistischen Report über die österreichische Politik dieser Zeit, - ein Mann namens Strache lässt grüßen!

Adele, die Protagonistin, ist eine geschiedene, kinderlose Frau Anfang fünfzig, sie lebt in Wien und arbeitete als erfolgreiche Sprachlehrerin für Migranten. Um mit Gustav, einem auf das Großkapital spezialisierten Berliner Steuerfahnder, zusammen zu sein, hat sie ein Karenzjahr eingelegt, sie wohnt mit ihrem Lover während seines längeren beruflichen Ausland-Aufenthalts in Stockholm. Ihre sexuelle Beziehung ist durch seine mutmaßliche Impotenz problematisch geworden, nach anfänglich für sie beglückenden Koitus-Erlebnissen befriedigt er die äußerst sinnliche Frau inzwischen nur noch manuell. Bis ihr der Anruf einer anderen Frau plötzlich die Augen öffnet, in einem machohaften Versteckspiel genießt Gustav nämlich ganz offensichtlich seine manipulative Macht über die masochistisch veranlagte Adele. Verstört verlässt sie die Wohnung und läuft ziellos durch Stockholm.

Dieses odysseeartige Herumirren bei minus 15 Grad ist ein einziges Sinnieren der Heldin über ihre Beziehung, ein permanentes Rekapitulieren der gemeinsam verbrachten Zeit und der von Gustav dominierten Gespräche miteinander. Immer wieder zwischen Verlustängsten und Befreiungswunsch schwankend kreisen ihre Gedanken auch um frühe Kindheitserlebnisse mit den unbeirrt faschistisch orientierten Eltern, wobei besonders die häufig brutale Bestrafung ihres Bruders durch den sadistischen Vater tiefe seelische Spuren in ihr hinterlassen hat. Sie leidet seither zutiefst unter jeder Form maskuliner Allmacht, deren reale Entsprechungen sich im journalistischen Anhang häufig widerspiegeln. Insoweit ist der Roman ein Versuch von Marlene Streeruwitz, patriarchalische Machtfantasien zu demaskieren, wobei offen antifeministische Einstellungen nach Erscheinen des Romans dann ja eindrucksvoll und kaum widerlegbar durch das Ibiza-Video bewiesen wurden. «Bist du deppert, die ist schoaf» äußert sich der spätere Innenminister da proletenhaft im schönsten Schmäh. Und das scheint durchaus auch exemplarisch zu sein für das fragwürdige Frauenbild der neuen Rechtspopulisten im Geburtsland des Führers!

Adeles ruhelose Gedankenspiele um Verdammnis und Läuterung bilden den gesamten Plot, ein ständig von Kontrollverlust bedrohter, endloser Selbstfindungstrip, dessen Ausgang der Roman offen lässt. Erzählt wird dieses Um-sich-selbst-Kreisen als Bewusstseinsstrom im typischen Streeruwitz-Sprech, ein unverwechselbarer, stakkatoartiger Sprachfluss in Kurzsätzen jenseits aller Dudenregeln. Der ist außerdem noch, - bewusst, wie die Autorin im Interview gesagt hat -, mit österreichischem Idiom authentisch angereichert und bildet somit wirklichkeitsnah die Gedankensprünge ihrer gequälten Heldin ab. Sprachlich konventionell hingegen wird in der politischen Chronik berichtet, deren Sinn es sei, an der Realität der gesellschaftlichen Situation zur Zeit der Handlung keinen Zweifel zu lassen, wie die Autorin erklärt hat. Und diesem Fußnotentrick verdanken wir zuweilen auch einige denkwürdige Momente beim Lesen, so wenn zum Beispiel der «Kanzlerbub» das Kopftuchverbot verkündet. Ansonsten aber ist dieser unendlich eintönige Roman einer hysterischen Masochistin starker Tobak für arglose Leser!

Bewertung vom 18.11.2019
Ur und andere Zeiten
Tokarczuk, Olga

Ur und andere Zeiten


ausgezeichnet

Zauber als Narrativ

Mit ihrem dritten, im Original 1996 erschienenen Roman «Ur und andere Zeiten» hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk auch international den Durchbruch erreicht, er wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die in ihrer Heimat aus national-katholischen, xenophoben Kreisen heftig befehdete Autorin wurde vor kurzem mit dem nachträglich für 2018 verliehenen Nobelpreis geehrt «für eine erzählerische Vorstellungskraft, die mit enzyklopädischer Leidenschaft Überschreitungen von Grenzen als Lebensform darstellt», wie die Jury erklärte. Insoweit kann der Preis auch als demonstrative politische Mahnung für ein weltoffenes, liberales Polen gedeutet werden. Als studierte Psychologin ist die Autorin erklärtermaßen eine Anhängerin von C. G. Jung, dessen Vorstellung von den «Archetypen» sie als universell gültig begreift und in ihre Erzählungen einbezieht. Dieses Bewusstsein für die Kontingenz von Identitäten ist prägend auch für diesen Roman.

