Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 397 Bewertungen
Bewertung vom 04.06.2022
Kloster Lorsch - Die archäologischen Untersuchungen der Jahre 2010 - 2016
Lammers, Dieter

Kloster Lorsch - Die archäologischen Untersuchungen der Jahre 2010 - 2016


ausgezeichnet

Der dritte Band über die archäologischen Untersuchungen am Kloster Lorsch dokumentiert schwerpunktmäßig die Ausgrabungen um die Torhalle, die in den Jahren 2015/16 durchgeführt wurden. In diesen Jahren wurde im Rahmen der Umgestaltung des Benediktinerplatzes eine ausgedehntere Grabungskampagne durchgeführt, die u. a. zum Ziel hatte, die unvollständigen und teilweise auch fehlenden Bestandserhebungen früherer Grabungen zu ergänzen oder überhaupt erst interpretierbar zu machen.

Noch bis in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts wurden auf dem Klostergelände mit aus heutiger Sicht unfassbarer Ignoranz großflächige Baumaßnahmen ohne archäologische Begleitung unternommen, dabei ist die historische Bedeutung Lorschs spätestens seit dem 19. Jahrhundert bekannt. Durch unsachgemäße Arbeiten wurden viele Befunde unwiederbringlich zerstört, neben den Problemen, die sich aus lückenhaften oder fehlerhaften Dokumentationen ergeben. Bis zu den Nachgrabungen 2015/16 wurden daher Behns Rekonstruktionen der Klosteranlage „Allgemeingut“, die nach den heutigen Erkenntnissen in wesentlichen Aspekten falsch und nicht durch Befunde gesichert waren. Insbesondere die Vorstellungen zu den Begleitstrukturen der Torhalle, dem angenommenen „Westtor“ und des Atriums, sowie deren Datierung mussten revidiert werden. Neben den Grabungen im Bereich der Torhalle wurde eine weitere Nachgrabung am Kirchenfragment durchgeführt.

Betrachtet man die Detailarbeit der Grabungsdokumentation, die oft komplizierte Störungen durch vorangegangene Grabungen und Erdarbeiten ausweist, ist es erstaunlich, in welcher Geschwindigkeit der Bericht publiziert werden konnte. Sechs Jahre mögen lange erscheinen, aber es sind buchstäblich Zigtausend Einzeldaten eingeflossen, die mustergültig aufgearbeitet und visualisiert wurden. Detaillierte Umzeichnungen von Profilen, zahlreiche Grabungsfotos, Einzelfundverzeichnisse, chronologische Befundkataloge, sowie interpretierende Begleittexte geben ein präzises Bild, das bei auch zukünftigen Generationen keine Fragen offenlassen wird.

Die von den Lesern schon länger erwarteten Gesamtpläne mit den detaillierten Rekonstruktionen von Bau- und Nutzungsstrukturen sind nun endlich verfügbar und konnten in bemerkenswerter chronologischer Auflösung dargestellt werden. Sie reichen von vorklösterlichen Befunden und Funden aus der Römerzeit, über die klösterliche Nutzungsdauer vom 8. Jahrhundert bis ins Spätmittelalter und weiter über die nachklösterliche Nutzungsperiode bis ins 18. Jahrhundert. Viele offene Fragen konnten geklärt werden, wenn auch nicht alle. So ist die These Behns vom „jüngeren Atrium“ zwar vom Tisch, die tatsächliche Gestaltung zwischen Torhalle und Klosterkirche ist aber im Detail immer noch nicht eindeutig bestimmbar. Da zerstörende Eingriffe in das Bodendenkmal nur dann zu rechtfertigen sind, wenn unumgängliche Baumaßnahmen anstehen, werden die Befunderhebungen auch in Zukunft nur punktuell bleiben, aber mit jeder gut dokumentierten Grabung werden weitere Elemente dem Puzzle hinzugefügt. Mit dem dritten und letzten Band der Grabungskampagne 2010-16 ist diese Aufgabe aus heutiger Sicht mustergültig gelöst worden.

