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Volker M.

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Insgesamt 397 Bewertungen
Bewertung vom 19.05.2022
Im wechselnden Licht. Skulpturen des 19. Jahrhunderts in der Friedrichswerderschen Kirche
Im wechselnden Licht. Skulpturen des 19. Jahrhunderts in der Friedrichswerderschen Kirche

Im wechselnden Licht. Skulpturen des 19. Jahrhunderts in der Friedrichswerderschen Kirche


weniger gut

Die Friedrichswerder Kirche in Berlin hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Als eines der zentralen Werke Friedrich Schinkels war sie zunächst als protestantische Kirche in Verwendung. Nach der starken Beschädigung im Zweiten Weltkrieg und der weitgehenden Vernachlässigung der Ruine in der DDR bis weit in die Siebzigerjahre hinein wurde die originalgetreue Rekonstruktion erst nach der Wiedervereinigung vollendet. Heute ist das Gebäude Außenstelle der Alten Nationalgalerie und beherbergt die Skulpturen des 19. Jahrhunderts, wobei die zeitlichen Grenzen vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert reichen.

„Im wechselnden Licht“ beleuchtet zum einen die Bau- und Nutzungsgeschichte, aber auch die Einordnung der ausgestellten Skulpturen in den Kontext der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts. Ferner bemühen sich die Autoren um einen Katalog der Dauerausstellung, sowie um eine Darstellung der Künstlerbiografien. Sämtliche Texte sind sowohl im deutschen Original als auch in englischer Übersetzung verfügbar.

Zunächst ist mir aufgefallen, dass die Auswahl der Exponate teilweise nicht sehr glücklich ist. Zwar mag der Wunsch, Künstlerinnen einen größeren Raum zu geben, Berliner politischen Vorgaben geschuldet zu sein, aber wenn dies nur auf Kosten der Qualität zu erreichen ist, ist der Ansatz kontraproduktiv und verzerrt die Realität. Einer bildhauerischen Dilettantin (im kunsthistorischen Sinn, nicht als Herabsetzung gemeint) wie Kaiserin Viktoria von Preußen mit einem höchstens drittklassigen Werk hier einen Raum zu geben, ist eine Beleidigung für das Auge und auch die routinierte Büste Wilhelms I. einer Angelica Facius zeigt lediglich die Handschrift ihres Lehrers (und Werkstattleiters) Christian Daniel Rauch und nichts Eigenständiges. Das wäre alles kein Problem, gäbe es genug Stellfläche, aber in der Dauerausstellung haben nur 50 Werke Platz.

Die Texte sind auf der einen Seite inhaltlich etwas oberflächlich und kaum einmal referenziert, so als hätten sie ein reines Laienpublikum als Adressaten. Andererseits sind sie in fast schon bürokratischem Deutsch und so hölzern verfasst, als ob ihr Schicksal zwischen Aktendeckeln in einem Archiv wartete. Die Künstlerbiografien sind äußerst knapp gehalten und der Werkkatalog so rudimentär, dass nicht einmal die Maße der Werke genannt werden. Erstaunlicherweise sind zahlreiche Exponate auch nur als Gipskopien ausgestellt.

Insgesamt sind für mich sowohl die Ausstellung als auch der Begleitkatalog qualitativ enttäuschend. „Im wechselnden Licht“ hat zumindest bei mir nicht zur Erleuchtung beigetragen.

Bewertung vom 17.05.2022
Meisterklasse
George, Elizabeth

Meisterklasse


ausgezeichnet

Elizabeth George gehört zu den erfolgreichsten Krimiautoren der Welt. Ihre Stories sind bis ins Detail stimmig, ihre Figuren lebendig und der Spannungsaufbau hält den Leser bis zum Schluss in Atem. Aber wie schafft sie das? „Meisterklasse“ macht jedenfalls kein Geheimnis daraus: Genie ist auch bei Elizabeth George 1 % Inspiration und 99 % Transpiration. Schreiben ist einfach unglaublich viel Arbeit. Der Aufwand, den George in die Recherche steckt, in die verschiedenen Vorarbeiten, die Entwurfsfassungen, die Personensteckbriefe und die Ausarbeitung der Szenen erklärt jedenfalls sehr nachvollziehbar, warum ihre Geschichten so gut funktionieren. Sehr strukturiert und mit zahlreichen Beispielen und Übungsideen geht sie vom Allgemeinen zum Speziellen, vom ersten Gedanken bis zum Lektorat der Endfassung.

