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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Sapphira und das Sklavenmädchen
Cather, Willa

Sapphira und das Sklavenmädchen


ausgezeichnet

Nach Sapphira Colberts Tod fragten sich alle, die sie kannten, ob es ein Fehler gewesen war, dass sie aus Loundoun County hierher gezogen und mit ihrem Mann die Mühle in Back Creek/Virginia übernommen hatte. Sapphira wirkte stets eine Spur zu fein für das abgelegene Bergtal. Die Mühle mit den umliegenden Ländereinen hatte Sapphira geerbt, ihr Mann Henry arbeitete sich in den ungewohnten Beruf erstaunlich gut ein und genoss hohes Ansehen im Ort. Wie es in jener Zeit üblich war, verfügte Henry über Mühle und Farm, obwohl das Vermögen und einige Sklaven Sapphira mit in die Ehe gebracht hatte. Sapphira war sehr wohl in der Lage, einen landwirtschaftlichen Betrieb zu führen, beschränkte sich nach ihrer Heirat jedoch darauf, den Haushalt zu führen und die Sklaven im Haus zur Arbeit anzuleiten. Kutscher, Gärtner, Mühlenarbeiter, Hausmädchen gehören zum Haushalt der Colberts. - Wer bei den Colberts rein juristisch gesehen welche Entscheidungen zu treffen hat, wird zur schicksalsträchtigen Frage, als es im Jahr 1856 einen Konflikt um die Mulattin Nancy gibt. Sapphira will Nancy verkaufen und hält die Gründe dafür lange verborgen. Die Sklaven gehören zwar Sapphira, aber Henry als Landbesitzer müsste im Fall eines Verkaufs den Kaufvertrag unterschreiben. Aus religiöser Überzeugung ist Henry Gegner der Sklaverei. Er ist sich jedoch auch des Problems bewusst, dass Sklaven seit Generationen nur Anweisungen ausgeführt haben und sich nun kaum von einem Tag auf den anderen selbst um Arbeit und Unterkunft kümmern können. Henry will auf keinen Fall einen seiner Leute verkaufen, deren Familien seit Generationen für seine Familie gearbeitet haben. Er persönlich will auf niemanden verzichten, mit dem er zusammenarbeitet und an den er gewöhnt ist. Sapphira spielt im Konflikt nicht mit offenen Karten, wie beim Blick auf die unterschiedlichen Ansichten zum Fall Nancy deutlich wird. Forciert wird die komplizierte Situation durch die damalige Ansicht, dass schwarze Frauen, die vom Besitzer oder einem anderen Weißen missbraucht werden, die Verantwortung für eine wahrscheinliche Schwangerschaft selbst zu tragen hatten. Die - abhängige - Sklavin trug moralisch die Schuld; der Täter konnte unbeirrt weitermachen. Als dritte Partei im Konflikt tritt die verwitwete Tochter Rachel der Colberts auf, die mit zwei kleinen Töchtern wieder auf dem Besitz ihrer Eltern lebt. - Nach einem Zeitsprung von 25 Jahren tritt die Autorin selbst in ihren Roman und erzählt die Geschichte zu Ende, so als hätte sie sie als kleines Mädchen in der Küche ihrer Eltern vom Hauspersonal erfahren. Die Figur der Rachel, die im Roman stets Mrs. Blake genannt wird, soll stark an Willa Cathers Großmutter angelehnt sein. - Willa Cather erzählt für die damalige Zeit alltägliche Ereignisse, die alles andere als banal sind. Cather hat sich in einer Rede sehr kritisch zum amerikanischen Roman geäußert, in dem es immer nur darum ginge, wer am Ende wen bekommt. Dagegen stellt sie den russischen Roman, in dem das Land lauter spräche als die Menschen. Cather erzählt ruhig, fast distanziert, mit großer Liebe zu Details, die ein äußerst lebendiges Bild jener Zeit entstehen lassen und in denen die Landschaft eine entscheidende Rolle spielt. Man kann Cather als Schöpferin starker Frauenfiguren sehen; ich finde die Figur des Henry Colbert und des Hauspersonals ebenso gut gelungen. „Sapphira und das Sklavenmädchen“ hat als Klassiker nichts an Aktualität verloren. Das Buch erzielt seine Wirkung durch die Nähe der Autorin zu Zeitzeuginnen der Epoche vor dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Zwischen der mündlichen Überlieferung, die in Cathers Schreiben einfließt und dem Versuch zeitgenössischer Autoren, Lesern von heute die Atmosphäre jener Zeit zu vermitteln, liegen Welten.