Bewertung vom 03.06.2022
Der Inflationsschutzratgeber
Gebert, Thomas

Der Inflationsschutzratgeber


gut

Die monatlichen Inflationsraten kennen derzeit nur eine Richtung: nach oben. Es ist das Top-Thema, weil es jeden betrifft, und gerade die Deutschen haben Angst vor einer Wiederholung der Hyperinflation von 1923. Thomas Gebert macht in seinem "Inflationsschutzratgeber" Vorschläge, wie man sein Vermögen vor der schleichenden Geldentwertung schützen kann. Den direkten Preissteigerungen (z. B. den Energiekosten) kann man nicht entkommen, sie aber nach seiner Vorstellung durch geschickte Investitionen kompensieren. Sein Fokus liegt nicht darauf, wo man investiert, sondern wann man in welche Anlageform investiert und er versucht, sinnvolle Einstiegs- und Ausstiegsszenarien für ein Investment aufzuzeigen.

In den ersten sechs Kapiteln (rd. 90 Seiten) beschäftigt sich der Börsenexperte mit der Theorie der Inflation und in den Kapiteln danach (ca. 70 Seiten) mit deren Umsetzung. Auf wenigen Seiten bereitet Gebert die Kernpunkte der Inflation für jedermann verständlich auf und widerlegt gleichzeitig so einige Mythen. Auch stellt er provokante Thesen auf, wie z. B. dass "die Inflationsberechnung eine Schauveranstaltung" sei und seiner Meinung nach ist "Inflation ein Umverteilungsmechanismus." Das kann man so sehen, muss es aber nicht. Derzeit kennen alle Anlageklassen nur den Weg nach unten: Gold, Aktien, Immobilien, Geld.

Gebert ist ein Vertreter der modernen Geldtheorie. Die Entwicklung seit der Finanzkrise 2008/2009 hat gezeigt, dass billiges Geld die Inflationsrate drückte, was im Gegensatz zu den Vorhersagen der alten Geldtheorie steht und bei näherem Hinsehen auch nicht stimmt, denn bei Aktien, Kunst und Immobilien gab eine regelrechte Hyperinflation. Einige Wirtschaftswissenschaftler verkaufen die neuen Ideen unter dem positiv geframten Stichwort "Modern Monetary Theory" (MMT). Auch wenn die neue Sichtweise, dass die Schulden des Staates die Vermögen der Bürger sind, auf den ersten Blick erst einmal abstrus klingt, sind die dahinterstehende Erläuterungen bei flüchtigem Hinsehen nachvollziehbar.

Im praktischen Teil zeigt Gebert, welche Anlageklassen in Inflationszeiten besonders geeignet waren. Anhand von Entwicklungen in früheren Inflationszeiten (insb. die Ölkrisen in 1973 und 1979/1980) untersucht er, wie sich Aktien, Anleihen, Immobilien, Rohstoffe und Gold entwickelt haben. Gibt es Gewinner- und Verliererassets? Schützen Aktien und Immobilien wirklich auf Dauer vor Inflation? Profitieren spezielle Branchen? Wann ist der richtige Zeitpunkt für den Kauf oder Verkauf von Anlagen?

Seine Handlungsempfehlungen sind war nachvollziehbar, aber ich glaube, dass in heutigen Zeiten die Entwicklungen nicht mehr so einfach linear aus der Vergangenheit in die Zukunft extrapoliert werden können. Dabei sind Entwicklungen wie der Ukraine-Krieg und die durch die Sanktionen nochmals verstärkt gestörten Lieferketten erst nach Drucklegung hinzugekommen und noch nicht einmal berücksichtigt.

Geberts Empfehlungen orientieren sich vornehmlich am Konjunkturzyklus und dem gemäß der ALTEN Geldtheorie üblichen Mechanismen zur Bekämpfung der Inflation durch Erhöhung des Zinses. Aber passen die Empfehlungen noch zu einem Paradigmenwechsel hin zur neuen Geldtheorie, wie ihn die EZB derzeit verfolgt? Wird der Zins auch in Zukunft noch das Instrument zur Bekämpfung der Inflation sein oder sind es Steuererhöhungen, wie es die MMT fordert? Welcher Politiker wird sich überhaupt trauen, massive Steuererhöhungen durchzusetzen und was passiert, wenn z. B. die Südstaaten dabei nicht mitziehen und ihre Schulden einfach Deutschland aufladen (Stichwort „Schuldenunion“)? Was ist bei der gefährlicheren Inflationsvariante "Stagflation" zu beachten, die wir derzeit haben? Auf alle diese wichtigen Fragen geht Gebert nicht ein.