Dabei stellt Elizabeth George stets klar, dass dieses Vorgehen für SIE das Richtige ist. Jeder Autor muss letztlich seinen eigenen Weg finden, nur das Ergebnis muss bestimmten Kriterien gehorchen, damit aus einer guten Idee auch ein guter Roman wird. Diese Prinzipien gelten für alle fiktionalen Bücher und man kann sie getrost als die 10 Gebote der Schriftstellerei bezeichnen (obwohl es mehr als 10 Regeln sind, die man beherrschen sollte). Genau vor diesem Hintergrund ist „Meisterklasse“ nicht nur ein Buch, das angehende Autoren mit Gewinn lesen können, sondern jeder, der Krimis mag. Wie oft habe ich mich gefragt: Was stimmt mit dieser Szene nicht? Warum nimmt mich die Story nicht gefangen? Was stört an einer bestimmten Person? Ja, woran macht es sich fest, ob ein Krimi gut ist, oder nicht? Elizabeth Georges anschauliche Erklärungen, kombiniert mit vielen Beispielszenen aus ihrem Krimi „Doch die Sünde ist scharlachrot“, an denen ihre Arbeitsweise sichtbar wird, lassen mich jetzt auch andere Romane mit ganz anderen Augen lesen. Es ist ein bisschen wie in der Musik: Je mehr man über Instrumentierung und Komposition weiß, umso genauer hört man hin und umso mehr Feinheiten entdeckt man. Genießen kann man Musik selbstverständlich auch ohne diese Kenntnisse, aber zu wissen, wie es „funktioniert“ macht einen ganz eigenen Reiz aus. Und steigert die Bewunderung für die, die es meisterhaft beherrschen.

Ich habe „Meisterklasse“ in wenigen Tagen verschlungen, ein Buch, das mir im wahren Sinn die Augen geöffnet hat. Man muss kein Schriftsteller werden wollen, um daraus dauerhaften Nutzen zu ziehen. Genauso, wie man kein Huhn sein muss, um ein faules Ei unter frischen zu erkennen.

Bewertung vom 16.05.2022
Die Veitskapelle in Mühlhausen

Die Veitskapelle in Mühlhausen


ausgezeichnet

Die Veitskapelle in Mühlhausen bei Stuttgart ist ein besonderer Glücksfall, von denen es in Deutschland nicht viele gibt. Hier hat sich eine nahezu vollständige mittelalterliche Kirchenausstattung erhalten, ohne barocke Überformung, ohne allzu zerstörerische „Restaurierungen“ und in einem wunderbar geschlossenen Ensemble. Grund dafür ist, wie so oft, Armut. Es klingt aus heutiger Sicht für den Raum Stuttgart vielleicht etwas deplatziert, aber bis ins 19. Jahrhundert fehlte der Gemeinde Mühlhausen schlicht das Geld für eine Modernisierung und mit dem Beginn der Mittelalterbegeisterung ab 1840 wurde die Bedeutung der Veitskapelle schnell erkannt. Um 1880 gab es eine erste Restaurierung, nach dem Zweiten Weltkrieg, den die Veitskapelle beschädigt, aber weitgehend erhalten überstand, gab es eine zweite Restaurierungsphase, die bis heute anhält. Nicht alle Maßnahmen waren aus heutiger Sicht sachgerecht. Die umfassende, exzellent dokumentierte Kampagne von 2007 bis 2013 erfasste detailliert den Status quo und beseitigte zahlreiche Primär- und Sekundärschäden. Die Arbeiten wurden eng vom Landesdenkmalamt begleitet und nun mit einiger Verspätung in diesem Band publiziert.

Die Sorgfalt, die bei allen Überlegungen waltete, lässt sich aus der technischen Dokumentation ablesen. Ein einleitendes Kapitel beleuchtet zusätzlich die Baugeschichte, sowie in der Folge den Stand der kunstgeschichtlichen Diskussion. Insbesondere die Frage des böhmischen Einflusses auf die Wandmalereien ist mit letzter Sicherheit noch nicht geklärt. Das ikonografische Bildprogramm wird analysiert, fehlende Elemente werden postuliert und zur Datierung bzw. Abfolge der Malerei Methoden der vergleichenden Kunstgeschichte sowie der Kunsttechnologie herangezogen.