Bewertung vom 04.01.2017
Was uns bleibt ist jetzt
Wolitzer, Meg

Was uns bleibt ist jetzt


ausgezeichnet

Jamaica, die fünfzehnjährige Icherzählerin, wird in Wooden Barn aufgenommen, einem Internat für "emotional fragile, hochintelligente Teenager". Jam leidet an Depressionen, seit sie ihre große Liebe verloren hat: Reeve, den charismatischen Austauschschüler aus London. Jam hat sich vor Kummer ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und das Leben verweigert. Gemeinsam mit Jams Therapeuten haben sich Jams Eltern für eine Schule entschieden, die traumatisierte und psychisch kranke Schüler aufnimmt. Das Schul-Motto von Wooden Barn lautet: Zusammenhalt. Ohne eine vorherige Stundenplanberatung am Schuljahresbeginn wird Jam gemeinsam mit nur vier anderen Schülern für den Literaturkurs von Mrs Quenell eingeteilt. Mrs Quenell ist schon ewig an der Schule und wirkt auf ihre Schüler, als wäre sie weit über 70 Jahre alt. Der Kurs, der sich jedes Jahr um nur einen Autor dreht, ist an der Schule so legendär wie geheimnisumwittert. Wer nicht daran teilnimmt, erfährt auch nichts über den Unterrichtsinhalt. Schnell wird klar, dass die fünf Schüler nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurden. Sie selbst wollen das anfangs noch nicht ganz wahrhaben. Die Afroamerikanerin Sierra, die Rollstuhlfahrerin Casey, der viel zu ernste Marc und Griffin mit dem ewigen Hoodie werden in diesem Semester das Werk Sylvia Plaths studieren, die sich 1963 das Leben genommen hat. Zum Unterricht gehört, dass jeder der Fünf Tagebuch führen wird. Sehr bald erfahren die Schüler voneinander, dass nicht nur sie selbst einen Verlust erlitten haben, sondern auch die anderen Kursteilnehmer. Spannung wird einerseits durch das Rätseln darum erzeugt, was mit Reeve passiert sein könnte, zunehmend fesselnd fand ich die Entwicklung in der eingeschworenen Gruppe jugendlicher Traumatisierter. Eine Weile scheint der Roman sich sogar in eine phantastische Richtung zu bewegen. Auch die Entwicklung der sehr glaubwürdigen Icherzählerin Jamaica fand ich so fesselnd, dass ich das Buch ohne Pause an einem Tag ausgelesen habe. Gestört hat mich das Verhalten von Jamaicas Mutter, die in eigenartiger Weise die Begriffe Depression und Therapie euphemistisch verniedlicht, anstatt ihrer Tochter mit Offenheit den Rücken zu stärken. Dass die betroffene Jamaica selbst das D-Wort vermeidet, ist dagegen aus ihrer Sicht völlig verständlich. Nach einigen (für die Lösung notwendigen) Handlungs-Schleifen findet Jamaicas besonderer Literaturkurs ein überraschendes und dabei glaubwürdiges Ende.

"Was uns bleibt, ist jetzt" hat mir die Botschaft vermittelt, dass nach traumatischen Verlusten auf dem Weg zurück in den Alltag der erste Schritt zunächst ein Schritt in die Vergangenheit sein muss, um Frieden mit den Ereignissen zu finden. Auch wenn ich mich streckenweise über das Buch geärgert habe, finde ich Wolitzers Bearbeitung der Themen Depression und Tagebuchschreiben für interessierte jugendliche und erwachsene Leser nur zu empfehlen.