Insgesamt ist der kleine Ratgeber von Thomas Gebert stark im Theorieteil, aber aus meiner Sicht deutlich zu undifferenziert bei den Umsetzungsempfehlungen. Hier hätte ich mir mehr Tiefgang gewünscht, um Anlageentscheidungen besser fä

Bewertung vom 01.06.2022
Roland Reinstadler
Reinstadler, Roland

Roland Reinstadler


ausgezeichnet

Es sind Bilder wie aus einem anderen Jahrhundert. Die Lanthalers leben auf 1700 Höhenmetern im Südtiroler Passeiertal auf einem Berghof, der aus dem Felsen zu wachsen scheint. Der Bruder des derzeitigen Besitzers ist 1962 hier in den Tod gestürzt und auch sonst waren Unglücke nicht selten. Bis heute leben und arbeiten die Lanthalers mit ihren acht Kühen, einigen Schafen und Hühnern als Selbstversorger und unter Bedingungen, die sich kaum von denen im 19. Jahrhundert unterscheiden. Sie nutzen keine modernen Hilfsmittel, außer einer Stromleitung, die sie mit elektrischem Licht versorgt und die Verwendung eines Staubsaugers erlaubt. Gekocht wird, wie seit Generationen auf dem Holzherd, Bäume werden gefällt und zu Feuerholz gehackt, das Heu wird auf den Bergwiesen im Herbst gemäht und im Winter aus dem Schober am Berg in den Stall geholt. Es ist eine unglaublich anstrengende körperliche Arbeit, die im Gesicht des 75-jährigen Seniors tiefe Gräben gezogen und seinen Rücken gebeugt hat. Der Sohn wird den Hof übernehmen, aber von der Almwirtschaft alleine kann schon lange niemand mehr leben. Ohne EU-Subventionen würden die Lahnthalers schlichtweg verhungern.

Roland Reinstadler ist ganz in der Nähe aufgewachsen und hat über Jahre hinweg den Berghof und seine Bewohner fotografisch begleitet. Dabei sind ihm intime Einblicke in eine Lebenswelt gewährt worden, die er sensibel dokumentiert und mit viel Empathie ins Bild setzt. Natur und Mensch stehen hier nicht auf Augenhöhe, sondern die Umwelt wird als stete Bedrohung wahrgenommen, der man das eigene Lebensrecht abtrotzen muss. Im Winter ist das Gehöft völlig isoliert und abgeschnitten. Dann ziehen die Frauen und Kinder ins Tal, die Männer bleiben im Gebirge bei den Tieren.

Ich habe ähnliche Lebensumstände im Himalaya gesehen, hätte mir aber nicht im Traum vorstellen können, dass es in Europa noch Menschen gibt, die sich diesen Entbehrungen unterwerfen. Die eigentlichen Gründe dafür erfährt der Leser in den kurzen Bildkommentaren zwar nicht, aber die Verbundenheit mit den Vorfahren wird eine nicht geringe Rolle spielen. Der Gspellhof ist 1629 erstmals erwähnt und seitdem in Familienbesitz. Wie viele Generationen sich dies noch antun, weiß nur der Gekreuzigte im Herrgottswinkel, aber der Untertitel dieses einzigartigen Bildbandes, der mich an die frühe Sozialfotografie des 19. Jahrhunderts erinnert hat, lässt dennoch keinen Zweifel an der mittelfristigen Zukunft: Die Lahnthalers sind die letzten ihrer Art.

Bewertung vom 31.05.2022
Venezia
Povoleri, Federico

Venezia


ausgezeichnet

Bisher habe ich Venedig einmal gesehen. Es war an einem Novembertag, es waren kaum Touristen in der Stadt und ich wunderte mich über Erzählungen, dass man sich in den überfüllten Gassen kaum fortbewegen könnte. „Mein“ Venedig war fast geisterhaft leer.

