Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Buchdoktor
Wohnort: 
Deutschland
Über mich: 
Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Zwei Schwestern
Baker, Dorothy

Zwei Schwestern


ausgezeichnet

Cassandra Edwards ist unterwegs in ihr Elternhaus zur Hochzeit ihrer Zwillingsschwester. Die Art, in der sie in einem - teils pathetischen - Monolog von der Fahrt und ihrem Verhältnis zu ihrer Schwester berichtet, lässt befürchten, dass Cassandra dabei ist, sich unglücklich zu machen. Aus ihrer Symbiose des Zwillingsdaseins mit gemeinsamem Sport und geteilter Liebe zur Musik ist Judith ausgebrochen, indem sie zuerst allein nach New York ging - und sich dort in einen jungen Assistenzarzt verliebte. Judith wird mit ihrer Heirat das enge Band zwischen den Schwestern zerstören, das die Großmutter stets niedlich fand und gegen das die verstorbene Mutter der Mädchen entschieden zu steuern versuchte. Cassandra wollte ursprünglich ihrer verstorbenen Mutter nacheifern und Autorin werden, doch offenbar hat sie es bisher nur zu einem Lehrerstudium in Berkeley und einer unfertigen Examensarbeit gebracht. Die Schwestern treffen in ihrem ehemaligen Kinderzimmer aufeinander, das kaum verändert an ihre Zeit als Leistungsschwimmerinnen erinnert. Die Hochzeitsplanung auf der Ranch der Familie Edwards wirkt seltsam bruchstückhaft, so dass ich mich gefragt habe, wozu die geplante Rolle einer Brautjungfer eigentlich gebraucht wird. Während Großmutter Rowena unbeirrt ihre Vorstellung einer Hochzeit verfolgt, wirkt um sie herum das Verhältnis der Edwards zum künftigen Schwiegersohn sehr sonderbar. Der Vater, ein pensionierter Professor, und Cassandra sprechen so elitär wie desinteressiert von Jack Finch wie von einem Niemand, der noch nicht einmal die Mühe wert ist, sich seinen Namen zu merken. Innerhalb von nur drei Tagen gerät das äußerlich intakte Familienleben der Edwards gehörig aus dem Lot.

Die Ereignisse werden zunächst nur aus Cassandras Perspektive berichtet. Später kommt auch Judith zu Wort, allerdings erheblich kürzer als ihre Schwester. Die Handlung entwickelt durch die Form des Monologs eine bedrückende Dynamik, die durch Dorothy Bakers peniblen Stil noch unterstützt wird. 'Zwei Schwestern' ist nicht der erste und einzige Roman über eine beklemmende Symbiose zwischen eineiigen Zwillingen; er beeindruckte mich nachhaltig durch den Einblick in Lebensentwürfe junger Frauen in den 60ern.

Dorothy Bakers bereits 1962 im Original erschienener scharfzüngiger Roman über die Zwillingsschwestern Cassandra und Judith und ihren abgeschiedenen Familienkosmos wurde zunächst in den USA neu aufgelegt (bei New York Review Books Classics, wo auch John Williams' Stoner wiederaufgelegt wurde) und nun auch neu ins Deutsche übersetzt. In der Ausgabe des Krüger Verlags von 1965 wäre Kassandra auf der Hochzeit vermutlich als Frauenroman eingeordnet worden. 50 Jahre später kann die Konfrontation zweier Schwestern beinahe schon als Klassiker bezeichnet werden, der Einblick in Frauenschicksale zu Beginn der 60er gibt. Dorothy Bakers Buch neu zu entdecken, finde ich sehr lohnenswert.