Bewertung vom 04.01.2017
Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong
Mai, Jia

Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong


ausgezeichnet

Die alte Frau Rong aus Tongzhen war ihrer Zeit weit voraus. Um mehr über ihre beängstigenden Träume zu erfahren, schickt sie ihren Enkel Rong Zilai 1873 zum Studium ins Ausland. Der junge Herr Rong aus der Dynastie chinesischer Salzhändler studiert dort, was ihn interessiert, und nennt sich nach seiner Rückkehr nach China John Lilley. Sein Nachkomme Rong Xialai (Lilley Junior) wird Adoptivvater des Herrn Rong (Rong Jinzhen, später Rong Zhendi), um den sich das Buch dreht, sowie Begründer einer neuen bürgerlichen Klasse Chinas. Mit dem Mädchen Rong Youying, der Abakus-Lilley, taucht im Rong-Clan eine herausragende mathematische Begabung auf, die an Söhne zusammen mit einer ungewöhnlich dicken Kopfform vererbt wird. Einer dieser Teufelsschädel, Spitzname Kobold, wächst notgedrungen und wenig beachtet im Umfeld der Rongs auf. Ganz das Ebenbild seiner Großmutter Abakus-Lilley, zeigt Kobold deutliche Merkmale eines Autismus vom Typ Asperger, einer Behinderung, die Betroffene in ihren sozialen Kontakten stark einschränkt. Die chinesische Medizin wertet das Asperger-Syndrom als Entwicklungsstörung und kennt heute Mittel zu ihrer Behandlung. Fürsprecher und Förderer des mutterlosen Mathematik-Genies unterstützen seine Ausbildung und erkennen sogar seine sozialen Defizite. - Wie eine Gesellschaft herausragende Individuen und Talente integriert oder ausgrenzt, ist ein spannendes Thema. Die Besonderheit des kleinen Kobold fasziniert vor allem deshalb, weil in asiatischen Kulturen der Einzelne sich unbedingt der Gemeinschaft unterzuordnen hat. Der begabte junge Mann kann sich aufgrund seiner Behinderung jedoch nur seinem persönlichen System selbst verordneter Zwänge unterordnen, nicht aber von Fremden verordneten Zwangssystemen. Wie es ist, in China Autist mit Inselbegabung zu sein, kann Mai Jias Lesern nur indirekt durch die Reaktionen Außenstehender vermittelt werden. Der Autor verbrachte selbst 17 Jahre im chinesischen Militärdienst und hat wie Zhendi einen besonderen Bezug zur Kryptografie. - Ein nüchtern beobachtender Chronist filtert aus Zhendis Leben allein das heraus, was dieser Beobachter für erzählenswert hält. Befragungen und Untersuchungen lassen den bereits 2002 veröffentlichten und in viele Sprachen übersetzten Roman wie einen Kriminalfall wirken. Zweifel entstehen, Bewertungen sind zu revidieren, die Geschichte muss förmlich auf den Kopf gestellt werden. Selbst Träume dienen als Schlüssel, eine Darstellungsform, die in Chinas Kriminalerzählungen Tradition hat. Ein Autor muss in eng gesetzten Grenzen lavieren, um in China verlegt werden zu können; er muss klüger sein als die Zensoren. Chinesische Romane verbergen sich deshalb oft hinter historischer Fassade. Auch die 70 Jahre zurückliegende Tätigkeit bei einem Geheimdienst sehe ich als historische Fassade an, die die Neugier westlicher Leser auf das heutige China nicht befriedigen kann. Lesern außerhalb Chinas und jüngeren chinesischen Lesern erschwert diese Art der Darstellung den Zugang. Mit der Wahl der Kryptografie als zentrales Thema seines Romans zeigt Mai Jia die im Umgang mit Zensurbehörden nötige List. Kryptografie sucht Schutz vor potentiellen Feinden in der Einzigartigkeit eines ganz besonderen Codes, zu dem nur wenige Eingeweihte Zugang haben. Einzigartigkeit ist zu Rongs Zeiten jedoch auch subversiv. - Wer seine Erwartungen nicht zu stark an die Gattung Spionageroman bindet und zwischen den Zeilen lesen kann, wird von Mai Jia in der Charakterisierung seiner Figuren auch kritische Töne wahrnehmen können. Zhendis groteske Familiengeschichte erinnert in manchen Passagen an die Romane Yu Huas; 'Das verhängnisvolle Talent des Herrn Rong' verdankt 'mehr der literarischen Tradition als dem wahren Leben', so die Einschätzung von Perry Link in der New York Times Sunday Book Review vom 2.5.2014.

