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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 21.06.2019
Liebe Kitty
Frank, Anne

Liebe Kitty


gut

Heute so wichtig wie ehedem

Pünktlich zu ihrem 90ten Geburtstag erschien vor wenigen Tagen unter dem Titel «Liebe Kitty» erstmals das Fragment eines Briefromans von Anne Frank, der sich auf ihr weltberühmtes Tagebuch stützt. Dem Buch ist in Anhang ein hilfreiches Essay von Laureen Nussbaum beigefügt, emeritierte Professorin der Literaturwissenschaft an der Portland State University, die nicht nur als kompetenteste Expertin der Anne-Frank-Forschung gilt, sondern die sie von ihrem Amsterdamer Exil her auch persönlich kannte, sie waren Nachbarn und gingen auf die selbe Schule. Nussbaum verdeutlicht darin die komplizierte Editionsgeschichte, denn neben der Urversion des Tagebuchs gibt es auch eine in den Monaten vor ihrer Deportation überarbeitete zweite Version, zu der Anne Frank durch einen Rundfunk-Aufruf des holländischen Exil-Ministers für Schule, Kunst und Wissenschaften angeregt wurde. Darin forderte er die Bevölkerung auf, Tagebücher und Briefe für die Zeit nach dem Krieg sorgfältig aufzubewahren, sie sollen dann als realistische Grundlage für die zukünftige Geschichtsschreibung dienen.

Durch Vermischung dieser beiden, glücklicher Weise weitgehend erhalten gebliebenen Textfassungen hat Annes Vater, der den Holocaust als einziger überlebte, nach dem Krieg die zur Veröffentlichung gelangte und bis heute gültige Tagebuch-Version zusammengestellt, - mit einigen Korrekturen seinerseits von ihm peinlich erscheinenden Textstellen. «Nach dem Krieg will ich auf jeden Fall ein Buch mit dem Titel ‹Das Hinterhaus› herausbringen, ob das gelingt, ist auch die Frage, aber mein Tagebuch kann dafür nützlich sein». Der vorliegende «Romanentwurf in Briefen» ist der löbliche Versuch, den Wunsch Annes, «einmal Journalistin und später eine berühmte Schriftstellerin zu werden», postum nun doch noch zu verwirklichen. Die «Kitty» im Buchtitel ist das gründlich überarbeitete Tagebuch selbst, die Autorin richtet darin ihre ursprünglichen Notizen in Briefform mit dem Datum des jeweiligen Tagebucheintrags in
personalisierter Form an diese imaginäre Freundin.

Die 1933 vor den Nazis nach Amsterdam geflüchtete jüdische Familie Frank muss sich wegen der drohenden Deportation 1942 in einem unzugänglichen kleinen Hinterhaus-Anbau der vom Vater geleiteten Firma verstecken. Neben Anne, ihrer Schwester und den Eltern sind noch eine zweite Familie mit einem Sohn und ein Zahnarzt in dem Versteck untergebracht. Versorgt werden sie von loyalen Mitarbeitern der Firma, die sich aufopfernd und mit hohem persönlichen Risiko um die acht versteckten Juden kümmern, ein sicherlich seltener Glücksfall in dieser Zeit der Nazi-Barbarei. Das Zusammenleben auf engstem Raum, das ununterbrochene Eingesperrtsein, die ständige Angst vor Entdeckung stellt für alle eine große psychische Belastung dar, die Anne Frank in ihren Aufzeichnungen eindrucksvoll schildert. Als selbstkritischer Backfisch wird sie von inneren Zweifeln gequält, leidet unter der wenig liebevollen Beziehung zu den Eltern, hadert mit ihrer vorlauten Art, die im täglichen Umgang oft zu großen Spannungen führt, - es fällt ihr aber sehr schwer, sich zurückzuhalten. Sie flüchtet sich geradezu in das Schreiben, benutzt das Tagebuch als Ventil für ihren Frust.

Die Besonderheit dieser Prosa liegt in ihrer literarischen Doppelform als spontanes Tagebuch zur Dokumentation des Zeitgeschehens und als feinfühlig überarbeiteter, daraus entstandener Briefroman eines Mädchens in der Adoleszenz. Ohne Zweifel ist das Talent der Autorin beachtlich. Der oft deutlich erkennbare Stilbruch in dem bisher bekannten Tagebuch, entstanden durch die Vermischung jener beiden zeitlich auseinander liegenden und mit unterschiedlichem Ziel entstandenen Versionen, ist dem Vater, nicht ihr anzulasten. «Liebe Kitty» ist dagegen «aus einem Guss», aber leider Fragment geblieben. Eine literarisch interessante Lektüre, die thematisch, in Zeiten von beängstigend anwachsendem Fremdenhass, heute so wichtig ist wie ehedem.

Bewertung vom 20.06.2019
HERKUNFT
Stanisic, Sasa

HERKUNFT


weniger gut

Mit Oma im Drachenhort

Der vom Feuilleton als Shootingstar gefeierte Schriftsteller Saša Stanišić hat mit «Herkunft» gerade seinen vierten Prosaband veröffentlicht. Es ist eine fiktionale Autobiografie des 1992 mit seiner muslimischen Mutter wegen des Balkankriegs aus Bosnien geflüchteten und in Heidelberg gelandeten, damals 14jährigen Migranten. Der in seinem Buch zu Recht die verblüffende Feststellung macht, würde jemand die gleiche Flucht nach Deutschland heutzutage antreten, wäre sie spätestens am Stacheldraht der Grenze zu Ungarn beendet. Neben der alles überlagernden Problematik der Migration wird in dieser unermüdlichen Spurensuche Heimat, Familie, Sprache, Fremdsein, Altwerden thematisiert, wobei dem Sammeln und kritischen Bewerten von Erinnerungen vom Autor gleichberechtigt das Erfinden und Ausschmücken derselben als fiktionales Pendant gegenüber gestellt ist.