Frederico Povoleri lebt hier und er kennt sowohl die Zeiten als auch Orte, an denen Venedig mehr ist, als ein begehbares Weltkukturerbe-Museum. Seine Fotos entstehen sowohl in den verschwiegenen Seitenkanälen der Lagunenstadt als auch an den Schnittstellen, an denen sich Touristen und Einheimische eher unfreiwillig begegnen. Die Einheimischen werden täglich weniger. Es gibt kaum noch Geschäfte des täglichen Bedarfs, in denen man normale Lebensmittel einkaufen könnte, immer mehr Häuser werden von reichen Ausländern aufgekauft oder in B&Bs umgewandelt. Es sind ungewöhnliche Bilder, die Povoleri zeigt: hoch beladene Lastkähne, mit denen Waren transportiert werden, überschwemmte Plätze und Gassen während des aqua alta, einen Großbrand in der Innenstadt, dem ein denkmalgeschütztes Lagerhaus zum Opfer fiel, das jetzt ohne Denkmalauflagen zu einem Hilton Hotel umgebaut wurde, oder ganz einfach stille Szenen „normalen“ Lebens an den wenig besuchten Uferpromenaden und Stränden oder den schwer zu erreichenden Inseln in der Lagune. Es sind meist alte Leute zu sehen, die nicht mehr wegziehen können oder es aus Sentimentalität nicht wollen. Und dann gibt es die Fotos, auf denen Touristen zu sehen sind, die sich benehmen wie Elefanten in einem Freizeitpark.

Frederico Povoleris Bilder durchzieht eine gewisse Resignation, zwischen Melancholie und Anklage gegen die geschäftsmäßige Vermarktung Venedigs. Die schwarz-weißen Aufnahmen sind ästhetisch durchkomponiert und es fällt auf, dass eigentlich nie die Sonne scheint, was der Serie einen roten Faden gemeinsamer Stimmung verleiht. Es ist also nicht das austauschbare Bilderbuch-Venedig, sondern Povoleri zeigt die andere Seite, die im Verschwinden begriffen ist. Ein wenig wehmütig mag das sein, aber es hat den Reiz, dass der Betrachter authentisch erfährt, wie es hinter der Disney-Kulisse noch aussieht - auch wenn mir persönlich an diesem Novembertag die Disneykulisse erspart geblieben ist. Ja, und die Sonne hat damals auch nicht geschienen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.05.2022
Das Ischtar-Tor aus Babylon
Gries, Helen

Das Ischtar-Tor aus Babylon


ausgezeichnet

Das Ischtar-Tor aus Babylon ist eines der Hauptwerke im Pergamon-Museum auf der Museumsinsel in Berlin. In den Zwanzigerjahren wurde es aus Zehntausenden Ziegelbruchstücken unter der Leitung von Walter Andrae wieder zusammengesetzt und in monumentaler Größe inszeniert. Bis zu dreißig Mitarbeiter haben fast 10 Jahre lang an dieser Aufgabe gearbeitet, die bis heute einer der Meilensteine der Archäologiegeschichte und der Visualisierung antiker Großgebäude ist.

Der kleine Führer von Helen Gries ist ausgezeichnet illustriert und beleuchtet sowohl den kulturellen und kultischen Hintergrund des Tores, als auch die Fund-, Rekonstruktions- und Rezeptionsgeschichte. Alle beteiligten Seiten werden gewürdigt und auch die Debatte um die vom Irak geforderte Rückgabe angedeutet. Die rechtliche Situation ist absolut eindeutig, denn der Irak besitzt bereits die Hälfte der von Andrae rekonstruierten Darstellungen, wie es bereits die Fundteilung 1921 vorsah. Die Arbeiten wurden vollständig von Deutschland finanziert. Ob sich die Berliner Museen nicht trotzdem moralisch erpressen lassen und, wie im Fall der Benin-Bronzen, der deutschen Bevölkerung ohne Not den originalen Zugang zu fremden Kulturen verwehren und diese damit aus dem öffentlichen Bewusstsein löschen, das wird sich noch zeigen.
Die Darstellung von Helen Gries ist fachlich auf dem aktuellen Stand, anschaulich und spannend geschrieben. Ich habe mich wirklich gewundert, wie viel Information man in einem so kleinen Büchlein unterbringen kann, ohne dass es inhaltlich oder visuell überladen wirkt. Ein sehr gelungener Museumsführer, nur auf das Gendern darf man aus meiner Sicht in Zukunft gerne verzichten. Berliner Museen halt... ¯\_(ツ)_/¯