Bewertung vom 04.01.2017
Die offizielle Verabschiedung meiner langjährigen Kindheit (eBook, ePUB)
Kelly, Elizabeth

Die offizielle Verabschiedung meiner langjährigen Kindheit (eBook, ePUB)


gut

Die Camperdowns aus Cape Cod gehören zum US-Ostküstenadel; sie besitzen ein Haus in bester Lage am Atlantik, halten Pferde und Hunde. In ihren Kreisen spricht man nicht über Geld; man hat Geld. Als 1972 Vater "Camp" für das amerikanische Repräsentantenhaus kandidieren will, wird doch über Geld gesprochen. Camp muss auf Wahlparties Spendengelder für seinen Wahlkampf eintreiben und baut auf die Unterstützung seiner Frau Greer und seiner Tochter Riddle. Riddle war bisher ein schnippisches, burschikoses Wesen, das höchst unpassend gerade in dem Moment in die Pubertät kommt, als ihr Vater der Öffentlichkeit seine heile Familie demonstrieren will. In diesem Feriensommer wird Riddle abrupt mit der Realität außerhalb der Familienidylle konfrontiert. Im Jahr der Watergate-Affäre und des Attentats auf die Olympischen Spiele in München muss sie zur Kenntnis nehmen, dass ihre Eltern und den Wahlkampf-Gegner ihres Vaters, Michael Devlin, gemeinsame Jugenderlebnisse verbinden und dass Michael und "Camp" gemeinsam im Zweiten Weltkrieg in Europa gekämpft haben. Riddles spontane Entscheidung, eine wichtige Zeugenaussage zum Brand auf dem Nachbargrundstück nicht abzulegen, wird ihr kindliches Universum zerstören und ihre bis dahin behütete Kindheit abrupt beenden.

Elizabeth Kelly verknüpft hier ambitioniert Gesellschafts- und Coming-of-Age-Roman mit einem sehr spannenden Kriminalfall. In ihren Roman bin ich nur mit großen Schwierigkeiten hineingekommen, weil ich zu Anfang die extrem gekünstelten Dialoge für ein 13-jähriges Mädchen des Jahres 1972 unglaubwürdig fand. Erzählt werden die Ereignisse des letzten Sommers in Riddles Kindheit von der erwachsenen Riddle, die mit Mitte 30 inzwischen allein mit Hunden und Pferden lebt. Eine zynische Frau in ihren besten Jahren erinnert sich an den zynischen Teenager, der sie einmal war. Dabei fehlt der Autorin meiner Ansicht nach das Gespür für die Unterscheidung zwischen Riddles heutiger Sicht der Dinge und ihrer damaligen kindlichen Sicht. Meine Abneigung gegen das elitäre Gehabe der Figuren legte sich später, als ich über denkbare Täter und deren mögliche Motiven zu spekulieren begann und die Handlung schließlich zu einem berührenden Schluss kam. Emotional hat mich keine der Figuren erreichen können, obwohl ich Coming of Age-Romane sonst sehr gerne lese.

Bewertung vom 04.01.2017
Etta und Otto und Russell und James
Hooper, Emma

Etta und Otto und Russell und James


ausgezeichnet

Die 83-jährige Etta hat ihren Mann Otto allein gelassen und sich zu Fuß auf den Weg ans Meer gemacht. Aus Saskatchewan wäre der Weg an den Pazifik nach Vancouver näher. Doch Etta marschiert in Richtung Halifax, zum kanadischen Hafen, von dem aus kanadische Soldaten zum Militärdienst im Zweiten Weltkrieg verschifft wurden und zu dem manche von ihnen wieder zurückkehrten. Für Etta hat Halifax eine weitere persönliche Bedeutung; hierher wurde ihre einzige Schwester geschickt, als sie als Jugendliche ungeplant schwanger wurde. Etta hat einen Merkzettel in der Tasche, auf dem sie ihre Familienangehörigen notiert hat: ihre Eltern, ihre verstorbene Schwester, ihr Mann Otto Vogel, ihr Nachbar Russell - keine Kinder. Der Zettel gibt die Richtung vor, in die Ettas Pilgerweg führen wird: Etta leidet an Altersdemenz und kämpft mit dem Zettel gegen das bevorstehende Vergessen, das ihr bewusst ist. Da Otto und sein Nachbar Russell ebenfalls hochbetagt sind, wäre es nicht ungewöhnlich, wenn auch die beiden alten Männer am Ende ihrer Kräfte angelangt wären.