Der Idylle einer vom Bombenkrieg verschonten Altstadt in Heidelberg mit dem berühmten Schloss als Touristen-Attraktion steht die bescheidene Flüchtlingsunterkunft im Stadtteil Emmertsgrund gegenüber, wo die dümmlichen Vorurteile der Einheimischen den Migranten gegenüber bis heute andauern, wie man aktuell der Presse entnehmen kann. Die Mutter, eine Politologin, muss in einer Wäscherei arbeiten, der seiner Familie nachgereiste Vater, Betriebswirt von Beruf, verlegt Rohre auf einer Großbaustelle und ruiniert sich seinen Rücken dabei. Neben der demütigenden Arbeit weit unter Niveau und der prekären finanziellen Situation bedeutet die permanente Angst vor Abschiebung eine schwere Last für die Familie. Nach dem Abitur hat der Sohn das Glück, an einen verständigen Sachbearbeiter bei der Ausländerbehörde zu geraten, der ihm aufgrund seiner Immatrikulation an der Uni ein Bleiberecht einräumt. Und während seine Eltern irgendwann tatsächlich nach Bosnien abgeschoben werden, kann er später den zum Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft erforderlichen Einkommensnachweis durch den finanziellen Ertrag seiner ersten Buchveröffentlichungen erbringen.

In stetem Wechsel und mit großen Zeitsprüngen erzählt Saša Stanišić in ultrakurzen Kapiteln von seiner neuen und von der alten Heimat, berichtet humorvoll von vielen Besuchen dort. Seine Kindheit in Višegrad, jenem kleinen Städtchen, dem sein berühmter Kollege Ivo Andrić, Nobelpreisträger von 1961, mit dem Roman «Die Brücke über die Drina» ein grandioses literarisches Denkmal gesetzt hat, war geprägt von der innigen Beziehung zu seiner Großmutter. Sie hat ihm später dann einerseits viele Geschichten erzählt für seine Herkunftsforschung, verliert andererseits aber wegen ihrer Altersdemenz zunehmend die Erinnerungen, erkennt ihn meist nicht mehr als ihren Enkel und wartet auf die Rückkehr ihres vor zwanzig Jahren verstorbenen Mannes von einer Bergtour.

Auch in diesem Buch brennt der Autor bei seinem beherzten Anschreiben gegen das Vergessen stilistisch geschickt wieder ein Feuerwerk ab an flockigen Begriffen und urkomischen Metaphern in seinen szenisch oszillierenden, Schlag auf Schlag folgenden Kurzkapiteln. Wobei sein vehement vorwärtsdrängender, oft stakkatoartiger Sprachstil dennoch nicht verhindert, dass er sich erzählend immer wieder fast ins Uferlose verliert, «Die Abschweifung ist Modus meines Schreibens» merkt er dazu an. Besonders abschweifend wird es dann, wenn er im nachwortartigen letzten Teil unter dem Titel «Der Drachenhort» die tote Oma ins Jenseits begleitet, in die Drachenwelt der bosnischen Sagen. Ein von überbordender Phantasie beflügelter, mit dutzenden von Sprungmarken gegliederter und trickreich inszenierter Schluss, - mit multiplem Ende auch noch -, zeugt von der unbändigen Fabulierlust des Autors. Die narrative Dominanz der Oma-Geschichte jedoch mit ihren ständigen Wiederholungen ist entschieden zu viel des Guten, es stellt sich schon bald lähmende Langeweile ein, die so manchen Leser zum vorzeitigen Abbruch verleiten dürfte. Shootingstar hin oder her!

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.06.2019
Ein Spiel und ein Zeitvertreib (eBook, ePUB)
Salter, James

Ein Spiel und ein Zeitvertreib (eBook, ePUB)


gut

Ein Märchen für Erwachsene

Er selbst hat den 1967 erschienenen Roman «Ein Spiel und ein Zeitvertreib» als das erste gute Buch bezeichnet, das er geschrieben habe, und die Anerkennung in Literaturkreisen gab dem amerikanischen Schriftsteller James Salter recht. Als «Writer’s Writer» wird er seither nicht nur von seinen schreibenden Kollegen verehrt, sondern auch von literarischen Kennern, er hat sich damit jedenfalls in den Kanon der US-amerikanischen Literatur eingeschrieben, ohne je Bestseller-Status zu erreichen. In seiner Zeit als Kampfpilot hat Salter, mit dem Tod als ständigem Begleiter, im Koreakrieg mehr als 100 Einsätze geflogen, was sein späteres Werk erkennbar mitgeprägt hat. Und so hat er denn auch diesem Roman als Motto ein entsprechendes Koran-Zitat vorangestellt, dem der Titel entnommen ist: «Bedenke aber, dass das Leben in dieser Welt nichts ist als ein Spiel und ein Zeitvertreib». Der Autor hat seinen Roman als eine «Hymne auf die Kleinstädte und Dörfer, auf die Pariser Architektur, die französischen Nebenstraßen und, selbstverständlich, auf die heftigste aller irdischen Begierden» bezeichnet. Mit Letzterem spielt er auf den explizit erotischen Inhalt des Romans an, der im prüden Amerika natürlich auf empörte Ablehnung gestoßen ist.

Gute Freunde haben einen jungen amerikanischen Fotografen 1962 in ihr Haus in dem kleinen französischen Städtchen Autun eingeladen. Zusammen mit dem 24jährigen Dean, seinem hochbegabten, charismatischen Freund aus wohlhabendem Elternhaus, den er grenzenlos bewundert und der wie er in den Tag hinein lebt, unternimmt er eine Entdeckungsreise durch Frankreich, bei der das Delage-Kabriolett von Dean, ein äußerst seltener, edler Oldtimer, überall, wo sie auftauchen, für Aufsehen sorgt. In Dijon lernen die beiden Amerikaner in einem Nachtclub die attraktive 18jährige Anne-Marie kennen, eine einfache Verkäuferin, die schnell dem Charme von Dean erliegt und seine Geliebte wird. Als namenlos bleibender Ich-Erzähler, der bei Frauen eher ungeschickt ist und somit immer wieder scheitert, projiziert er nun voyeuristisch aufgeheizt seine eigenen Leidenschaften und seine Eifersucht in Deans Affäre hinein, ergeht sich in wüsten erotischen Phantasien.