Das fiktive Städtchen Ur im östlichen Polen steht unter dem Schutz der vier Erzengel. In einem breit angelegten Epos wird über einen Zeitraum von etwa achtzig Jahren, vom Beginn des Ersten Weltkriegs an bis in die Mitte der neunziger Jahre hinein, vom Leben einiger archetypischer Bewohner erzählt. Deren wechselvolles Schicksal in einer historisch derart ereignisreichen Periode mit ihren politischen Umbrüchen und den zwei Weltkriegen wird, vom Weltengetümmel auffallend abgehoben, ja geradezu entrückt, aus einer zutiefst humanen Perspektive beschrieben. Das üppige Figuren-Ensemble von durchweg urigen, exzentrischen Gestalten wird erzählerisch, über Generationen hinweg, patchworkartig in hunderten von kleinen Vignetten beschrieben. Momentaufnahmen quasi, deren Überschriften regelmäßig mit «Die Zeit von …» beginnen. Ein permanenter Hinweis also auf die Zeit als wissenschaftliches Phänomen, auf das an einigen Stellen des Romans dann auch in vertiefenden Reflexionen näher eingegangen wird.

«Ur ist ein Ort mitten im Weltall» lautet der erste Satz. Er deutet damit schon gleich auf die Symbolhaftigkeit dieser exemplarischen Erzählung hin, deren Thematik die ständige Wiederkehr ist, in der Natur ebenso wie im menschlichen Leben mit seinen Freuden und Leiden. Der rätselhafte Ort ist gleichzeitig auch ein Bekenntnis zur Randständigkeit. Diesem Verwurzeltsein mit der Heimat wird aber auch ein nicht nur geistiges Nomadentum entgegengesetzt. Ein berührendes Beispiel dafür ist die grandiose Schlussszene. Einer der Protagonisten, der Säufer Pawel, ist nach einem entbehrungsreichen Leben allein zurückgeblieben, Gevatter Tod hat in der Familie wie in der Nachbarschaft ganze Arbeit geleistet. Nach zwei Jahrzehnten ohne jedweden Kontakt bekommt er nun überraschend Besuch von seiner ins Ausland emigrierten Tochter. Sie haben sich aber rein gar nichts mehr zu sagen und gehen wie zwei Fremde verständnislos wieder auseinander. Zum Personal dieser gelungenen Parabel vom Ewigmenschlichen gehören auch märchenhafte Figuren wie der Böse Mann, der völlig der Kabbala verfallene Freiherr, die im Wald lebende, ehemalige Dorfhure, der Wassermann schließlich. Und natürlich Gott, der müde geworden ernsthaft überlegt, ob er noch länger Gott bleiben will.

Als ein «metaphysisches Märchen» hat Olga Tokarczuk ihr Buch von Geburt und Tod, Liebe und Hass, Glück und Leid bezeichnet, ihr Glaube sei «der Blick auf die zerfließenden Dinge», mit dem sie die Einheit von Ort und Zeit provokant negiert. Der mit christlicher Symbolik üppig angereicherte Roman voller Mythen und Wahngebilden ist trotz mancher Grausamkeiten in einer Sprache voller Zauber und Poesie erzählt, in der selbst drastische Begebenheiten im Krieg wie selbstverständlich eingebunden sind als unabänderliche Begleiterscheinungen menschlicher Existenz. Diese Reihung von Momentaufnahmen mit ihrem ständigen Wechsel zwischen Realität und Mythos ist eine mitreißend erzählte Geschichte voller Zauber, man kann sich ihr als Leser kaum entziehen.