Eingeschoben in Ettas Erlebnisse der Gegenwart - die stark an den Pilgerweg des Harold Fry erinnern, - sind Erinnerungen an die gemeinsame Jugend der drei Personen und der Briefwechsel zwischen Otto und Etta während des Krieges. Otto Vogel stammt aus einer Familie mit 15 Kindern, von denen jedes Kind Pflichten auf dem elterlichen Hof zu erledigen hatte. Russell, der Neffe des Nachbarn, wird als Kind Nr. 7 - mit allen Rechten und Pflichten seinem Alter entsprechend - in die Reihe der Vogelschen Kinder aufgenommen. Vogels Kinder gehen nur zur Schule, wenn gerade keine Landarbeit ansteht, so dass Otto mit 17 Jahren noch nicht besonders gut schreiben kann. Etta ist zu diesem Zeitpunkt auch 17 und nach zweijähriger Ausbildung die Lehrerin der kleinen Dorfschule. Otto will unbedingt weg aus dem Dorf und meldet sich als Freiwilliger zum Militärdienst im Zweiten Weltkrieg. Erst durch seinen Briefwechsel mit Etta lernt Otto richtig schreiben. Während in der Gegenwart Ettas Weg durch Kanada bereits von Fans und Followern verfolgt wird, entfaltet sich die Vergangenheit der drei alten Leute und man versteht, warum Etta und Otto genauso handeln müssen, wie sie es tun.

Emma Hoopers rührend einfache Erzählung aus dem ländlichen Kanada werden Leser mit großem Gewinn verfolgen, die schon Kontakt zu hochbetagten oder dementen Menschen hatten. Sonderbare Gedanken und Ereignisse, wie Ettas Gespräche mit dem Kojoten James, werden mit Demenzerkrankungen vertraute Leser in völlig anderem Licht sehen. Für Etta lassen sich Gegenwart und Vergangenheit nicht mehr trennen und sie erkennt ihre Angehörigen vielleicht schon nicht mehr. Wer offen für Emmas und Ottos eigenwillige Gedanken ist, findet in diesem Roman beispielhaft den biografischen Ansatz zum Verständnis Dementer, ohne den man sich in der Betreuung dementer Angehöriger in kurzer Zeit bis zum eigenen Zusammenbruch aufreiben würde. Wie Ettas Erkrankung tragen auch Ottos Kriegserlebnisse, über die er vermutlich vorher nicht gesprochen hat, dazu bei, dass "Etta und Otto und Russel und James" einem beim Lesen eine fremde Gedankenwelt öffnen, mit der Leser des Buches belastbar sein sollten.

Bewertung vom 04.01.2017
Im weißen Kreis / Kommissarin Louise Boni Bd.6 (eBook, ePUB)
Bottini, Oliver