Ein Schriftsteller habe, wie der Ich-Erzähler uns wissen lässt, neben der Realität nicht nur die Fiktion als literarische Bühne, sondern auch die Träume als deren höchste Form, die, dem Geist völlig entzogen, eine dritte narrative Ebene darstelle. Sie erst ermögliche es ihm, quasi durch die Wände zu sehen und zu beschreiben, was er nicht wissen und sich auch nicht ausdenken könne. Und so schildert er fotografisch exakt die wilden Liebesspiele des ungleichen Paares in allen Details, berichtet dutzende Male vom Koitus der Beiden, von variantenreichen Sexualpraktiken, so als wenn er dabei gewesen wäre. Und zwar in ständigem Wechsel mit Autofahrten, Hotelübernachtungen, Restaurantbesuchen, Schaufensterbummeln und Schilderungen der Städte und Landschaften Frankreichs, was durch die ständige Wiederholung des Immergleichen irgendwann natürlich langweilig wird.

James Salter verarbeitet in diesem Roman seine Eindrücke während seiner Militärzeit in Frankreich, wobei ich nach den ersten paar Seiten dieser ebenso scharfsichtigen wie liebevollen Beschreibung des Landes ungläubig auf das Cover geschaut habe: «Das kann doch kein Amerikaner geschrieben haben», dachte ich unwillkürlich, «jemand aus einem ganz anderen Kulturkreis!» Er schildert das Land und seine Bewohner sehr anschaulich in kurzen, metaphernreichen Sätzen, angenehm lesbar in einer glasklaren Sprache. «Nichts, was hier steht, ist wahr» heißt es an einer Stelle, und so ist diese Geschichte von einer fast schon devoten Heldenbewunderung und quälendem Sexualneid als «Spiel» ein Märchen für Erwachsene, nicht jugendfrei natürlich, als «Zeitvertreib» aber ohne Zweifel einer von der literarisch erfreulicheren Sorte.

Bewertung vom 10.06.2019
Paarungen (eBook, ePUB)
Schneider, Peter

Paarungen (eBook, ePUB)


sehr gut

Kleinfamilie feiert fröhliche Urständ

Nach einer beeindruckenden Karriere, vor allem als intelligenter Essayist, hat Peter Schneider mit «Paarungen» 1992 seinen ersten Roman veröffentlicht, den man als ein rückhaltloses Eingeständnis des Scheiterns der 68er-Revolte interpretieren muss, denn der Autor war ein radikalisierter, maoistischer Wortführer der Berliner Studentenbewegung jener Zeit. Dieser Roman schließt sich einem vorher schon thematisierten Abgesang an, der zu einem Kultbuch der frustrierten Linken avancierten Erzählung «Lenz» von 1973, in der er die Enttäuschungen seiner Mitstreiter nach dem Scheitern ihrer Protestbewegung schildert. Im vorliegenden Roman nun beschreibt Schneider seine Mitstreiter 19 Jahre später als inzwischen saturierte Schwätzer, Wichtigtuer und Angeber, aus den hehren Utopien von einst seien «heimliche Dienstfahrten zu zweit» geworden. Die prominentesten und erfolgreichsten der damaligen Revoluzzer wurden, ihrer Vorliebe für italienische Landhäuser wegen, später unter dem Begriff «Toskana-Fraktion» bekannt. Hier im Roman geht es, wie der doppeldeutige Titel «Paarungen» schon anzeigt, um die sexuelle Konnotation einerseits und um die Zweisamkeit andererseits. Die freie Liebe war ein essentieller Bestandteil der 68er-Bewegung, und sie ist ebenso grandios gescheitert wie die politische Revolution.

Der Roman ist im geteilten Berlin angesiedelt, sein Protagonist ist Eduard, ein mit Forschungen zu Multipler Sklerose befasster, erfolgreicher Molekularbiologe mittleren Alters, der mit seiner Freundin Klara aus dem Nachbarhaus seit Jahren eine scheinbar stabile, eheähnliche Beziehung unterhält, - in nach wie vor getrennten Wohnungen allerdings. In seiner Szenekneipe trifft er sich regelmäßig mit Theo, einem in Ost-Berlin wohnenden, ziemlich privilegierten Schriftsteller mit «Doppelpass», der ihm dauerhaft die Ausreise in den Westen der Stadt ermöglicht, wo seine Freundin Pauline wohnt. Dritter im Bunde ist der Komponist André, ein Don-Juan-Typ, dem die Frauen zufliegen und der sich aus seinem Gefühlschaos in eine Ehe stürzt, die schon bei der turbulenten Hochzeitsfeier scheitert. Dieses Dreigestirn, in dem unschwer der Autor in persona zu erkennen ist als Stichwortgeber, tauscht sich bei ihren Treffen immer wieder auch über ihre problematischen Paarbeziehungen aus. Paarbildung und Trennung erfolgen nach dem 68er-Umbruch in schnellem Wechsel, seit dem Ende der konventionellen Zweisamkeit wurde noch keine revolutionäre Form gefunden, die besser wäre.

Bei Eduard, für den Seitensprünge wie selbstverständlich dazu gehören, kommen prinzipielle Zweifel an seiner Liebesfähigkeit auf. Eine Zigeunerin liest ihm in seinem Szene-Lokal aus der Hand, seine Liebeslinie sei dreigeteilt, mit einer deutlichen Mittellinie, aber auch mit zwei Abzweigungen. Womit sie nicht Unrecht hat, denn neben Klara gibt es tatsächlich noch zwei weitere Frauen in seinem Leben, und das Chaos wird komplett, als die beiden kurz hintereinander auch noch schwanger werden, während seine große Liebe Klara vergebens auf ein Kind hofft. Das Experiment «Freie Liebe» hat die Ratlosigkeit in der Beziehung der Geschlechter jedenfalls nicht beseitigt, so das Fazit, im Gegenteil, sie ist größer denn je.