Bewertung vom 04.01.2017
Die Geschichte des Regens
Williams, Niall

Die Geschichte des Regens


sehr gut

Ruth Swain liegt schwer krank im Bett und hört den Regen am Dachfenster herunter rinnen. Ruth scheint unersättlich darin, jeden Aspekt des Swainschen Familienlebens niederzuschreiben, ohne Rücksicht darauf, was andere Leser interessieren könnte. Das Wuchern von Geschichten und Familienerinnerungen kann Ruths ehemalige Lehrerein Mrs Quinty nur schwer im Zaum halten, die gemeinsam mit Ruth an deren Buchmanuskript arbeitet. Ruths Stilmittel ist das Mäandern, ihr Genre: die Flusserzählung. Von Emily Dickinson hat die junge Autorin eine eigenwillige, mitunter irritierende Rechtschreibung übernommen. Offenbar haben Wörter für sie eine andere Gewichtung und Betonung als für andere Menschen. "Seltsam" klingt noch seltsamer, wenn es mit einem Großbuchstaben beginnt. Die irische Studentin zitiert souverän aus einer Bibliothek von beeindruckenden 3958 Büchern und stammt offenbar aus einer Familie, in der das Geschichtenerzählen Tradition ist. Mit ihren Bezügen zu Klassikern schafft die Icherzählerin eine so vertraute Atmosphäre, als würden Dickens Figuren bei Swains mit am Esstisch sitzen.

Zunächst war in Ruths üppig wucherndem Gedankendschungel für mich der rote Faden schwer zu erkennen. Auch habe ich mich gefragt, wie Ruth trotz ihrer Krankheit ein so imposantes literarisches Wissen ansammeln konnte. Doch nicht immer ist der direkte Weg der sinnvolle Weg. Erst allmählich dringt Ruth zu ihren zentralen Themen vor, ihrem Bruder Aeney, sowie der Liebe ihres Vaters zur Literatur und zur Dichtung. Auf Virgil Swains Tätigkeit als Dichter ist im Romantitel ein Bezug zu finden. Ruths Bücher wurden von ihrem Vater gesammelt, dessen Lehrer Mr MacGhiolla die Lektüre seines menschenscheuen Schülers schon früh zur irischen Literatur führte. Virgil, ein wenig erfolgreicher Landwirt, führt eine Ahnenreihe von Bischöfen und Priestern fort, unter denen - wen würde das in Irland wundern - eine Reihe komischer Käuze zu finden sind. Großvater Abraham zum Beispiel war als Stabhochspringer erfolgreich. Als sanfter Vater geht Virgil im Geschichtenerzählen für seine Kinder auf, überzeugt davon, dass es weitere, verbesserte Welten geben müsste. Niemals stellt Virgil sich in seinen Geschichten selbst als Heldenfigur dar. Ruth stellt mit übersprudelnder Phantasie und beachtlichem Sinn für Ironie Bezüge zum Irischsein und zur irischen Gegenwart her, bei denen ich mich manches Mal gefragt habe, wie eine einzelne Person die pure Menge an Sprachbildern und Skurrilitäten ansammeln konnte. Vom Haar, das wie eine kleine braune Hecke über der "Intelligenz" eines Menschen wuchert, bis zur Vorstellung, vor Urzeiten wären alle Iren einmal Meeresalgen gewesen.

Niall Williams entwickelt hier Romanfiguren, deren rastloses Lesen und Schreiben einer Krankheit ähnelt. Wer sich auf seine üppig mäandernde Familiengeschichte einlassen kann, wird verblüfft eine entschleunigende Wirkung der Lektüre feststellen. In Irland etwas zu erledigen oder zu besprechen benötigt eben eine gewisse Zeitspanne.

Bewertung vom 04.01.2017
Monddämmerung
Reith, Rolf von der

Monddämmerung


sehr gut

Im Jahr 2039, eine Weile nach dem zweiten Internetkrieg, haben Erdbewohner den Mond besiedelt und leben und arbeiten dort in einer Mondstation. Die Welt wird von Indern und Chinesen regiert, so dass ziemlich schlechte Zukunftsaussichten hat, wer in der Schule faul im Chinesisch- oder Hindi-Unterricht war. Die Bewohner der neu erbauten Mondbasis Mao-Ghandi II sind größtenteils Männer. Frauen und Kinder sind offenbar auf der Erde und damit in den "Randzonen" dieser neuen Welt zurückgeblieben. Nach längerem Streit mit ihrer Mutter entschliesst die 15-jährige Tessa sich - nicht ungewöhnlich in ihrem Alter - die Schule zu schmeißen und zu ihrem Vater Leo in seine Wohnwabe im Bereich Mao-Gandhi II zu ziehen. Tessas Vater arbeitet beim Instandhaltungstrupp der Mondbasis. Ein sehr spontaner Entschluss; denn es ist zunächst ungeklärt, ob es für Tessa in der rauen Männerwelt der Mondbasis überhaupt einen Arbeitsplatz geben wird. Schule findet auf dem Mond jedenfalls statt - zum interplanetarischen Unterricht meldet sich sogleich nach Tessas Ankunft in Hologramm-Form ihre Lehrerin. Während Vater Leo im Alleingang einem Umweltskandal nachspürt, lernt Tessa die Mitglieder der Band Purple Toupets auf deren Weltraumtournee kennen - und fühlt sich besonders zu einem Mitglied des Trios hingezogen.