Im weißen Kreis / Kommissarin Louise Boni Bd.6 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Louise Bonìs sechster Fall spielt im Raum Freiburg kurz vor der Fußball-WM 2006, als die erwarteten Zuschauermassen aus aller Welt Sicherheitskräften manche Sorge bereitet haben werden. Bonì hat Informationen über einen Waffenkauf zugetragen bekommen, tappt über Opfer und Motive möglicher Täter jedoch noch im Dunklen. Nach dem Tod ihres ehemaligen Chefs ist die Zeit für einen neuen Dezernatsleiter zumindest für Louise noch nicht reif. Leif Enders, den 'Neuen' kann Louise nur schwer einschätzen; ein frisch versetzter Kollege ohne Stallgeruch als unbekannte Größe könnte nicht nur sie auf die eine oder andere Verschwörungstheorie bringen. Enders wiederum tappt gleich ins erste verfügbare Fettnäpfchen, als er bei Louise etwas zu platt Fortbildungsbedarf feststellt. Die Kriminalhauptkommissarin ist mit Mitte 40 noch immer vom frühen Tod ihres Bruders belastet, hat ihren Alkoholismus in der Vergangenheit zwar in den Griff bekommen, aber nicht die ungeklärte Beziehung zu ihrem letzten Partner. In dieser sonderbar gedämpften Stimmung der Verluste und Abschiede versucht Louise den Waffen-Deal zu einem möglichen Auftraggeber zurückzuverfolgen und zugleich das vermutete Opfer zu schützen. Die Fäden, die bis in die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika zurückreichen, sind schwer zu entwirren, weil der Verfassungsschutz die Ermittlungen am liebsten abwürgen würde, um Fragen nach dessen Informanten in 'patriotischen' Gruppierungen im Keim zu ersticken. Wie im Novembernebel bewegt Louise sich zwischen Faktenlage und Instinkt, Verdacht und Beweis, zwischen Ermittlungsergebnissen und offizieller Darstellung. Die für die Ermittler lebensgefährliche Tätersuche in einer selbstbewussten und sich als unangreifbar einschätzenden Szene lässt die Ereignisse vor den Augen des Lesers förmlich ineinander verschwimmen. Wie greifen Verbindungen zwischen Deutschland und Ruanda, die Farbe Weiß und ein zwei Jahre zurückliegendes Attentat ineinander, fragt man sich. Auf kurzfristige Ratlosigkeit folgt die unbequeme Erkenntnis, wie unverblümt Bottinis Kriminalroman an die unrühmliche Rolle des Verfassungsschutzes bei Ermittlungen in den so genannten "Dönermorden" der Zeit um 2006 anknüpft.

Die Figur der Louise ist zwar nicht sofort in allen Details zugänglich, wenn man ihre Entwicklung aus den Vorgängerbänden nicht mehr auf dem Schirm hat. Oliver Bottini hat mich jedoch auch in diesem Band mit der Vielseitigkeit seiner Themen beeindruckt und die besondere Stimmung des Romans hatte mich sofort wieder im Griff.

Bewertung vom 04.01.2017
Der unsichtbare Gast
Hermanson, Marie

Der unsichtbare Gast


ausgezeichnet

Martina arbeitet als Zimmermädchen in einem schwedischen Hotel. Leute wie sie werden mit Zeitverträgen eingestellt und aufgefordert zu gehen, wenn ihnen etwas an ihrer Arbeit nicht passt. Für Martina ist es entwürdigend, dass sie nicht genug verdient, um sich von ihren Eltern abzunabeln und eine eigene Wohnung zu mieten. Als das labile Gleichgewicht ihres Lebens aus dem Takt gerät, scheint die Begegnung mit Martinas ehemaliger Klassenkameradin Tessan die Rettung zu sein. Tessan hat offenbar das große Los gezogen mit einer Stelle als Hausmädchen auf einem verfallenden Gutshof. Die junge Frau, deren besondere Pläne sich früher immer zu schnell in Luft aufgelöst hatten, betreut die betagte Besitzerin des Anwesens, Florence Wendman. Für Florence ist die Zeit in den 40ern des letzten Jahrhunderts stehengeblieben, als in Europa Krieg herrschte und Florences Vater als Botschafter eine wichtige Persönlichkeit gewesen sein muss. Die alte Frau klammert sich an Rituale, die Tessan für sie inszeniert und in denen Florences Altersgenossen noch jung sind. Die Icherzählerin Martina fügt sich in das Theaterstück auf Gut Glimmenäs problemlos ein; denn Florence braucht eine Sekretärin für die Büroarbeiten, die sie angeblich zu erledigen hat. Die beiden jungen Frauen leben bei freier Unterkunft und Verpflegung und mit einem bescheidenen Einkommen; ein paradiesischer Zustand, solange Florence noch körperlich fit ist. Doch paradiesische Zustände finden außerhalb von Romanen selten ein gutes Ende. Während das Anwesen zunehmend verfällt und von Weinbergschnecken übernommen wird, fragt man sich, wie lange ein Arrangement wie dieses gutgehen kann. Wann wird einem Außenstehenden auffallen, dass Florence längst nicht mehr in der Lage ist, Entscheidungen über Haus und Haushalt zu treffen und damit leicht auszunutzen ist. Nach wenigen harmonischen Wochen gerät die Idylle durch die Ankunft weiterer Personen ins Wanken, die sich einerseits als höchst anpassungsfähig erweisen, aber auch bereit sind, für ein Dach über dem Kopf mit harten Bandagen zu kämpfen. Die Abläufe innerhalb der Gruppe lassen an ein soziales Experiment oder eine inszenierte Doku-Soap denken. Mit psychologischem Gespür für die Ausnahmesituation demaskiert Hermanson, wer sich mit welchen Mitteln durchsetzt und welche Folgen das für schwächere Gruppenmitglieder haben wird.