Bewertung vom 27.05.2022
Die Kosmos-Mittelmeerflora
Schönfelder, Peter;Schönfelder, Ingrid

Die Kosmos-Mittelmeerflora


ausgezeichnet

Die Flora des Mittelmeerraums hat mich immer schon fasziniert. Sie ist in einem Ausmaß bunt, vielfältig und aromatisch, dass man als Botaniker aus dem Schwärmen nicht herauskommt. Bei einer geschätzten Artenzahl von 24.000 eine Auswahl für einen exkursionstauglichen Naturführer zu treffen, ist nicht einfach, aber Peter und Ingrid Schönfelder haben ein derart umfassendes Praxiswissen, dass ihnen diese Aufgabe tatsächlich gelungen ist. Peter Schönfelder ist leider 2020 überraschend verstorben, sodass sein Schüler Ralf Jahn die Überarbeitung des bereits 1984 erstmals erschienenen Pflanzenführers übernommen hat. Viele Arten werden aufgrund genetischer Untersuchungen heute in anderen Gattungen oder Familien geführt, sodass die Aktualität ein sich ständig bewegendes Ziel ist.

Ein einfacher Bestimmungsschlüssel ist die „Eintrittskarte“ in die Systematik des Buches, das den Leser ansonsten vor allem über die aussagekräftigen Fotos zum Ziel führt. Der Bestimmungsschlüssel löst bis auf Familienebene auf und zu jeder Familie gibt es ein entsprechendes Kapitel mit den alphabetisch sortierten Artensteckbriefen, die aber nicht weiter über Bestimmungshilfen erschlossen werden. Die nächsten Filter sind, wie gesagt, die Fotos, weitere Eingrenzungen erlauben die detaillierten Beschreibungen der charakteristischen Merkmale. Die reduziert verwendete (deutsche) Fachsprache wird über ein bebildertes Glossar erklärt, aber in der Regel sind die Texte ohne weiteres verständlich. Ebenfalls für die Identifizierung hilfreiche Daten sind die Blütezeit, die Wuchshöhe und Angaben zu den typischen Biotopen, in denen man die Pflanze findet. Eine grobe Verbreitungskarte, deren Auflösung aber kaum unter 30.000 km2 geht, grenzt ggf. die Auswahl ein.

Es sind vor allem die Pflanzen dargestellt, die entweder besonders häufig und landschaftlich prägend sind, oder besonders auffällig und attraktiv, also genau die Elemente, die den Pflanzenliebhaber üblicherweise anziehen. Gerade vor diesem Hintergrund ist die Trefferwahrscheinlichkeit relativ groß, und auch wenn man im Zweifel nur eine ähnliche Art findet, wäre mit entsprechender Spezialliteratur die weitere Suche deutlich vereinfacht. Ich habe auch bei heimischer Flora immer wieder festgestellt, wie wichtig es ist, ein Gefühl für die charakteristischen Gattungs- und Familieneigenschaften zu bekommen, um schnelle (und richtige) Ergebnisse zu erzielen.

Im Rahmen der Möglichkeiten ist „Mittelmeer-Flora“ ein sehr guter Kompromiss zwischen botanischer Vollständigkeit und handlicher Praktikabilität.

Bewertung vom 27.05.2022
Howard Carter und das Grab des Tutanchamun

Howard Carter und das Grab des Tutanchamun


weniger gut

Es ist bis heute eine der größten Entdeckungen der Archäologie: Howard Carter findet im November 1922 im Tal der Könige den Eingang zum Grab Tutanchamuns. Zu seinen Lebzeiten publizierte er einen dreibändigen Grabungsbericht für die interessierte Öffentlichkeit, die geplante wissenschaftliche Ausarbeitung konnte er aber nicht mehr realisieren, da er wenige Jahre nach dem Ende der Ausgrabungen verstarb. Seine umfangreiche Grabungsdokumentation vermachte seine Nichte dem Griffith Institute der Universität Oxford, die diesen Schatz bis heute hütet und noch regelmäßig ergänzende Dokumente erwirbt. So lassen sich heute viele Umstände der Entdeckung in erstaunlicher Detailliertheit rekonstruieren.