In einem Genre-Mix aus Abenteuer, Science Fiction und Liebesgeschichte setzt Rolf von der Reith einen Pubertätskonflikt unserer Zeit in der Zukunft auf einer Mondbasis und in der sie umgebenden Schwerelosigkeit fort. Über die Persönlichkeit seiner Heldin Tessa, wie auch die technischen Voraussetzungen für ein Leben auf dem Mond, hätte ich gern ausführlicher gelesen. Zur Unterhaltung der jugendlichen Zielgruppe ist die Verbindung von Liebe, Abenteuer und einem utopischen Szenario in Ordnung, ein erster Schritt zur Lösung von Tessas Pubertätskonflikten hätte der Handlung jedoch nicht geschadet.

Bewertung vom 04.01.2017
Schwarz und Silber
Giordano, Paolo

Schwarz und Silber


ausgezeichnet

Signora A. kam als Kindermädchen und Perle ins Haus, als Nora wegen einer drohenden Frühgeburt strenge Bettruhe verordnet wurde. Die Signora herrscht bald über Küche und Kühlschrank und wird zur wichtigsten Bezugsperson für den kleinen Emanuele. Doch all das liegt in der Vergangenheit. Babette, wie der Icherzähler die Haushälterin nennt, ist vor kurzer Zeit an ihrer schweren Krebserkrankung gestorben. Erst ihre Krankheit hat dem jungen Paar verdeutlicht, welch entscheidende Rolle Babette für den Zusammenhalt der Familie gespielt hat. Aus einer anfangs hierarchischen Beziehung zwischen Arbeitgebern und Angestellter wird bald eine sehr persönliche Bindung, die Babette eine Familie ersetzt und dem turbulenten Beziehungsalltag des Paares einen ruhenden Pol entgegensetzt. Mit dem Schock der Krebserkrankung und dem Annehmen von Babettes bevorstehendem Tod wird Babette endgültig ein Familienmitglied. Natürlich verläuft eine so enge Beziehung und gegenseitige Abhängigkeit nicht immer konfliktfrei, besonders dann nicht, wenn die Beteiligten zunächst so stark auf sich selbst bezogen sind wie hier. Der männliche Icherzähler reflektiert im Rückblick die Beziehung zu seiner eigenen Kinderfrau, seine Ehe und seine Psychotherapie.

Hätte ich Giordanos Roman als Buch gelesen, hätte ich mich vermutlich auf der inhaltlichen Ebene auf die Entwicklung der Beziehungen konzentriert. Als Hörbuch mit Heikko Deutschmann als Idealbesetzung hat sich mir erst die fein ziselierte Sprache Giordanos erschlossen, die an einen Roman aus dem vorigen Jahrhundert erinnert.

Bewertung vom 04.01.2017
Am tiefen Grund
Sweeney, Diana

Am tiefen Grund


ausgezeichnet

Ein Buchcover in Lackoptik, darunter ein farbenfroh mit Meeresbewohnern illustrierter Pappeinband verbergen die verstörende Geschichte des Mädchens Tom.