Eine stimmungsvoll und spannend erzählte Geschichte, die beim Lesen so manches Mal an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lässt.

Bewertung vom 04.01.2017
Wie man unsere Namen schreibt (eBook, ePUB)
Achebe, Chinua

Wie man unsere Namen schreibt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Anders als im englischsprachigen Raum, wo z. B. Chinua Achebes 'Alles zerfällt' zur Pflichtlektüre gehört, führen afrikanische Autoren auf dem deutschen Buchmarkt eher ein Nischendasein. Der 2003 verstorbene Autor aus dem Volk der Igbo in Nigeria zeigt sich in dieser Essaysammlung als selbstkritischer, schlagfertiger Redner und Analytiker. Achebe ermöglicht den Lesern seiner Werke einen Blick auf die Privatperson Achebe. Der Mann, den seine Klassenkameraden humorvoll 'Lexikon' riefen, wuchs unter britischer Kolonialherrschaft auf, unter der begabte Schwarze zwar studieren durften, die Posten in Wissenschaft und Politik, für die sich damit qualifizierten, jedoch Weißen vorbehalten waren. Als entscheidend für Achebes späteres Leben wirkte sich aus, dass seine Mutter zu den ersten Igbo-Mädchen gehörte, die zur Schule gingen, und Achebe als Schüler (wie auch Ken Saro-Wiwa und weitere Mitschüler) in der Schule gezielt zum Lesen von Romanen angehalten wurde. Als europäischer Leser sollte man es sich auf der Zunge zergehen lassen, dass der spätere preisgekrönte Autor als Kind mit Figuren der Kolonialromane von Greene, Conrad oder Kipling aufwuchs und deren klischeehafter Afrika-Wahrnehmung in Form kindlicher Schwarzer im Baströckchen. Geprägt wurde Achebe auch von den Zweifeln am Sinn des Missionswesens in Afrika, die sein Vater als Heranwachsender von seinem Onkel aufnahm, der den Jungen erzog.

In den zwischen 1988 und 2008 entstandenen kurzen Texten reagiert Achebe u. a. auf die Identifizierung mit seinen Figuren durch Leser auf der ganzen Welt, die ihn selbst überrascht hat. Achebe setzt sich mit Eigenheiten der Igbo und seiner multiethnischen und mehrsprachigen Identität auseinander. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zur englischen Sprache als Staats- und Unterrichtssprache, die nach Achebes Ansicht keine Willkürmaßnahme der Kolonialherren, sondern eine Notwendigkeit für einen vielsprachigen Kontinent und im ureigenen Interesse seiner Völker und Stämme sei.

Ein sehr lesenswerter Rückblick auf das Schaffen eines Autors, der auch dessen uns heute weniger bewusste Seiten anreißt.