Die folgenden Kapitel „durchleuchten“ den Baukörper von außen nach innen: Die Sicherung der Dachkonstruktion (noch aus dem Baujahr 1382!), der Ersatz des schadhaften Außenputzes aus den Sechzigerjahren, die Restaurierung der steinernen Architekturteile, sowie die Sicherung der originalen Wandmalereien werden mit zahlreichen Aufnahmen, Übersichtsplänen und fachlich detaillierten Beschreibungen erfasst. Typisch für heutige Maßnahmen ist der interdisziplinäre Ansatz, bei dem nicht nur hochspezialisierte Handwerker, sondern auch Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligt sind. Interessant sind in dem Zusammenhang die Untersuchungen zur angewandten Maltechnik, die z. B. in Schablonen einsetzte, sowie die chemische Analyse der Malgründe, die teilweise noch völlig unberührt sind und daher selten authentische Einblicke ermöglichen, und außerdem die Abgrenzung von Original und späterer Restaurierung erlauben. Bei der Innenausstattung wird ein Fokus auf die Arbeiten an der Altarretabel gesetzt. Im Anhang finden sich Fotos sämtlicher bei den Arbeiten identifizierter Steinmetzzeichen, sowie Transkriptionen der historischen Bauakten aus dem 19. Jahrhundert.

Es hat zwar fast 10 Jahre gedauert, bis alle beteiligten Autoren ihre Beiträge abgeliefert haben, aber die Dokumentation erfüllt dafür auch alle Anforderungen, die man heutzutage an stellt. Die Fehler der Vergangenheit, als Restaurierungsmaßnahmen höchstens mit einer Rechnung im Kirchenarchiv festgehalten wurden, werden sich zum Glück nicht wiederholen und sind zum Teil durch den retrospektiven Ansatz der Untersuchungen sogar korrigiert worden.

Bewertung vom 15.05.2022
Alles, was Sie über Trading wissen müssen
Elder, Alexander

Alles, was Sie über Trading wissen müssen


ausgezeichnet

"Alles, was Sie über Trading wissen müssen" richtet sich in erster Linie an kurzfristige Händler (= Trader), die mit Kauf und Verkauf von Finanzinstrumenten wie Wertpapieren, Optionen und Rohstoffen Geld verdienen wollen. Aber auch langfristigen Investoren vermittelt Alexander Elder - ehemals Psychiater in New York und jetzt professioneller Trader und Coach - wertvolles Wissen rund um die Themen Psychologie, Taktik, Risikomanagement und Dokumentation.

Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die deutsche Übersetzung des 2014 auf Englisch erschienenen Buches "The New Trading for a Living".

In 11 Kapiteln beschreibt Elder die für einen Trader relevantesten Themen. "Persönliche Psychologie" behandelt z. B. den Personenkult der Börsengurus und deren Auswirkungen auf Anleger. Besonders interessant fand ich die Lektionen für Trader, die eine Verluststrähne haben und nicht wissen, wie sie aus ihr herauskommen. Dabei lehnt er sich an das 12- Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker an und überträgt diese Grundprinzipien auf das Trading ("Die anonymen Verlierer"). Aber auch das Wissen um die "Massenpsychologie" (typische Verhaltensmuster der Anleger, Psychologie von Trends) ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. So sind Charts für ihn Fenster zur Massenpsychologie und analysieren das Verhalten der Anleger. Um diese lesen zu können, geht Elder auf die "Klassische Chartanalyse" (Welche Chartmuster sind objektiv, welche subjektiv, Unterstützung und Widerstand, Trenderkennung) sowie "Computerunterstützte Technische Analyse" (Indikatoren, Oszillatoren, Gleitende Durchschnitte) ein. Sehr gut gefallen haben mir dabei seine ganz konkreten Trading-Regeln, die bei der Umsetzung hilfreich sind.