Tom lebt in Neuseeland und hat bei einer Flutkatastrophe Mutter und Schwester verloren, ihr Vater war bereits vorher ertrunken. Tom ist nicht die Einzige, der die Flut den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Eine Lehrerin ist bei dem Unglück ums Leben gekommen, eine andere hat ihre Kinder verloren. Die 16-Jährige heißt in Wirklichkeit Holly Thomas und der Spitzname Tom (wie tomcat) passt perfekt zu ihr. Nach der Flut konnte Tom im Bootsschuppen von Billy unterschlüpfen, von dem sie nun ein Kind erwartet. Am liebsten würde Tom bei Jonah leben, der ebenfalls seine Eltern durch die Flut verloren hat, doch Jonah hat andere Pläne, die er noch nicht auf den Tisch packen kann. Für die Überlebenden scheint es keine Therapien zu geben, um die Katastrophe zu verarbeiten, sie müssen selbst füreinander sorgen.

Besondere Zeiten erfordern ungewöhnliches Handeln. Mit berührender Selbstverständlichkeit wird Tom von verschiedenen Menschen gestützt. Angefangen mit Jonah, der wie sie noch zur Schule geht, über Nan, ihre Oma im Altersheim, Jonathan, den Großvater von Jonah, bis zu all jenen, die Tom als schwangere Jugendliche umsorgen und betreuen. Ein besonderer Helfer ist der Lehrer James Wo, der Tom nach über einem Jahr Abwesenheit wieder an die Schule gewöhnen möchte. Wenn Tom noch nicht wieder zur Schule gehen kann, wird er ihr eben den Unterrichtsstoff nachhause zu Jonah bringen. Zum Hilfsmittel bei seinem Projekt wird ein Synonymwörterbuch. Am Beispiel der Schule wird deutlich, dass Spenden und Wiederaufbau die Wunden der Überlebenden nicht heilen können. Im Gegenteil, das neue Wandbild, das James Wo im Laubengang der neu gebauten Schule gemalt hat, erinnert Tom nur daran, wie sehr sie ihre alte Schule und ihre Kameraden vermisst.

Die Frage, ob Bill ihre Hilfsbedürftigkeit ausgenutzt und sie missbraucht hat, muss zunächst zurückstehen. Für Tom verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit miteinander und ihre Toten erscheinen, um sich mit ihr zu unterhalten. Papa, Oma Nans verstorbener Mann, taucht ebenso auf wie Toms Vater. In verwirrenden Zeitsprüngen erlebt Tom in Flashbacks Szenen aus ihrer Kindheit gemeinsam mit dem Vater, der zu dieser Zeit vielleicht längst nicht mehr lebte. Auch die Zeitform gibt keine Orientierung; denn aus der Vergangenheit wird in wechselnden Zeitformen berichtet. Diese Übergangsphase schützt die Überlebende Tom zurzeit noch davor, sich mit der Endgültigkeit des Todes abfinden zu müssen. Ein wichtiger Gesprächspartner für Tom ist das Ungeborene, das Fischlein. In verwirrenden äußeren Umständen und innerlicher Verwirrung vermittelt Tom Lesern des Romans Einblick in die komplizierte Psyche traumatisierter Überlebender. Tom kann nur in kleinen Schritten Pläne für die Zukunft machen, weil sie noch immer nicht glauben kann, dass sie selbst überlebt hat. Für ihr Fischlein muss sie nun jedoch Pläne machen.

Verstörende Ereignisse verbergen sich hier hinter brüchiger Realität und poetischer Darstellung. Durch die Überlappung von Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit ist das Buch für die jugendliche Zielgruppe sicher eine Herausforderung. Dennoch ermöglicht die Figur der überlebenden '"Tom", sich in eine Situation einzufühlen, in der sie noch nicht bereit ist, wieder normal, sauber und dankbar zu sein, wie Nichtbetroffene es vielleicht von ihr erwarten würden. Den Zeitpunkt, an dem Normalität für sie beginnt, wird Tom selbst bestimmen.

Bewertung vom 04.01.2017
Digitale Fotografie
Hogl, Marion

Digitale Fotografie


ausgezeichnet

Zur Kursvorbereitung in Fotografie und Bildbearbeitung habe ich schon einige Fotobücher gelesen. Nicht immer war ich damit glücklich. Viele Bücher sind Aktualisierungen aus der analogen Zeit, in denen übersehen wird, wie viel sich mit der digitalen Fotografie geändert hat. Umso überraschter war ich von der Fotoschule von Marion Hogl. Dieses Buch ist absolut auf der Höhe der Zeit und zeigt deutlich, dass die Autorin die digitale Fotografie verinnerlicht hat. Frau Hogl verfügt nicht nur über theoretisches Wissen, sondern hat Erfahrung in fast allen Bereichen der Fotografie gesammelt.