„Howard Carter und das Grab des Tutanchamun“ beleuchtet anhand von 50 Objekten aus dem Bestand des Griffith Institute chronologisch Carters Arbeit. Darunter befinden sich zahlreiche Originalaufnahmen, Tagebucheinträge, Pläne und Zeichnungen, denn Carter war ein exzellenter Zeichner, dessen Präzision sogar die Fotos übertreffen, die während der Ausgrabung gemacht wurden. Allerdings geben gerade die Fotos sehr anschaulich die unmittelbare Fundsituation wieder, die immer verloren geht, aber wichtige archäologische Informationen birgt. Das können vergängliche Materialien, wie Blumenkränze sein, oder antike Verhüllungen kostbarer Objekte, die rituellen Zwecken dienten.

Das Buch bemüht sich erkennbar um eine postkoloniale Aufarbeitung des Materials, allerdings verfallen die Autoren geradezu reflexhaft in eine Herabwürdigung der Arbeit der „Weißen“ (dieses Wort wird tatsächlich ständig verwendet, ohne dass sich die Verfasser des inhärenten Rassismus bewusst werden) und einer Überhöhung ägyptischer Beiträge. Ist auf einem Bild ein ägyptischer Hilfsarbeiter zu sehen, wird nie versäumt auf „die ungleichen Machtverhältnisse“ hinzuweisen und anklagend vermerkt, dass der Name des Betreffenden „nicht überliefert ist“. Auch auf heutigen Fotos werden Hilfskräfte üblicherweise nicht namentlich gewürdigt und die „ungleichen Machtverhältnisse“ sind schlichtweg das Resultat mangelnder fachlicher Kompetenz im Ägypten der Zwanzigerjahre. Während die Bestände des Griffith Institute mittlerweile vollständig digitalisiert der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, sucht man ähnliche Projekte bei der aktuellen ägyptischen Altertumsverwaltung vergeblich. Im Gegenteil, man ist dort sehr bemüht, Fremde von Informationen fernzuhalten und den Inhalt von Fachpublikationen zu kontrollieren. Auch die allgegenwärtige Korruption in der ägyptischen Bürokratie (damals wie heute), die unkontrollierten Raubgrabungen und die Plünderung des Nationalmuseums in Kairo, mit bis heute nicht wieder aufgetauchten Objekten aus Tutanchamuns Grab, werden in dieser ideologisch verzerrten Darstellung mit keinem Wort erwähnt. Dagegen fehlt nie der Hinweis auf nicht nachgewiesene, aber von lautstarken Autoren propagierte Verfälschungen der Dokumentation Carters und dem „Raub“ einiger unbedeutender Kleinfunde, die Carter als „Andenken“ nach England mitgenommen hatte. Sie wurden im übrigen längst restituiert.

Es ist bedauerlich, dass dieses ansonsten so lesenswerte und eindrucksvolle Buch in die Mühlen einer politischen Indoktrination geraten ist, die in Großbritannien (dem Land der Originalausgabe) noch weiter fortgeschritten ist, als hierzulande. Letztlich tut man der Aufklärung damit nichts Gutes, denn es führt zu einer Verzerrung in die andere Richtung und entfernt uns von der Wahrheit, die aus vermeintlicher politischer Korrektheit nicht mehr dargestellt werden kann. Howard Carter war kein undankbarer Sklaventreiber, sondern ein hervorragender Wissenschaftler, der mit großer Akribie und auf der Höhe seiner Zeit ein unglaublich komplexes Projekt gemeistert hat. Dass er in der Hierarchie oben stand, lag vor allem an seinen Fähigkeiten und nicht an seiner Hautfarbe.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2022
Error 404
Paniagua, Esther