Diese satirische Aufarbeitung der leidigen 68er-Erbschaft ist eine ebenso unterhaltsame wie bereichernde Lektüre. Es ist Peter Schneider mühelos gelungen, seine eher essayistischen Einsichten und Ansichten, zu kontemplativen Einschüben verdichtet, in innere Monologe und oft ausufernde Debattebeiträge seiner Figuren zu transformieren. In denen wiederum, das ist eine narrative Schwäche des Romans, immer nur Eduard alias Peter Schneider zu erkennen ist. Die Charaktere, insbesondere aber auch die Sprache seiner «Versuchspersonen», - so übrigens der ursprünglich geplante Titel -, sind fast schon kongruent. Am Ende feiert die spießige Kleinfamilie, zu der Eduard Zuflucht nimmt in seinem Gefühlschaos, fröhliche Urständ, - q. e. d.

Bewertung vom 07.06.2019
Aphorismen und Gedankenblitze.

Aphorismen und Gedankenblitze.


gut

Ecce homo

Als einflussreichster Autor der Aufklärung gehört Voltaire mit seinem riesigen Œuvre in allen drei literarischen Disziplinen der Epik, Lyrik und Dramatik zu den meistgelesenen französischen Schriftstellern eines Jahrhunderts, das man nach ihm als «Siècle de Voltaire» bezeichnet hat. Er war ein streitbarer Philosoph, dessen Werke sich an die Oberschicht und das Bildungsbürgertum in ganz Europa richteten, in deren Kreisen die französische Sprache zumeist beherrscht wurde. Seine Kritik, mit der er ein führender Wegbereiter der Französischen Revolution wurde, galt den offensichtlichen Missständen des Feudalismus ebenso wie dem dünkelhaften Anspruch des katholischen Klerus auf Besitz der absoluten Wahrheit. Dabei hat er es wie kein Zweiter verstanden, sich seiner zeitgenössischen Leserschaft durch klare Gedankengänge verständlich und durch köstlichen Witz und beißende Ironie gewogen zu machen. Voltaire wurde 83 Jahre alt, verweigerte aber auf dem Sterbebett die Letzte Ölung, ein Unsinn, der ihn anwidere: «Es erscheint mir höchst lächerlich, sich ölen zu lassen, ehe man in die andere Welt eingeht. Es ist so, wie wenn man die Achsen seines Wagens vor einer Reise schmieren lässt.»

Es gibt kaum einen Bereich des Lebens, den Voltaire unkommentiert lässt in dieser von Laurenz Wiedner liebevoll zusammengestellten und herausgegebenen, dem riesigen Gesamtwerk mit über 700 Texten entnommen Sammlung. Auf 166 Seiten finden sich hier alphabetisch nach Stichworten sortiert nicht nur «Aphorismen und Gedankenblitze», sondern auch Zitate aus seinen Werken, allen voran aus seiner Roman-Parodie «Candide», eine philosophische Erzählung, in der er die Genres Abenteuerroman, Reiseroman und Liebesroman in satirischer Weise auf die Schippe nimmt. Oft parodiert er aber auch ziemlich sarkastisch seine persönlichen Gegner oder macht sich recht ungeniert über andere Schriftsteller und Philosophen lustig. So sagte er zum Dichter Jean Baptiste Rousseau, der ihm seine «Ode an die Nachwelt» vorgelesen hatte: «Es ist fraglich, ob dieses Werk an seine Adresse gelangen wird».

Seine oft beißende Kritik an den politischen und gesellschaftlichen Missständen ist nie belehrend, ihre Wirkung entsteht durch die von ihm offengelegten inneren Widersprüche aus sich selbst heraus. Deutlich erkennbar gilt sein Respekt den großen Denkern der Antike, außerdem aber auch so manchem schreibenden Zeitgenossen und anderen Geistesgrößen der Aufklärung, allerdings ohne dass er deren eventuelle Irrwege und Widersprüche unkommentiert lässt. Besonders François de La Rochefoucauld mit seiner These von der alles bestimmenden Eigenliebe nötigt ihm höchsten Respekt ab. Gleiches gilt für Michel de Montaigne, der uns durch die unbefangene Betrachtung seines Ichs ein stimmiges Bild des Menschenwesens geschenkt habe, wie Voltaire schreibt.

«Der Mensch ist zu allem fähig. Nero weinte, als er das Todesurteil eines Verbrechers unterschrieb, er spielte Komödie und ermordete seine Mutter» heißt es unter der von Nietzsche der Bibel entnommenen Überschrift «Ecce homo», - das ist der Mensch! Die Prägnanz von Voltaires Prosa ist besonders verblüffend in seinen kurzen Definitionen: «Geld ist der Gott, dem die Christen, Juden und alle anderen Menschen gleich eifrig dienen». Oder: «Freundschaft ist die Ehe der Seele». Und ein schönes Bild ist auch dies: «Das Leben ist ein Schiffbruch, rette sich wer kann!» Auf den Leser dieser Sammlung warten viele ebenso vergnügte wie nachdenklich machende Begegnungen mit den oft verblüffenden Gedankengängen eines der größten Denker des 18ten Jahrhunderts, dessen klugen Reflexionen nachzuspüren viel Freude bereitet, auch wenn uns manches davon heute überholt zu sein scheint.