Das Buch ist mit 677 Seiten kein leichtes, schnelles Werk, doch eine Umfassendes. Eine Fotoschule muss auf viele Aspekte der Fotografie eingehen. Das ist in diesem Buch meiner Ansicht nach in einmaliger Weise gelungen. Die Autorin lässt kein fotografisches Thema aus, vom Einstieg in die Fototechnik bis zur professionellen Bildbearbeitung, über Studiofotografie, Fotografie mit Quadrokoptern, Farbmanagement und Bildkomposition. Selbst Hinweise für Leser, die sich als Fotografen selbständig machen wollen, sind enthalten. Dass dabei trotzdem "nur" 677 Seiten herausgekommen sind, liegt an der klaren, kompakten Sprache der Autorin, mit der sie alles Wissenswerte ohne große Schnörkel in kurzen Sätzen verpackt, die sich leicht und locker lesen lassen. Neben dem fortlaufenden Text werden in farblich abgesetzten Kästen zusätzliche Praxis- und Lerntipps gegeben, die es vor allem dem Anfänger erleichtern, das gelesene Wissen auszuprobieren und so an Erfahrung zu gewinnen. Passende, exzellente Fotos visualisieren den Textinhalt. So macht die Arbeit mit dem Buch viel Spaß.

Durch die Unterteilung der 6 Themenbereiche in insgesamt 22 Kapitel wird das gesammelte Wissen nicht nur übersichtlich gegliedert, die Gliederung erleichtert auch späteres Nachschlagen einzelner Wissensbereiche. Das Buch eignet sich nicht nur zum einmaligen Lesen, sondern mit Anhang und umfangreichem Register auch als schnelles Nachschlagewerk.

Marion Hogls "Digitale Fotografie" ist kurz, prägnant, dabei gut lesbar geschrieben, mit tollen Fotos illustriert und erfasst die Fotografie wirklich vollständig. An diesem Buch ist nichts zu kritisieren. Geeignet ist es für Anfänger zum Einlesen, wie auch als Nachschlagewerk für Fortgeschrittene, die sich in ein für sie neues Gebiet der Fotografie einarbeiten wollen. Absolut empfehlenswert.