"Risikomanagement" war für mich das wichtigste und hilfreichste Kapitel, weil die Unfähigkeit mit Verlusten umzugehen, eine der schlimmsten Fallstricke beim Trading ist. Der Mensch neigt grundsätzlich dazu, Gewinne schnell mitzunehmen, hingegen bei Verlust-Trades zu warten, dass sie wieder in die schwarzen Zahlen kommen. Manchmal bis zum Totalverlust. So gibt es für Elder zwei Möglichkeiten, ein Depot schnell zu ruinieren: keine Stopps verwenden sowie Trades eingehen, die für das Depot zu groß sind. Seine 2-und-6-Prozent-Regel, die dies verhindert, ist einfach zu merken und unkompliziert umzusetzen. Auch wenn ich Stopps sehr kritisch sehe, hat mich Elder zumindest zum Nachdenken angeregt.

In "Gute Aufzeichnungen" beschreibt Elder, warum unbedingt ein Trading-Tagebuch geführt werden sollte. Es dient als erweitertes Gedächtnis und ermöglichen eine Erfolgskontrolle mit Nachjustierung des eigenen Regelsystems. Hierzu stellt der Autor einige Checklisten und Formulare vor, die als Grundlage für die eigene Dokumentation dienen können.

Elders Buch sticht unter allen Trading-Ratgebern vor allem durch seine praktischen Umsetzungsempfehlungen und neue, teils ungewöhnliche Sichtweisen hervor. Es handelt sich um ein anspruchsvolles Arbeitsbuch, das Zeit, Aufwand und Konzentration abverlangt. Über 350 Seiten ist das eine echte Aufgabe - aber es lohnt sich!

Bewertung vom 12.05.2022
Japan für Anfänger
Iyer, Pico

Japan für Anfänger


ausgezeichnet

Pico Iyer hat eine ungewöhnliche Definition für „Anfänger“. Seit über 30 Jahren lebt er in Japan und dennoch bezeichnet er sich selber als Anfänger, wenn es darum geht, Japan und die Japaner zu verstehen. Das liegt ganz sicher daran, dass er immer noch so gut wie kein Japanisch spricht, denn Integration funktioniert nun einmal in erster Linie über Sprache, aber selbst wenn er Japanisch perfekt beherrschte, würde er als Ausländer niemals als gleichwertig akzeptiert. Man sollte Toleranz nie mit Akzeptanz verwechseln.

Ich bin vor Corona selber oft im Land gewesen und ein ausgewiesener Japan-Fan. Das Reisen dort ist wunderbar, aber man lernt leider nur die Oberfläche kennen, denn die Japaner sind Meister darin, Masken zu tragen und eine den Umständen angepasste Rolle zu spielen. Pico Iyer hat das in seinem kleinen, aber sehr pointiert geschriebenen Buch wunderbar erfasst.

„Meine Kollegin verbringt jeden Tag zwei Stunden damit, sich zu schminken“, sagt meine Frau auf dem Weg zum Kaufhaus, in dem sie arbeitet.
„Damit alle sie ansehen?“
„Nein. Damit niemand sie ansieht.“

Iyers Kapitel sind aus zahllosen solcher Miniaturszenen zusammengesetzt, wie ein Puzzle, dem immer mehr Teile hinzugefügt werden, bis sich ein Bild ergibt. Anekdoten, kluge Beobachtungen, auch von anderen Schriftstellern und Reisenden aufgeschnappte, und immer wieder selbst Erlebtes. Dadurch, dass Pico Iyer, der mit einer Japanerin verheiratet ist, mitten in der Gesellschaft lebt, gelingen ihm Aufnahmen der japanischen Seele, wie sie nur wenigen möglich sind. Er ist ein brillanter Autor, der kein Wort verschwendet, um einen Gedanken auf den Punkt zu bringen. Präzise, geistreich und gleichzeitig äußerst unterhaltsam, wie ich noch kein Buch über Japan in den Händen gehalten habe.