Error 404


sehr gut

Ein Ausfall des Internets hätte für uns verheerende Folgen. Nicht nur, weil wir keine Youtube-Videos mehr anschauen, Filme und Serien streamen, Videoanrufe tätigen oder uns in den sozialen Medien wie Facebook und Whatsapp durchposten könnten, was viele schon für eine Katastrophe halten. Nein, ein längerer Blackout des Internets würde viel weitreichendere Konsequenzen haben und wäre vergleichbar mit einem Ausfall des Stromnetzes. Das Kommunikationssystem würde genauso zusammenbrechen wie unsere kritische Infrastruktur und wirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe verursachen. Es wäre auch ein Ende von Home-Office und Online-Handel. Wie diese Folgen wirklich im Detail aussehen könnten, wissen nicht einmal jene Personen, die eigentlich Bescheid wissen sollten, also die „Experten“, die in unseren Regierungen für die nationale Sicherheit zuständig sind. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie hilflos die Regierungen weltweit agierten - trotz angeblicher Krisenpläne. Zumindest sind sich die „Experten“ einig: Die Frage ist nicht, ob es zu einem Internet-Blackout kommen wird, sondern nur wann.

Esther Paniagua beleuchtet in ihrem Buch zunächst, wie es zu einem Ausfall des Internets kommen könnte und beschreibt verschiedene Szenarien, wie z. B. Angriffe auf das DNS (eine der wichtigsten Dienste bei der Beantwortung von Internetanfragen), die Zerstörung von Unterseekabeln, das bewusste Abschalten durch autokratische Regierungen, ein Sonnensturm oder ein terroristischer Angriff auf IT- und Kommunikationssysteme mit Hilfe von elektromagnetischen Impulsen ... und natürlich Cyberangriffe jeglicher Art.

Leider geht die Autorin aber nicht auf die Frage ein, was NACH dem Internet-Blackout passiert, sondern beschreibt nur lapidar, dass man davon ausgeht, "dass bei einem Übergang von einem Zustand der Normalität zu einem Zustand der Krise nach einer Frist von 48 Stunden das Chaos ausbricht". Sie weiß auch, "je länger die Unterbrechung, desto größer die Folgen", aber das sind letztlich alles triviale Allgemeinfloskeln. Stattdessen geht Paniagua sehr ausführlich auf die mit dem Internet verbundenen Gefahren ein, wie z. B. Verbrechen, Sucht, Desinformation und Verbreitung von Hass. Dabei führt sie viele Beispiele aus der Vergangenheit an und stützt sich bei ihren Ausführungen auf aktuelle Studien. Ihre Analysen sind interessant und haben mir neue Blickwinkel auf das Thema geöffnet. Neben den Gefahren hätte sie aber aus meiner Sicht auch die vielen Vorteile des Internets und unserer Vernetzung aufzeigen sollen. Auch wenn das Internet nicht der erhoffte Ort der Gleichheit und Toleranz geworden ist, ist es eben auch nicht alleine ein Ort der "Ungleichkeit und Diskrimierung, der Tyrannei, der Radikalisierung und der Kriminalität“. Die Auswirkungen bedrohen allerdings die Regierbarkeit der Gesellschaft, untergraben die Demokratie, zerstören den sozialen Zusammenhalt und beschleunigen die ökologische Katastrophe. Treffender hätte man kaum formulieren können.

Am Ende des Buches zeigt Paniagua mögliche Wege für einen Neuanfang auf.

Das Buch hat mit "Error 404: Der Ausfall des Internets und seine Folgen für die Welt" eindeutig den falschen Titel, da nur die möglichen Ursachen eines Internetausfalls, aber eben nicht deren Folgen thematisiert werden. Meine Erwartungshaltung wurde diesbezüglich herbe enttäuscht. Dennoch schafft es Esther Paniagua mit ihren Analysen und Beispielen, die dunklen Seiten des Internets anschaulich zu vermitteln und den Leser von notwendigen Änderungen zu überzeugen. Ob es hilft?