Bewertung vom 04.01.2017
Menschen im August
Lebedew, Sergej

Menschen im August


sehr gut

Tanja, die Großmutter des Icherzählers, hat als Lektorin in einem russischen Verlag für politische Literatur gearbeitet. In Tanjas strikter Arbeitsroutine wurde ein korrigiertes Manuskript stets in den Papierkorb geworfen, wenn die korrigierte Fassung getippt war. Es durfte jeweils nur eine gültige Fassung eines Textes geben. Ihre Eigenheit, für klaren Tisch zu sorgen, bestimmte auch die Familiengeschichte. Tanjas dem Enkel hinterlassenes Tagebuch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs wirft nun die Frage auf, welche Version ihres Lebens sie ihren Nachkommen hinterlassen wollte. Drei Brüder der Großmutter fallen im Krieg, ihre Schwestern und Schwäger verhungern während der Blockade Leningrads. Der Vater ihres 1941 geborenen Kindes war unbekannt und möglicherweise hat sie sich einen Namen ausgedacht, weil für die Registrierung eines Neugeborenen ein Vatersname als mittlerer Name benötigt wird. Als der Icherzähler, Geologe wie der Autor, nach dem Schicksal seines Großvaters Michail zu forschen beginnt, wachsen seine Zweifel an Tanjas Version mit jedem Schritt. Tanja als Protokollantin stellt nur eine (beschönigte) Version der Geschehnisse dar, erst durch Ergänzungen ihres Sohnes entsteht die vollständige Geschichte. Es stellt sich die Frage, ob Tanjas Leiden der Gegenwart aus Schuldgefühlen resultieren, weil sie den Vater ihres Kindes zuerst fortgewünscht und schließlich völlig aus dem Manuskript ihres Lebens getilgt hat. Der junge Geologe will die Geografie seiner Familie wiederherstellen wie einen zerbrochenen Spiegel. Eine verschlungene Familiengeschichte fördert er dabei zutage, in der ein Urgroßvater seinen Enkeln aus seinem Leben als Militärarzt im 19. Jahrhundert berichtete und in der so manches Schicksal nach Emigration und Verschleppung nicht zu klären ist. - Mit seiner Reise nach Polen, die der angeblichen Überführung der Urne eines Verstorbenen dient, wechselt der Erzähler in die Rolle eines schlitzohrigen Schatzsuchers. Er verkehrt nun in einer Subkultur, in der nach Mammutskeletten, wertvollem Altmetall, verschollenen Reichtümern und legendären Helden gesucht wird. Auf der anderen Seite dieser Halbwelt vermutet er seinen Großvater M. Vielleicht weil ihm die Rolle als Schatzsucher so wenig liegt, öffnen sich ihm andere Menschen und erzählen von ihren in der Verbannung in Arbeitslager verschollenen Angehörigen. Schließlich verknüpft Lebedew die Suche des Erzählers nach den Verschollenen und Verschleppten von damals mit denen des Tschetschenienkrieges der Gegenwart. Neben der persönlichen Betroffenheit der Erzählerfigur geht es um ethnische Säuberungen, um die Säuberung von Akten und Zeitzeugnissen - damit um die weißen Flecken in der russischen Zeitgeschichte. - Lebedews Roman sehe ich als direkte Fortsetzung seines ersten Buchs, die durch die Verknüpfung von Familiengeschichte, Schelmenroman und Auseinandersetzung mit der russischen Geschichte der 90er sehr viel komplexer ausfällt als Der Himmel auf ihren Schultern.

Bewertung vom 04.01.2017
Der Pfandleiher
Wallant, Edward Lewis

Der Pfandleiher


ausgezeichnet

Neuauflagen und Neuübersetzungen von Klassikern erobern gerade den Buchmarkt (Von Stoner, über Zwei Schwestern bis zu Was sie begehren), Wallants Klassiker von 1961 wurde nun zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.

Sol Nazerman trägt seine Häftlingsnummer aus einem deutschen KZ sichtbar auf den Unterarm tätowiert. In Spanisch Harlem, wo er ein bescheidenes Pfandhaus betreibt, kann man nicht von jedem Kunden erwarten, dass er die Bedeutung dieser Ziffern kennt. Vielleicht ist das für Sol auch besser so. Seine Erlebnisse und der Verlust seiner Frau und seiner Kinder sind unaussprechbar, seine Alpträume vermutlich nur ein schwaches Abbild des Erlebten. Als Opfer medizinischer Versuche an Häftlingen wirkt der Mann so, als hätte man ihm die Knochen gebrochen und in falscher Reihenfolge wieder zusammengesetzt. Sol hat sich arrangiert mit Murillio, einem Mafioso, der das Pfandhaus als Scheinfirma zur Geldwäsche nutzt. Murillio gehören vermutlich alle Läden und Bordelle der Straße. Sols Kunden sind kleine Diebe, Schnorrer und Prostituierte, die bei ihren Freiern kleine Wertgegenstände mitgehen lassen und für ein oder zwei Dollar verpfänden. Sol verdient gut und finanziert auch den Lebensunterhalt seiner Schwester und deren Familie.