Bewertung vom 03.06.2019
Mendelssohn auf dem Dach
Weil, Jiri

Mendelssohn auf dem Dach


gut

Die einzig wahre Verheißung

In seinem letzten, 1960 posthum erschienenen Roman «Mendelssohn auf dem Dach» beschreibt der heute weitgehend vergessene tschechische Schriftsteller Jiří Weil die Zeit nach der Annexion von Böhmen und Mähren durch die Deutschen. Der titelgebende jüdische Komponist stand neben vielen anderen als Statue auf dem Dach des zum «Haus der deutschen Kunst» umgewidmeten Konzerthauses Rudolfinum in Prag. Das war dem berühmt-berüchtigten Reichsprotektor Reinhard Heydrich natürlich ein Dorn im Auge, sie musste auf seinen Befehl hin umgehend entfernt werden. Als Leitmotiv zieht sich somit gleich von Beginn an die Musik durch die grauenvolle Geschichte der kleinen Leute, aus deren Opfer-Perspektive vom Wüten der Besatzer berichtet wird, ein Fanal geradezu menschlichen Schöngeistes auch in Zeiten dieser unsäglichen Barbarei. Der jüdische Autor hat Terror dieser Art nicht nur unter den Nazis selbst erlebt, er hat auch während der stalinistischen Säuberungen unter Verfolgung gelitten und war ab 1949 bis kurz vor seinem Tod mit einem Publikationsverbot belegt.

Im Stil eines Schelmenromans wird im ersten Drittel von der Entfernung des steinernen Juden erzählt, die sich insofern als unerwartet schwierig erweist, weil sich an den aufgestellten Statuen keine Namensschilder befinden. Der einfältige SS-Mann, der diesen Auftrag auszuführen hat, ist nicht schwindelfrei und traut sich nicht aufs Dach hinaus, seine beiden jüdischen Helfer aber, nicht minder ungebildet, sind nicht in der Lage, Mendelssohn Bartholdy zu identifizieren. Als er sie anweist, die Statue mit der größten Nase zu suchen, das müsse nach der herrschenden Rassenideologie der gesuchte Jude sein, hätten sie beinahe Richard Wagner umgerissen, der hatte nämlich die größte Nase unter den dort oben versammelten Musikern. Nach einigem Hin und Her und unter viel Gebrüll in den beteiligten NS-Dienststellen findet sich letztendlich dann eine tschechische Musikerin, die Mendelssohn eindeutig identifiziert. Die beiden Helfer beschießen spontan, die Statue nicht zu zerschlagen, sondern nur umzustürzen, so könne man sie später mal wieder aufstellen, wenn sich die Zeiten geändert haben, - ein verdeckter Akt des Widerstandes.

Schon in dieser einleitenden Episode dominiert neben der amüsanten, für die beteiligten NS-Schergen jedoch äußerst blamablen Aktion sinnloser Kunstschändung das bedrohliche Unheil für die tschechische Bevölkerung und die ständige Todesangst der von Deportation bedrohten Juden. In einem perfiden System werden Tschechen als Hilfskräfte in die Verwaltung mit einbezogen, müssen bei der Deportation der jüdischen Bevölkerung mitwirken, deren beschlagnahmten Besitz in Lagerhäusern sortieren und für das «Tausendjährige Reich» verwerten. Jiří Weil erzählt vom Wüten der Ursupatoren von Gestapo, SS und Wehrmacht, von dessen Auswirkungen auf das Leben in Prag, vom Widerstand beherzter Tschechen und von dem sensationellen Attentat, mit dem der vom «Führer» persönlich mit der «Endlösung der Judenfrage» beauftragte Massenmörder Reinhard Heydrich seine gerechte Strafe erhielt. Er erzählt vom Ghetto in Theresienstadt, das als KZ und als Transitstation für die Vernichtungslager im Osten gedient hat, und von den Hoffungen, die nach Stalingrad und dem Vormarsch der Roten Armee in all der Ausweglosigkeit aufzukeimen beginnt, auch wenn Prag schließlich als «judenfrei» nach Berlin gemeldet wird und das herbeigesehnte Ende noch lange auf sich warten lässt.

In einfach strukturierten, kurzen Sätzen entwirft Jiří Weil ein Bild des Grauens, bei dem Gut und Böse allzu klar unterschieden wird. Die Deutschen sind ausnahmslos brüllende Bösewichte übelster Sorte, Tschechen und Juden versuchen in ihrer Not, irgendwie zu überleben, wobei sie sich selbstlos gegenseitig beistehen. Tief betroffen von seiner Erzählung verzeiht man dem Autor diese arg idealisierende Darstellung in einem Roman, der die Kunst als einzig wahre Verheißung preist.

Bewertung vom 28.05.2019
Der neunzigste Geburtstag
Bruyn, Günter de

Der neunzigste Geburtstag


gut

«Wir schaffen das»

Als 92jähriger Schriftsteller mit einem beachtlichen Œuvre hat Günter de Bruyn nach 35 Jahren erstmals wieder einen Roman veröffentlicht, dessen symptomatischer Titel «Der neunzigste Geburtstag» die autobiografische Färbung offensichtlich werden lässt. Zeitlich im Jetzt angesiedelt und örtlich in Wittenhagen, einem winzigen Dorf in Mecklenburg-Vorpommern mit gerade mal zweihundert Einwohnern, erzählt der Autor darin vordergründig von den Vorbereitungen zu einem hohen Geburtstag, im Wesentlichen aber von den Befindlichkeiten eines hoch betagten Geschwisterpaars im Rückblick auf ihr Leben.