Pico Iyer ist kein Anfänger, aber er verzweifelt immer noch an den gesellschaftlichen Zwängen, den Regeln, denen die Japaner selbst dann noch in blindem Kadavergehorsam folgen, wenn sie erkennbar in den Untergang (oder zu keiner Lösung) führen, und er verzweifelt an der Undurchschaubarkeit der Rolle, die ein Gegenüber gerade spielt. Natürlich hat er sie verstanden und damit den Mythos Lügen gestraft, dass man „das nur verstehen kann, wenn man Japaner ist“. Aber er ist immer der außenstehende Beobachter, der Fremde, der Chronist, und nie Teil der japanischen Gemeinschaft. Das kann er auch nicht werden, so sehr er sich auch bemüht. Die koreanischen Kriegsgefangenen, die nach dem Weltkrieg in Japan blieben und nicht nach (Nord)Korea zurück wollten, besitzen selbst in der dritten Generation noch nicht die japanische Staatsbürgerschaft und Halbjapaner haben es an japanischen Schulen besonders schwer. Pico Iyer beleuchtet beide Seiten dieser Medaille mit Zuneigung und ganz ohne Bitterkeit, denn ihm ist natürlich auch bewusst, dass seine äußerst mangelhaften Sprachkenntnisse im täglichen Miteinander vieles erschweren. Seine Beobachtungen schildert er respektvoll mit einem Augenzwinkern, aber er schweigt auch nicht über die Schattenseiten des unreflektierten Kadavergehorsams, der Japaner zu gewissenlosen Soldaten machen kann. Das Konzept der „Schuld“ ist in Japan unbekannt.

„Japan für Anfänger“ wird jeder Anfänger zweifellos mit großem Gewinn lesen, aber wer sich mit Land und Leuten schon tiefergehend beschäftigt hat, der begreift erst richtig, wie brillant dieses Buch geschrieben ist. Möglicherweise das beste über Japan seit Lafcadio Hearn.

Bewertung vom 06.05.2022
The Way it was. Road Trips USA
Hoepker, Thomas

The Way it was. Road Trips USA


ausgezeichnet

Thomas Hoepker gehört zu den großen Reportagefotografen der letzten 50 Jahre. Seit 1989 ist er Mitglied der Agentur Magnum Photos, lebt seit den Siebzigern in New York und sein journalistisches Thema waren die USA in ihrer ganzen Vielfalt. Es hat ihn nie losgelassen und im Jahr 2020, da war er 84, begab er sich mit seiner Partnerin Christine Kruchen auf eine monatelange Reise im Wohnmobil, von der Ostküste bis nach Kalifornien, auf der Suche nach ... sich selbst? Thomas Hoepker leidet an Demenz, und wenn er auf die alten Fotos blickt, die er 1963 für die Illustrierte „Kristall“ in den USA schoss, dann ist es kein Blick des Erinnerns, sondern in seinen Augen steht die Freude über ein künstlerisch gelungenes Bild.

„The Way it was – Road Trips USA“ ist sein Vermächtnis. Der Band stellt den neuen Aufnahmen von 2020 (in Farbe) die USA aus dem Jahr 1963 (in s/w) gegenüber und wäre die Farbe nicht, man könnte manches Foto der Gegenwart auch in der Vergangenheit verorten. Die weiten, einsamen Landschaften, die vom Leben gezeichneten Gesichter der Menschen und vor allem das immer noch untrügliche Gespür für ein gutes Bild, das in einem winzigen Augenblick Schicksale, Stimmungen und Botschaften einfängt. Natürlich war Hoepker in den Sechzigern näher dran. Näher am Leben und näher an den Menschen, alleine schon, weil Corona sie im Jahr 2020 auf Distanz hält. Alles war damals für ihn neu und faszinierend und trotz der schwarz-weißen Aufnahmen auch bunt. Er bewegte sich vor allem in der sozialen Schicht der Ausgestoßenen und Abgehängten und sie dominieren die Doppelseiten, die wie in einem Familienalbum mit einem Dutzend Fotos „tapeziert“ sind. Keinesfalls willkürlich tapeziert, sondern sorgfältig komponierte, durch Gesten, Grautönung oder Inhalt miteinander verknüpfte Motive; ein Kaleidoskop der harten, körperlichen Arbeit, des Sich-Durchboxens, des Glaubens an und der Hoffnung auf ein besseres Leben, aber auch der Resignation und Verzweiflung. Dazu im Gegensatz stehen die Bilder des Konsums, von Alltag bis Luxus, der sich in den USA schon in den Sechzigern erkennbar von dem in Deutschland unterschied.