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Bewertung vom 15.11.2019
Bel-Ami
Maupassant, Guy de

Bel-Ami


ausgezeichnet

Souverän erzeugter Lesesog

Zum Olymp der französischen Literatur gehört auch Guy de Maupassant, dessen Roman «Bel Ami», 1885 als Erstdruck in einer Zeitung erschienen, zu seinem erfolgreichstem Werk wurde, das bis heute in immer neuen Auflagen gelesen wird. Der dem Naturalismus zugerechnete Schriftsteller ist ja vor allem als Novellist berühmt geworden, hatte aber später als Romancier deutlich höhere Auflagen als mit den Novellenbänden. Der vorliegende, zu den Klassikern der Weltliteratur zählende Roman eines geglückten gesellschaftlichen Aufstiegs markiert auch eine Abkehr vom sonst vorherrschenden Pessimismus im Œuvre des Autors, er trägt zudem erkennbar autobiografische Züge.

In Paris trifft der ehemalige Unteroffizier Georges Duroy zufällig seinen Kameraden Forestier wieder, der im politischen Ressort einer Zeitung arbeitet. Der verhilft dem in ärmlichsten Verhältnissen lebenden jungen Mann zu einer Anstellung bei seinem Verlag und führt ihn in die Gesellschaft ein. Dank der Protektion seines Freundes macht der gut aussehende Duroy schnell Karriere, verfasst mit Hilfe von dessen Ehefrau Madeleine erste Artikel für sein Blatt und fängt schon bald ein Verhältnis mit ihrer verheirateten besten Freundin an, deren kleine Tochter ihn immer nur «Bel Ami» nennt. Durch einen Tipp seiner Geliebten, die ihn auch finanziell unterstützt, verdient er bei einer Börsenspekulation plötzlich viel Geld und kommt endlich aus seiner bedrückenden finanziellen Notlage heraus. Als Forestier plötzlich stirbt, heiratet er dessen junge Witwe, die inzwischen den größten politischen Salon von Paris führt und ihren neuen Ehemann nun nach Kräften unterstützt. Der steigt weiter die Karriereleiter hinauf und gewinnt schließlich sogar, nicht ohne Hintergedanken, die Frau seines Dienstherrn, Mutter zweier Töchter im heiratsfähigen Alter, zu seiner neuen Geliebten. Bei einem Dinner in deren neuerworbener, schlossartiger Villa keimt erneut quälender Neid in ihm auf, so möchte er auch gerne mal leben! Das Geld für das pompöse Domizil stammt zudem aus einem riesigen Spekulationsgewinn, den Tipp dazu bekam der Zeitungsboss durch eine streng geheime Information aus Kreisen der Regierung. Es reift schließlich ein perfider Plan in Duroy heran, in dem die älteste Tochter seiner neuen Geliebten die Hauptrolle spielt.

Der in der Belle Époque angesiedelte, satirisch gefärbte Roman über einen opportunistischen, charismatischen jungen Mann, dessen Attraktivität letztendlich jede Frau unwiderstehlich anzieht, schildert seine Entwicklung vom zielstrebigen, dankbaren Freund zum neidischen, geldgierigen und skrupellosen Emporkömmling. Maupassants Geschichte entlarvt auch die Doppelmoral einer Gesellschaft der Belle Époque, deren prüde Konventionen in den Beziehungen der Geschlechter penibel einzuhalten sind, die andererseits aber bedenkenlos im Geheimen missachtet werden. Genau so entlarvend wird auch die weitverbreitete, korrupte Ellenbogen-Mentalität in politischen Geschehen der Gründerzeit angeprangert. Neben der Charakterstudie des Parvenüs bekommt der Leser ebenso interessante Einblicke in das Zeitungswesen jener Zeit mit seinem kämpferischen Meinungs-Journalismus wie in das oberflächliche Pariser Gesellschaftsleben.

Deutlich kontemplativer ist hingegen meine Lieblings-Szene, ein mehrere Seiten umfassender Dialog eines desillusionierten, älteren Dichters, der dem jugendlichen Helden zu bedenken gibt: «Was erhoffen Sie sich von der Liebe? Noch ein paar Küsse, und Sie sind impotent … Und was weiter? Geld? Wozu? Um Weiber zu bezahlen? Ein hübsches Glück! Um viel zu essen, dick zu werden und nächtlich unter den Stichen der Gicht zu schreien? Und was weiter? Ruhm? Wozu, wenn man ihn nicht mehr in Gestalt der Liebe schlürfen kann? Und was weiter? Immer der Tod zum Schlusse!» Maupassants berühmte Geschichte vermag, ohne psychologische Tiefenbohrungen und moralisch zurückhaltend erzählt, äußerst souverän einen unwiderstehlichen Lesesog zu erzeugen. Chapeau!

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