Hedwig und Leonhardt Leydenfrost haben nach dem Mauerfall das ehemalige Gut der Familie als gemeinsamen Alterssitz bezogen, das inzwischen heruntergekommene Herrenhaus gehört ihnen je zur Hälfte, Hedy wohnt im ersten Stock, Leo bewohnt das Erdgeschoss. Bei Hedys 89tem Geburtstag beschließt der Familienrat, zu ihrem Neunzigsten ein großes Fest zu feiern, statt Geschenken sollen dabei aber Spenden für die Einrichtung eines Lagers für alleinstehende Flüchtlingskinder in der alten Reithalle des Gutes eingesammelt werden, Hedy ist Feuer und Flamme für diesen Plan. Sie war als ehemalige grüne Aktivistin in Westdeutschland eine politische Wortführerin der außerparlamentarischen Opposition, später hat sie dann dort Medizin studiert und als Ärztin gearbeitet. Der eher bedächtige, unpolitische Leo ist im Osten geblieben und hat sich als Bibliothekar in Ostberlin hinter seinen Büchern verschanzt, eine Berufswahl, mit der er bewusst allen Querelen von vornherein aus dem Weg ging, denn mit dem DDR-Regime war er keineswegs d’accord. Auch die Geschwister sind sich selten einig, zu verschieden ist ihr Temperament, und so ist ihr Zusammenleben bei aller gegenseitigen Achtung von häufigen Wortgefechten geprägt.

In einem entfernt an Fontane erinnernden, ruhigen Erzählfluss mit einer betulichen Diktion wird vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse über zwei Charaktere berichtet, deren Intellekt in unterschiedlichen Geisteshaltungen mündet, die nun im hohen Alter immer mehr in ein Staunen übergehen angesichts einer ihnen unverständlicher werdenden Welt, - vor der sie jedoch keinesfalls zu kapitulieren gedenken. In vielen Rückblenden wird ihr Lebensweg verdeutlicht, und damit wird auch ihre gegenwärtige Verfasstheit erklärt. Wunderbar stimmig ist dabei der alte Eigenbrödler Leo gezeichnet, ein der deutschen Sprache verpflichteter Schöngeist mit ausgeprägtem historischen Gespür und herrlich sarkastischer Gegenwartskritik. Insbesondere die Absurdität einer gendergerechten Sprache bringt ihn in Wallung, und ausufernde Telefonitis wird äußerst skeptisch kommentiert: «Dauertelefonierer waren in seinen Augen Kranke, die an erhöhtem Mitteilungsbedürfnis litten». Und so sorgt der alte Nörgler, hinter dem sich in Vielem wohl auch der Autor selbst versteckt, häufig für ein Schmunzeln beim Leser.

Die vielen Fragen, die Günter de Bruyn in seinem Roman anreißt, kreisen allesamt um den Generationenkonflikt, um politische und wirtschaftliche Umbrüche, um das Verdängen des Alten und Bewährten durch das Neue und oftmals Fragwürdige, wie es die beiden greisen Idealisten sehen. Dem «Wir schaffen das» einer 2015 auf politischer Geisterfahrt befindlichen Kanzlerin nacheifernd, scheitert die idealistisch betriebene Gründung einer Flüchtlings-Unterkunft für Kinder kläglich. Die Berliner «Asylantenkinder», in Wirklichkeit allesamt Testosteron gesteuerte junge Männer, weigern sich schlicht und ergreifend, in den Bus nach Meckpomm zu steigen, ins Nirwana aus ihrer Sicht. Letztendlich entsteht eine von alten Seilschaften betriebene Wellness-Oase aus der ehemaligen Reithalle der Familie, eine herbe Niederlage für den dörflichen Gemeinsinn. Mit hintersinniger Ironie entwirft Günter de Bruyn ein Bild unserer Gegenwart, dessen Plausibilität kaum zu leugnen ist und das durchaus wehmütig machen kann, in jedem Fall aber nachdenklich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.05.2019
Wohin wir gehen
Mädler, Peggy

Wohin wir gehen


schlecht

Die hehre Absicht allein

Acht Jahre nach ihrem Debütroman ist nun der zweite Roman von Peggy Mädler erschienen, «Wohin wir gehen» hat auf Anhieb Beachtung gefunden und belegt im Mai 2019 Platz zwei der SWR-Bestenliste. Beiden Romanen gemeinsam sind der kritische Blick auf die deutsche Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts, die als Hintergrund fungiert für menschliche Schicksale im Spannungsfeld historischer Umbrüche, wobei die fein herausgearbeiteten Zwischentöne der Handlung erst ihre eigentliche Bedeutung verleihen. In elf mit den verschiedenen Handlungsorten betitelten Kapiteln wird die wechselvolle Geschichte von vier Frauen zweier Generationen auf der Suche nach dem Lebensglück erzählt. Als Motto ist dem Roman ein Gedicht von Hilde Domin vorangestellt, welches die widerstrebenden Sehnsüchte nach Bestand und Veränderung im menschlichen Leben höchst poetisch umschreibt: «Man muss weggehen können / und doch sein wie ein Baum: / als bliebe die Wurzel im Boden, / als zöge die Landschaft und wir ständen fest».

Es beginnt in Böhmen während des Zweiten Weltkriegs, als Almuts Vater plötzlich stirbt und ihre Mutter sich daraufhin das Leben nimmt. Rosas Mutter nimmt das Waisenkind bei sich auf und zieht es wie ihre eigene Tochter liebevoll auf, Rosa und Almut sind Busenfreundinnen. Die Vertreibung aus der Tschechoslowakei nach Ende des Krieges verschlägt die Drei nach Brandenburg, dort beteiligt sich Rosas Mutter, eine überzeugte Kommunistin, voller Begeisterung am Aufbau des neuen Arbeiter- und Bauernstaates. Die beiden Freundinnen werden Lehrerinnen und ziehen auf Drängen Rosas voller Erwartungen nach Berlin, wieder eine Entwurzelung für sie beide. Die unstete Rosa ist es dann auch, die als Dreißigjährige kurz vor dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls, wie die Mauer im Staatsjargon der DDR genannt wurde, im Osten in die S-Bahn steigt und im Westen aussteigt, sie hat nichts bei sich als ihre Handtasche. Almut verliert als Mitwisserin, die eine geplante Republikflucht nicht angezeigt hat, ihre Stelle als Lehrerin und auch ihre Wohnung, sie landet als Arbeiterin in einer Margarinefabrik und lebt viele Jahre lang in prekären Verhältnissen. Der Kontakt zu Rosa ist abgerissen, sie heiratet spät und bekommt ein Mädchen. Ihre Tochter Elli hat vier Jahrzehnte später eine innige Freundschaft mit Kristine, Rosas Tochter, die sich rührend um Ellis greise Mutter Almut kümmert, weil Elli endlich die heißbegehrte Stelle als Dramaturgin am Basler Theater bekommen hat.