Auffällig ist, dass Hoepker direkte soziale Konflikte und den culture clash nicht dokumentiert. Viele seiner Fotos entstanden in den schwarzen Communities, deutlich weniger in den Vierteln der weißen Unterschicht, aber es gibt kaum Fotos, wo sich diese beiden Welten berühren, von einem Kontakt zwischen „oben“ und „unten“ ganz zu schweigen. Darin liegt vielleicht auch eine Erklärung, warum sich (nicht nur in den USA) die Fronten zwischen den Klassen immer weiter verhärtet haben. Heute ist die USA gespalten wie nie, der Keim dafür wurde aber viel früher gelegt und er ist in Hoepkers Bildern ablesbar, wenn auch nur versteckt.

Die Bilder haben keine Legende, keine Beschreibung, keine genaue Ortsangabe. Zu Beginn eines Reiseabschnitts befindet sich ein grober Kartenausschnitt fast von der Größe Deutschlands, der Rest bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen.

„The Way it was – Road Trips USA“ ist das Vermächtnis eines Lebens, das sich dem Ende neigt. Thomas Hoepkers Erinnerungen mögen verlöschen, seine Bilder werden es nicht. 60 Jahre wie ein Tag.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.04.2022
Das Tagebuch von Anne Frank
Frank, Anne

Das Tagebuch von Anne Frank


ausgezeichnet

Das Tagebuch der Anne Frank gehört zu den Schlüsseldokumenten über die Verbrechen des Nationalsozialismus, nicht nur wegen der authentischen Schilderung der Judenverfolgung, sondern vor allem wegen seiner Wirkung nach dem Krieg, im Zuge der Aufarbeitung. Es sind mehrere Fassungen dieses Textes entstanden, die in unterschiedlichem Maße „original“ sind. Anne Frank hat selbst zwei Varianten erstellt. Das ursprüngliche, tagesaktuell geschriebene Tagebuch wurde 1944 von Anne für eine spätere Publikation umformuliert. Nach dem Krieg veröffentlichte Annes Vater eine stärker bearbeitete Version, in der vor allem Passagen gekürzt wurden, die das schwierige Verhältnis zur Mutter thematisierten. Erst 1991 erschien eine annähernd vollständige, von Mirjam Pressler ins Deutsche übersetzte Version, die bis heute die maßgebliche Lesefassung ist und die auch für die vorliegende Ausgabe verwendet wurde.

Zum Inhalt muss man nun wirklich nichts mehr sagen, denn dieser gehört aus meiner Sicht zum Allgemeingut einer soliden Bildung. Sinnvoller ist es daher, die Ausstattung der zum 75. Jubiläum erschienenen Sonderausgabe näher zu beschreiben:
Der Einband faksimiliert den karierten Stoffbezug des ersten Originaltagebuchs, das Anne mit 13 Jahren geschenkt bekam. Der Buchblock ist in Klebebindung geleimt, es gibt kein Lesebändchen. Über die Papierqualität wird keine Aussage gemacht, aber die Bücher aus dem S. Fischer-Verlag sind üblicherweise säurefrei.

Die Sonderausgabe enthält einige Fotos aus Annes familiärer Kindheit, aus dem Versteck im Hinterhaus und einigen der Protagonisten, sowie einer faksimilierten Seite aus dem Tagebuch. Im Anhang befinden sich Kurzbiografien von Anne und ihrer Familie, sowie ein Essay zum zeitgeschichtlichen Hintergrund, der grundlegende Informationen vermittelt.

Für eine echte „Jubiläumsausgabe“ ist das Buch vielleicht ein wenig spartanisch, aber angesichts des schlimmsten Kriegs in Europa seit 1945 und den damit einhergehenden Einschränkungen ist es vielleicht auch eine greifbare Erinnerung daran, dass menschenverachtende Diktaturen unsere freie Gesellschaft immer wieder bedrohen werden. Die Parallelen von Putins Russland zum Nationalsozialismus sind leider nur zu offensichtlich.