Innerlich ist der Mann längst gestorben, möchte am liebsten in Ruhe gelassen werden mit den Schicksalen seiner Kunden und von den Ansprüchen seiner Verwandtschaft. Doch so einfach ist das nicht; denn eine Reihe von Personen erwartet noch etwas von Sol. Eigenartige Vorfälle könnten einen auf die Idee bringen, dass jemand von Sol Schutzgeld erpressen will und dass Murillio Testkäufer losschickt, um Sols Treue ihm gegenüber auf die Probe zu stellen. Jesus Ortiz, Sols Angestellter, träumt von einem eigenen Geschäft mit seinem Namen über der Tür und benötigt dazu Sols ausgezeichnete Fachkenntnisse. Das Geschäftsgeheimnis jüdischer Händler ist Ortiz noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Eine Frau tauscht bei Sol Sex gegen Geld, um sich und ihren Vater durchzubringen - und zu Hause interessiert sich Sol dann doch ein winziges Stück für seinen zeichnenden Neffen. In dieser zutiefst deprimierenden Situation taucht, rundlich und frisch wie ein gemangeltes Kleidungsstück, eine Miss Birchfield bei Sol auf. Sie will zunächst Unterstützung für ihr Jugendzentrum und entwickelt bald ein Interesse an Sol, das für den gebrochenen Mann nur wie eine weitere Last wirkt.

Sols Schicksal legt sich wie eine staubige, erstickende Decke über den Leser, unter der dennoch atmosphärisch großartige Beschreibungen und stilistische Perlen hervorragen. Ein verblüffendes Ende kann schließlich die deprimierende Atmosphäre abschütteln. Stilistisch ist es eines der besten Bücher, das ich in diesem Jahr gelesen habe. Über 50 Jahre Warten auf die Übersetzung haben sich hier gelohnt.

°°°°
Zitat
'Obwohl die Lampen brannten, war es schummrig im Laden. Draußen tauchte die Abendsonne die Straße in ein Goldbad, in dem sich die Passanten wie dunkle Schwimmer bewegten, ohne Hast und Zielstrebigkeit. Gemeinsam mit seinem Gehilfen atmete er den Staub der durch eine Vielzahl von Händen gegangene Waren ein, die vorstellbaren Gerüche nach Schweiß und Stolz und Tränen; es war eine unbestimmte und doch übermächtige Atmosphäre, und sie bescherte ihnen eine Intimität, die sich keiner von beiden wünschte.

'Dieser ganze Krempel', sagte Ortiz sinnierend. 'Und doch ist es ein Geschäft. Solide Sache, oh, wirklich solide Sache - ein eigenes Geschäft. Mit Akten und Büchern und Papieren, alles schwarz auf weiß fixiert. Euereins macht es richtig, wie ihr das immer hinkriegt, egal, was ist.' (Seite 38/39)

Bewertung vom 04.01.2017
Mein phantastischer Ozean
Basford, Johanna

Mein phantastischer Ozean


ausgezeichnet

Ein Buchcover in Schwarz-Weiss-Gold - ein so edles Malbuch ist viel zu schade, um darin zu malen, war mein erster Gedanke. Johanna Basford hat eine Reihe von Ausmal-Büchern veröffentlicht mit sehr filigranen, detailreichen Naturdarstellungen. In ihrem phantastischen Ozean ranken zwischen Märchenwelten Wasserpflanzen über die Buchseite und werden von Meeresbewohnern umspielt. Einige Seiten zeigen Mandalas, andere Ranken oder Musterrapporte. Der Pfiff des Buches ist die Kombination aus Mal- und Suchbuch. Man kann zuerst die 16 Artefakte aus der Märchenwelt suchen und ausmalen, die vorn aufgelistet sind, oder zuerst das Buch ausmalen, um eine andere Person suchen zu lassen. Wer sich wirklich zum Ausmalen überwinden kann, benötigt für die feinen Details sehr gute Stifte oder Fasermaler. Das Problem durch den Falz des Buches zerteilter Bilder wurde größtenteils durch die Beschränkung der Bilder auf eine Seite vermieden.

Mit STABILO point 88 und edding 55 hatte ich in diesem Exemplar keine Probleme, beide Fasermalertypen drücken und feuchten nicht auf die Rückseite des Papiers durch.

Ein ideales Geschenk für Empfänger, die etwas Aufmunterung und einen Hauch von Luxus verdient haben.