Das ineinander verwobene zeitliche Geflecht dieser wechselvollen Geschichte ist zuweilen schwer zu durchschauen, gleichwohl gelingt es Peggy Mädler, die verschiedenen Zeitebenen miteinander zu verbinden, Zusammenhänge zu verdeutlichen, menschliche Bindungen auf die Probe und scheinbar tiefe örtliche Verwurzelungen in Frage zu stellen. Es geht um biografische Neuanfänge, um Veränderungen, aber auch um Geborgensein in gewohnter Umgebung, um Konstanten im Leben, egal welche politischen und historischen Umbrüche sie begleiten und aus den Angeln zu heben drohen. Das große Thema dabei ist die Freundschaft, die selbst schwerste Belastungen überwinden kann und zu den wenigen Konstanten im Leben zählt, nicht an Zeit und Ort gebunden. Und sie hilft denn auch über viele Fährnisse des Lebens hinweg.

Die sprachlichen Mittel, mit denen uns hier erzählt wird, «Wohin wir gehen», sind äußerst spartanisch und tragen rein gar nichts zum Lesegenuss bei. Politische Umbrüche dieser bewegten Zeit finden im sprachlichen Stil keine Entsprechung, sie werden emotionslos und nüchtern wie in einem Sachbuch abgehandelt. Auch die Figuren bleiben merkwürdig blass, Lebensfreude, Lust gar kommt bei ihnen nicht vor, sie sind ziemlich konturlos und prägen sich dem Leser nicht ein als markante Typen, wozu wohl auch die seltenen und wenig lebendigen Dialoge beitragen. Die hehre Absicht allein reicht wirklich nicht, einen Roman zu einer bereichernden und erfreulichen Lektüre zu machen.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.05.2019
Lanny
Porter, Max

Lanny


gut

Träumen mit Schuppenwurz

Mit einiger Spannung ist von manchen Lesern «Lanny», der zweite Roman des britischen Schriftstellers Max Porter erwartet worden, dessen Debütroman vor vier Jahren international Beachtung gefunden hatte. Und prompt findet sich auch in dieser neuen Prosa wieder die Leidenschaft des Autors für Übersinnliches, seine Lust am Fabulieren, seine radikale Abwendung von tradierten Erzählformen. Mich hat der Roman unwillkürlich an den Meister der Postmoderne, an Jonathan Safran Foer erinnert, der in «Extrem laut und unheimlich nah» auch einen etwa gleich alten, hochintelligenten Jungen in den Fokus stellt und seinem Text ebenfalls mit ungewöhnlichen typografischen Verzierungen eine besondere, seine Thematik unterstreichende Note gibt. Kann Porter da mithalten?

Der dreiteilige Roman beginnt mit dem Erwachen eines Fabelwesens, Altvater Schuppenwurz, eine Zwittergestalt zwischen Waldschrat und unbelebtem Wurzelwerk, nach einer Schmarotzerpflanze benannt. Als «Einen Mann ganz aus Efeu» stellt Lanny sich diesen bösen Dorfgeist vor, der in seinem Schreckenspotential auch an den Erlkönig von Goethe erinnert. Lannys Eltern sind von London in dieses heimelige kleine Dorf gezogen, sein Vater, der «ein Reh nicht von einem Wildschwein unterscheiden kann», ist Banker und pendelt täglich in die City. Als ehemalige Schauspielerin widmet sich seine Mutter hier liebevoll ihrem Sohn, nebenbei schreibt sie an einem wüsten Thriller. Es gelingt ihr, den «Irren Pete», einen berühmten Künstler aus der Nachbarschaft, als Lehrer für Lanny zu gewinnen. Zwischen dem hoch betagten Eigenbrödler und dem wissbegierigen Jungen entwickelt sich eine herzliche Freundschaft, die für beide sehr bereichernd ist.

In einer die ganze erste Hälfte des Romans ausfüllenden Exposition wird in kurzen Kapiteln von Lanny erzählt, er ist nur Titelfigur, nicht Protagonist, wir erfahren nichts aus seiner Sicht. Mutter, Vater und Pete berichten in Ich-Form über seine Entwicklung, seinen erstaunlichen Wissendrang, sein nicht minder erstaunliches Geschick bei allem, ein Neunmalkluger, - seine Mutter nennt ihn zärtlich Enigma. Zwischendurch ist, in Fettdruck gesetzt und in der dritten Person erzählt, immer wieder auch Schuppenwurz zu vernehmen, der alles hört, alles sieht, alles weiß in diesem überschaubaren ländlichen Kosmos. Die verschiedenen Stimmen seiner Bewohner erzeugen ein kakophonisches Raunen, ein permanentes Gemurmel. Es ist typografisch in bizarren, die gewohnte Waagerechte missachtenden, bogenförmig tänzelnden oder schräg gesetzten, inhaltlich nicht relevanten Kurzsätzen, Textfetzen, Ausrufen, Redensarten und Worthülsen realisiert. Sie enthalten gleichermaßen Kluges und völlig Belangloses, - wie im richtigen Leben, könnte man sagen. Die Typografie ändert sich schlagartig, als im zweiten Teil Lanny plötzlich verschwunden ist und fieberhaft nach ihm gesucht wird. Eine Fülle von meist nicht identifizierbaren Ich-Erzählern berichtet separat in kurzen, durch das Zeichen + getrennten Absätzen von den Suchaktionen, von den Ermittlungen der Polizei, von Mutmaßungen und Verdächtigungen, ein vielstimmiger Chor, ehe sich dann im dritten Teil in einer Traumwelt wieder Altvater Schuppenwurz ins Geschehen einmischt.