Bewertung vom 04.01.2017
Die digitale Bildungsrevolution
Dräger, Jörg;Müller-Eiselt, Ralph

Die digitale Bildungsrevolution


sehr gut

Jörg Dräger und Ralph Müller-Eiselt prophezeien eine bevorstehende revolutionäre Veränderung gesellschaftlicher Strukturen durch überwältigend erfolgreiche und dabei kostengünstige digitale Lehr- und Lernmethoden. Diese gesellschaftlichen Veränderungen vergleichen sie mit jenen, die die Erfindung des Buchdrucks oder die Digitalisierung in der Musikindustrie auslösten. Von individuellen digitalen Lernmethoden erhoffen sie sich, dass in Deutschland nicht mehr vorrangig die Herkunft über den Bildungserfolg eines Schülers entscheidet - ein unbezahlbarer Luxus, wie die Experten feststellen.

Plattformen wie MOOC, von denen aus jedem Winkel des Globus Online-Vorlesungen abzurufen sind, lassen in der Tat einen digitalen Bildungs-Tsunami erhoffen. Das Lernen vom PC oder Smartphone aus könnte gerade in Schwellenländern (wie Indien oder Brasilien) den Bildungshunger einer vorwiegend jungen Bevölkerung kostengünstig stillen. Auch Schüler, die schneller oder langsamer lernen als der Durchschnitt, würden von individuellen Methoden profitieren. In Deutschland könnte auf diesem Weg die Schulversagerquote von unfassbaren 16% eines Jahrgangs verringert werden. Nicht zuletzt sollen neue Lehrmethoden auch in Deutschland die Kosten-Nutzen-Relation des bisher 'paketierten' Bildungssystems verbessern. Ermutigende Beispiele (öffentlicher) Schulen in den USA fordern zum Handeln auf, an denen jeder Schüler seinen persönlichen Lehrplan bearbeitet und sofort individuelles Feedback von seinem Lernprogramm erhält.

Dräger und Müller-Eiselt erhoffen sich durch individuelle digitale Lehrmethoden eine höhere Motivation der Schüler, eine messbare Verbesserung der Schulleistungen, die dringend nötige Eliteförderung und durch alle drei Komponenten die Linderung des Fachkräftemangels in Deutschland. Im Zukunftsszenario der Autoren würden Mitarbeiter im Einstellungstest per PC-Spiel auf organisatorische und netzwerkende Talente geprüft, weniger Wert würde auf Wissen gelegt, das mit dem Berufsabschluss oft schon veraltet ist. Die schöne neue Bildungswelt wirkt zunächst attraktiv und der Generation Y auf den Leib geschneidert. Von Online-Mentoren, Peer-Grading, dem Klout-Score (aus Twitter -Followern und Facebook-Kontakten), digitalen Lebensläufen und dem Algorithmus als Studienberater erfahren wir hier.

Vor den Schattenseiten des Lernens am PC oder Smartphone warnt das Buch explizit. Wer Bildung nicht selbst durch Studiengebühren finanzieren kann, muss bisher auf Lernplattformen mit persönlichen Daten bezahlen, die Anbieter von Lernprogrammen über die Bildungskarriere jedes Users ansammeln. Doch der schönen neuen Bildungswelt stehen in Deutschland zuvor einige Hürden im Weg: die im internationalen Vergleich extrem medienskeptischen Lehrer, die fehlende W-Lan-Ausstattung von Schulen, die hieraus resultierende mangelhafte Vermittlung von Medienkompetenz, sowie urheberrechtliche Probleme des digitalen Zeitalters. Beklagt wird u. a. das Fehlen eines Kriterienkatalogs für Lehrer, der die Auswahl digitaler Lernmethoden erleichtere. ' Doch wer sollte diese Auswahl fachlich begleiten, wenn Politik und Kultusbürokratie ebenso medienfern verharren wie Deutschlands Lehrer?

"Die digitale Bildungsrevolution" wurde, ganz zeitgemäß, in nur 6 Monaten geschrieben. Beim Lesen spürt man die Erfahrung der Autoren als Referenten, sie können mit wenigen Schlüsselworten ganze Szenarien vor den Augen ihrer Leser entstehen lassen. Für ein Sachbuch liest sich das sehr geschmeidig, auch wenn ich die Darstellung der Online-Welt in Teilen zu unkritisch finde. Über den Glauben an die Intelligenz der Massen (im Buch genannt im Zusammenhang mit Bewertungsportalen) sollten Autoren längst hinaus sein, die sich beruflich mit den Möglichkeiten des Netzes befassen.