Bewertung vom 29.04.2022
Die Geburt der Mode
Rublack, Ulinka

Die Geburt der Mode


ausgezeichnet

Ziemlich zu Beginn ihres Buches macht Ulinka Rublack eine interessante Beobachtung. Auf die Frage, wann das Zeitalter der Mode begann, antwortet sie: Mit der Erfindung des Knopfes. In der Tat wurden bis dahin lediglich Stoffe um den Körper drapiert, was den modischen Gestaltungsmöglichkeiten enge Grenzen setzte, die sich darum meist auf das Stoffdekor beschränkten. Erst der Knopf ermöglichte komplexe Strukturen, die sich schnell ändernden Geschmäckern (= Moden) anpassen konnten. Ausgeprägter Individualismus kennzeichnet die kulturelle Revolution der Renaissance, was Ulinka Rublack zum Anlass nimmt, die Entwicklungen anhand der Mode und ihrer öffentlichen und privaten Wahrnehmung nachzuzeichnen. Die Mode ist nicht der Zündfunken der Renaissance, aber ihr Spiegel.

In Italien beginnt die Renaissance (der Konvention nach) im 14. Jahrhundert, in Mitteleuropa wird sie üblicherweise an das Ende des 15. Jahrhunderts gesetzt, was auch Rublack unausgesprochen voraussetzt. Am Anfang ihrer Betrachtung steht ein außergewöhnliches Zeitdokument, das „Kleiderbüchlein“ des Matthäus Schwarz, dem Hauptbuchhalter der Fugger in Augsburg. Im Abstand von etwa einem Jahr ließ er sich jeweils in unterschiedlicher, sehr modischer Kleidung portraitieren. Dieses Manuskript erlaubt heute einen faszinierenden Blick nicht nur auf die modischen Entwicklungen zwischen 1520 und 1560, sondern auch auf Schwarz‘ Selbstbild. Die Mode entwickelt sich stets im Spannungsfeld von Gesellschaft, Ökonomie, Recht und (Textil)Technologie. Sie ist Spiegel nationaler Identität, geschlechtsspezifischer Konventionen und sie kaskadiert üblicherweise durch die gesellschaftlichen Hierarchien von oben nach unten. Mit der Entstehung des Bürgertums verlagert sich dieser Fokus ein wenig, das Prinzip bleibt aber bestehen.

Auch wenn Ulinka Rublack in einzelnen Kapiteln internationale Einflüsse behandelt (sogar aus Übersee), so betrachtet sie doch schwerpunktmäßig Mitteleuropa und dort besonders die ökonomischen Machtzentren Augsburg und Nürnberg, alleine schon aus dem Grund, da hier die Quellenlage ausgesprochen reichhaltig ist. Im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindet sich nebenbei bemerkt die weltweit größte erhaltene Kostümsammlung der Renaissance, was möglicherweise auch kein Zufall ist.

Ulinka Rublack schreibt elegant und es gelingt ihr, sehr unterschiedliche Aspekte der Mode anschaulich zu vermitteln, sowie sie im historischen Kontext zu verankern. Von der Reformation bis zum neuen Selbstbewusstsein des (reichen) Bürgertums, von sich wandelnden Geschlechterrollen bis zur Globalisierung, von Kleidungstechnologie bis zu den ersten Stilikonen reicht die Bandbreite und jeder Punkt bietet überraschende Hintergrundinformationen. Die Illustrationen sind sparsam, aber wohl überlegt ausgesucht.

„Die Geburt der Mode“ ist keine Stilkunde, wie der Titel suggerieren könnte, sondern eine Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklungen der Renaissance im Spiegel des Kulturträgers Mode. Gut verständlich geschrieben, akademisch nicht abgehoben, aber dennoch mit einem Anspruch an den Leser. Ein ungewöhnlicher, frischer Blick auf eine Epoche, die schon immer für Überraschungen gut war.

Bewertung vom 28.04.2022
Jerusalem-Transformationen
Mai, Nadine

Jerusalem-Transformationen


sehr gut

Die Brügger Jerusalemkapelle ist nicht nur ein ausgezeichnet erhaltenes, sondern auch ungewöhnlich gut dokumentiertes Beispiel spätmittelalterlicher Pilgerfrömmigkeit. Anselm und Jan Adornes, zwei wohlhabende Brügger Patrizier absolvierten im Jahr 1471 eine Pilgerfahrt nach Jerusalem, von der sie nicht nur (Berührungs)reliquien mitbrachten, sondern auch eine klare Vorstellung der Heiligen Stätten, deren Andenken und „Heiligkeit“ sie durch den Umbau der bereits vorher existierenden Jerusalemkapelle in ihr privates Umfeld holten. Ab 1483 sind umfangreiche Quellen zur Baugeschichte erhalten, die es ermöglichen, Bauabschnitte genau zu datieren und den weitgehend unveränderten Zustand belegen.