Mit seinem Magischen Realismus verlässt Max Porter häufig die Gefilde der Prosa und wandelt auf den Pfaden der Lyrik, nicht nur rhythmisch, sondern auch melodisch. «Warum sollte ein Buch keine musikalische Seele haben?» hat er eine diesbezügliche Frage im Interview beantwortet. Stadt-Land-Problematik, Naturferne, Vereinsamung, Helikoptereltern, Massenhysterie als seine Themata verarbeitet er im Social-Media-Zeitalter surreal, erhebt das Metaphysische über das Faktische. Entstanden ist so ein Roman für Träumer, ganz anders als bei Foer allerdings. In seiner poetischen Märchenhaftigkeit vermag «Lanny» mehr auszusagen als manche realitätsverpflichtete Prosa. Die Bereitschaft zum Träumen ist allerdings zwingend vorausgesetzt!

Bewertung vom 20.05.2019
Meister und Margarita
Bulgakow, Michail

Meister und Margarita


ausgezeichnet

«Leser mir nach!»

Unter dem Titel «Meister und Margarita» ist der Jahrhundertroman des russischen Schriftstellers Michail Bulgakow 1966 posthum in einer radikal zensierten Fassung erstmals erschienen, unlektoriert und nicht von eigener Hand fertig gestellt. Nach einem atemberaubenden Blitzstart ist er dort gleichwohl zum meistgelesenen Roman des Zwanzigsten Jahrhunderts avanciert, ein literarischer Geniestreich ohne gleichen. Die Zahl der Arbeiten, die sich bis heute mit ihm wissenschaftlich befassen und um eine plausible Deutung ringen, ist inzwischen Legion. Dieser russische Jahrhundertroman nun ist 2012 in einer kongenialen Neuübersetzung erneut auf Deutsch erschienen, Felicitas Hoppe hat ihm aus diesem Anlass ein ebenso lesenswertes wie geistreiches Nachwort unter der Überschrift «Leser mir nach – du bist frei!» gewidmet. Worin liegt denn nun die große Faszination dieses Werks?

Natürlich vor allem im mystischen Faust-Thema, das schon im Titel anklingt und dem Roman mit einem Goethe-Zitat als Motto deutlich vorangestellt ist. Dem Faust nämlich entspricht hier der «Meister», und dem Gretchen «Margarita». Der Magische Realismus Bulgakows hat den Stoff allerdings in einer radikal neuen Sichtweise aufgegriffen und dessen Thematik in eine unbekümmert groteske, satirische Form gebracht, die im Verbund mit einer überbordenden Phantasie einen ebenso großen Anteil an der begeisterten Rezeption dieses Werkes haben dürfte. «Es war Frühling, eine heiße Dämmerstunde am Patriachenteich» lautet der inzwischen berühmt gewordene erste Satz des Romans. Die zwei Herren, die dort sitzen, sind der Vorsitzende der Moskauer Autorenvereinigung und der Schriftsteller Iwan Nikolajewitsch Ponyrjow. Sie diskutieren über Iwans antireligiöses Poem, es geht um Metaphysisches, um Jesus und um Gottesbeweise, als sich plötzlich ein Ausländer in ihr Gespräch einmischt, ihnen die Leviten liest und nebenbei erwähnt, er habe schon mit Kant gefrühstückt und kenne Pontius Pilatus persönlich. So beginnt unter dem Titel «Reden Sie nie mit Unbekannten» das erste Kapitel. Dieser Fremde ist Woland, Professor der schwarzen Magie, in Wahrheit der unter verschiedenen Masken auftretende leibhaftige Satan, der in Folge mit seiner abenteuerlichen Entourage binnen kürzester Zeit in Moskau ein heilloses Chaos mit zwei Toten anrichtet, viele Menschen in Panik versetzt und alle Behörden kläglich scheitern lässt.

Der «Meister» ist Insasse einer Psychiatrischen Klinik und kennt seinen Namen nicht. Er hatte an einem Roman über Pontius Pilatus geschrieben, als er «Margarita» kennenlernte, eine verheiratete Frau, die seine große Liebe wird. Als sein Roman von der Kritik verrissen wird, verbrennt er ihn, verfällt in Wahnsinn, Margarita und er werden getrennt. Einer von Wolands Helfern macht ihr ein unmoralisches Angebot, erhebt sie zur Königin an der Seite des Teufels bei einem riesigen, der Walpurgisnacht ähnelnden Ball, fortan gehört sie als Hexe zur Begleitung Satans. In mehreren Kapiteln wird parallel aus dem Roman des «Meisters» über Pontius Pilatus erzählt, wobei die Hinrichtung hier völlig entmystifiziert geschildert wird und Jesus als naiver Gutmensch erscheint. Am Ende treffen sich beide Handlungsstränge, als der «Meister» und Margarita nach ihrem Tode von Woland nach Jerusalem geführt werden, wo der depressive Pontius Pilatus einsam und verlassen mit seinem Hund in der Wildnis vor der Stadt sitzt, - und alle werden genau dort erlöst!

Liebe, Vergebung, Erlösung sind die großen Fragen in Michail Bulgakows Philosophie. Mit Kunst und Künstler wird ein weiteres Thema abgehandelt, die unheilvolle Bürokratie im aberwitzigen Überwachungsstaat der 1930er Jahre unter Stalin wird nur indirekt auf amüsante Weise angeprangert. Ein umfangreicher Anhang hilft beim Verstehen vieler spezifisch russischer Details, der immense Lesespaß aber beruht zu einem nicht unwesentlichen Teil auch auf der wohldurchdachten, frischen Übersetzung. «Leser mir nach!» rufe auch ich.