Bewertung vom 04.01.2017
Trümmergöre
Held, Monika

Trümmergöre


ausgezeichnet

Jula ist vier Jahre alt, als ihr Vater sie auf einem Schlitten durch das verschneite Hamburg zieht, um sie bei ihrer Großmutter abzuliefern. Der Vater geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Kein Wort über ihre verstorbene Mutter, kein Wort über die Zukunft. "Du bist jetzt vier und sehr vernünftig", heißt es. Mit der Großmutter in einer Wohnung, doch in einer völlig getrennten Welt, lebt Onkel Hans, der jüngere Bruder des Vaters. Hans kocht für sich allein, die Erwachsenen reden kein Wort miteinander, gehen sich mithilfe geheimnisvoller Zeichen bewusst aus dem Weg. Hans findet sofort Zugang zur vom Trennungsschock verstörten Jula und bringt ihr sehr bald bei, dass sie besser nicht über die Dinge spricht, die sie tagsüber gehört und erlebt hat. Details eines Kinderlebens unter Kiezgrößen und Prostituierten erfährt die Großmutter zum Glück nie, die schon immer tagsüber als Näherin gearbeitet hat.

Onkel Hans handelt mit Gebrauchtwagen und Autoteilen, bildet mit Trümmer-Otto und Schuten-Ede ein geschäftlich außerordentlich erfolgreiches Trio. Jula verbringt ihre Tage wie Hans Maskottchen auf dem "Platz", putzt Auto-Kennzeichen und lernt außer Buchstaben und Zahlen dabei von ihm, was es über Menschen und Autos zu wissen gibt. Zahlen werden zu einem Bindeglied mit tragischer Bedeutung zwischen Onkel und Nichte. "Bummeln mit Onkel Hans war Heimatkunde ohne Schule", wird Jula als Erwachsene rückblickend feststellen. So wie Jula ihre Umwelt mit den Augen in Tischhöhe wahrnimmt, genau so fühlt es sich an, vier Jahre alt zu sein. Aus erwachsener Perspektive von heute ist die Diele von Schulturnhallen-Größe zu einem winzigen Flur geschrumpft.

Bei jedem Gang mit der Großmutter in den Keller begegnet Jula der Krieg. Der ehemalige Luftschutzkeller trägt noch Spuren aus der Zeit der Luftangriffe auf Hamburg. Die Großmutter als großartige Geschichtenerzählerin verpackt die Bombennächte in Abenteuergeschichten. Jula erfährt, dass das merkwürdige Verhältnis zwischen Hans und seiner Mutter u. a. in Erlebnissen in diesem Keller begründet liegt. Mit 8 Jahren wird sie sich allmählich Hans auffallender Ordnungsliebe, seiner Ängste und Zwänge bewusst. Der Onkel fühlt sich beobachtet und verfolgt; kaum verwunderlich bei jemandem, der als Jugendlicher Krieg und Nationalsozialismus erlebt hat. Zwanzig Jahre später, als aus Jula längst wieder Juliana geworden ist, konfrontiert ein Verkaufsangebot für eine Wohnung im Haus ihrer Kindheit Juliana mit ihrer Nachkriegskindheit.

Jula balanciert elegant zwischen mehreren Welten, eine für Zeiten des Umbruchs, in denen die Erwachsenen mit sich und dem Überleben beschäftigt waren, absolut treffende Wahrnehmung. Ein wichtiges Thema des Buches sind die Versuche der Erwachsenen, Kinder vor vermeintlichen Gefahren zu schützen. Was ist wirklich gefährlich, das Bekannte oder das Unbekannte? Sind Erfahrungen Erwachsener in der Gegenwart überhaupt noch anwendbar? Schützt Verschweigen Kinder? Sehr authentisch wird dieser Konflikt deutlich im auf der Straße aufgeschnappten Lied- und Versgut jener Zeit, das Peter Rühmkorf später "das Volksvermögen" nennen wird.

Monika Helds großartiger, berührender Roman wirkt zunächst tragikomisch durch die Perspektive eines Kindes, das noch nicht einordnen kann, was es von den Erwachsenen aufschnappt. Erzählt wird von der Icherzählerin im Rückblick mit dem Wissen der Gegenwart. Mit Julas allmählicher Annäherung an Hans Kriegstrauma entwickelt sich die Kindheitsgeschichte zum Roman einer Generation, die über ihre Erlebnisse nicht sprechen und deshalb keine therapeutische Hilfe finden konnte.