„Jerusalem-Transformationen“ betrachtet das außergewöhnliche Bauwerk vor dem Hintergrund der damaligen Rezeption und Intention und bringt es in Verbindung mit anderen Beispielen nachgebauter und nachempfundener Kopien der Heiligen Stätten der Zeit um 1500. Es werden zum einen direkte materielle Vergleiche mit den Originalstätten gezogen, angefangen bei der Raumgeometrie und -gestaltung, bis hin zu den verwendeten Baumaterialien, die nicht selten selber eine Referenz darstellen. Die Übertragung (oder Transformation) der Aura des Ortes, verstärkt durch die Präsenz des Heiligen mithilfe von kostbar inszenierten Jerusalem-Reliquien, ermöglichte dem Gläubigen eine physische Begegnung, ohne selber auf Pilgerreise gehen zu müssen. Die Autorin hat auch noch weitere Beispiele gefunden, wie z. B. die Heilig-Grab-Anlage in Görlitz, deren Positionen der nachgebauten Andachtsstätten tatsächlich genau den Abständen in der Grabeskirche in Jerusalem entsprechen („Ähnlichkeitsreliquien“). Auch in Brügge gibt es viele maßstabsgetreue „Kopien“, bis hin zur Lichtführung von Fensteröffnungen oder abgesenkten Türstöcken, die an das Heilige Grab in der Grabeskirche erinnern. Auch das große Kalvarienberg-Relief enthält zahlreiche Zitate und Referenzen, die die Autorin entschlüsselt.

Der zweite Abschnitt behandelt die Rezeption und Nutzung der Kapelle in der Zeit um 1500. Von der Selbstinszenierung der Stifter bis hin zur Gestaltung der Liturgie und der Einbindung des angeschlossenen Witwenstifts gibt es Aspekte, die für die unterschiedlichen Besucher und Nutzer von Bedeutung waren. Nadine Mai beschreibt dies als „soziale Metapher Jerusalem“, die sich ebenfalls in der Architektur reflektiert.

Der letzte Hauptabschnitt untersucht die Jerusalemrezeption zwischen der abstrakten Gemeinschaft Gottes und der Stadt (Brügge) und ihrer Stadtgemeinschaft als überformtes Abbild Jerusalems. Auch hier gibt es Referenzen in der Jerusalemkapelle selbst zu entdecken, von denen einige jedoch nur noch in historischen Zeichnungen des Innenraums erhalten sind. Nadine Mai bezeichnet die Stadt als „Ereignisraum Jerusalem“, indem sie sakrale und profane Architektur in Beziehung zu den heiligen Orten setzt. Insofern löst sie die bisher von der Forschung als Privatkapelle betrachtete Jerusalemkapelle aus ihrer isolierten Position und verortet sie in einem gesamtstädtischen Kontext, dessen übergeordnete Klammer die eigene städtische Vergangenheit und die Jerusalemtradition sein soll.

Quellenarbeit und ausgewählte Illustrationen sind ausführlich und geben einen umfassenden Eindruck, selbst wenn man die beschriebenen Orte nicht aus eigener Anschauung kennt. Nadine Mai neigt allerdings sehr zu ausufernd repetitiven Passagen, die das Gesamtbild eher verschleiern als erhellen und sie nutzt jede Gelegenheit, einen einfachen Sachverhalt in komplizierte Worte zu fassen. Aus meiner Erfahrung ist das ein Zeichen, dass man entweder darüber hinwegtäuschen möchte, dass die eigene Theorie sehr gewagt ist, oder man ist selbst nicht ganz überzeugt von ihr. Einige von Mais Ansätzen waren für mich anschaulich nachvollziehbar, gut belegt, aber nicht neu (der Kapellenraum als erlebbare Transformation der heiligen Städten), die Übertragung auf die ganze Stadt Brügge und ihre städtische Gesellschaft