Bewertung vom 24.05.2022
Bekenntnisse eines Betrügers
Raina, Rahul

Bekenntnisse eines Betrügers


gut

Ramesh Kumar kommt von ganz unten. Als Sohn eines Teeverkäufers, der ihn brutal als Sklave missbraucht, ist ihm ein trauriges Schicksal bestimmt, bis eine resolute Nonne ihn aus den Fängen seines Vaters befreit und ihm eine solide Bildung verschafft. Bildung wird auch die Grundlage für sein Geschäft, bei dem Ramesh für reiche, untalentierte oder faule Kinder die „All India“ Prüfung ablegt. Die All Indias öffnen den führenden Absolventen sämtliche Türen des Landes. Ein durchaus einträgliches Geschäft, bis Ramesh für seinen „Kunden“ die All India Prüfung als Erstplatzierter gewinnt. Die Sieger des Wettbewerbs sind so etwas wie Nationalhelden und stehen im Licht der Öffentlichkeit. Droht der Schwindel jetzt aufzufliegen?

Rahul Raina legt zu Beginn ein atemberaubendes Tempo vor, mit einer Gagdichte, die an gute Standup-Comedy erinnert. Wie er mit der bigotten, korrupten und nationalistischen Gesellschaft Indiens umspringt, lässt wirklich kein Auge trocken. Mit Sarkasmus seziert er gnadenlos die Dünkelhaftigkeit der oberen Kasten, die Unangreifbarkeit der reichen Eliten und die Aussichtslosigkeit der armen Unterschicht. Er legt den Finger in jede Wunde und Indien hat viele davon: Die Überbevölkerung, die nicht nur durch Unwissenheit, sondern auch durch ständige Predigten von der indischen Überlegenheit gefördert wird, die unglaubliche Umweltverschmutzung, der tief sitzende Hass auf alles Westliche und auf Pakistan im Besonderen, und natürlich das Kastenwesen, das niemand überwinden kann. Raina beschreibt den allgegenwärtigen Schmutz und die unwürdigen Lebensbedingungen der Armen mit einem Fatalismus, der einem das Lachen im Hals stecken bleiben lässt.

Das erste Drittel hat den Charakter einer Köpenickiade, einer Aufsteigergeschichte, bei der der Held mit Witz und Geschick die Gesellschaft aufs Kreuz legt, indem er die ungeschriebenen Regeln ausnutzt und manipuliert, doch dann gibt es einen kompletten Umschwung, der zum einen der Geschichte die Leichtigkeit nimmt und anderseits auch den Tonfall ändert. Die Satire weicht ziemlich unvermutet einem turbulenten Kriminalroman, bei dem es im wahren Sinn hin und her geht. An verschiedenen Stellen bleibt dabei die Logik auf der Strecke und ich hatte den Eindruck, dass der Autor beim Schreiben selber nicht wusste, in welche Richtung er den Plot entwickeln sollte. Am Schluss gibt es einen weiteren Dreh und die letzten 30 Seiten sind dann eine bittere Abrechnung mit Indiens Gesellschaft. Der Humor ist da schon länger nur noch ansatzweise erkennbar, stattdessen hat mich dieser ungebremste Hass gegen den Westen, gegen alles „Nicht-Indische“ erschreckt, der Indien offenbar tief im Inneren regiert. Hier entsteht gerade unser nächster Todfeind, neben den bereits bestehenden, also China, dem Islam und Russland. Das war mir in dieser Deutlichkeit bisher nicht bewusst.

Das erste Drittel hat mir ausnehmend gut gefallen. Da hat die Geschichte Tempo, Witz und Originalität. Doch dann wird es zunehmend unlogisch, der Text wird sehr dialoglastig (keine von Rainas Stärken) und der Hass zum dominierenden Leitthema. Das ist ab einem gewissen Zeitpunkt eigentlich nicht mehr lustig, aber für einen klassischen Kriminalroman ist die Handlung zu wenig ausgearbeitet und die Charaktere sind in ihrer persönlichen Entwicklung nicht wirklich nachvollziehbar. Wäre Rahul Raina stilistisch und erzählerisch da geblieben, wo er auf den ersten 100 Seiten war, ich hätte dem Buch alle verfügbaren Sterne gegeben. So ist die Geschichte leider etwas unbefriedigend.