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Benutzername: 
Xirxe
Wohnort: 
Hannover
Buchflüsterer: 

Bewertungen

Insgesamt 869 Bewertungen
Bewertung vom 20.07.2016
Der Pavian
Larsson, Anna Karolina

Der Pavian


sehr gut

Amandas ältere Schwester hat sich umgebracht nachdem sie vergewaltigt wurde. Doch Amanda glaubt nicht an diese Selbstmordthese und beginnt, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Ihr Verdacht bestätigt sich und um die Täter dingfest zu machen, wird sie Polizistin. Ohne Rücksicht auf Vorschriften und Moral sucht sie die Wahrheit...
Die Autorin arbeitet selbst als Polizistin und das merkt man diesem Buch an. Es geht nicht nur um Klein- und Großkriminelle, mafiöse Organisationen in allen Sparten, nein, auch die Verwicklung der Polizei in diese Bereiche ist ebenso Thema wie gewisse Probleme innerhalb der Sicherheitsbehörde. Auf den ersten Blick mögen ihre Figuren recht klischeehaft wirken, doch nach und nach entwickeln sie eine Persönlichkeit, die klare Gut-/Böse-Zuweisungen schwer machen. Beispielsweise Adnan, der gutaussehende Araber der Amandas Schwester zu Drogen offenbar verführte und für sein Leben gerne eine große Nummer wäre. Tatsächlich entpuppt er sich jedoch als ein empathischer Mensch mit Familiensinn, der nichts Anderes als ein normales Leben führen möchte (allerdings ohne allzu viel Arbeit ;-)). Oder Hajir, zu Beginn Adnans Kumpel und deutlich risikobereiter als dieser, der seine Lebenseinstellung mit Kind und Frau aber radikal ändert.
Die Geschichte ist durchweg spannend, wäre aber deutlich steigerungsfähig, da sie sich meiner Meinung nach immer wieder etwas verzettelt. Statt einem gibt es mehrere rote Fäden, die zwar zum Schluß alle logisch zusammengeführt werden, aber während der Lektüre stets auf's Neue auseinanderdriften. Der titelgebende Pavian ist zum Beispiel zeitweise durchaus das Hauptthema, verschwindet dann aber wiederholt fast vollständig in der Versenkung.
So bleibt durchaus noch Raum nach oben und wer weiß, vielleicht wird er in der Fortsetzung ja genutzt ;-)

Bewertung vom 16.07.2016
Der Fünfzigjährige, der den Hintern nicht hochbekam, bis ihm ein Tiger auf die Sprünge half / Der Fünfzigjährige-Trilogie Bd.2
Bergstrand, Mikael

Der Fünfzigjährige, der den Hintern nicht hochbekam, bis ihm ein Tiger auf die Sprünge half / Der Fünfzigjährige-Trilogie Bd.2


weniger gut

Was macht gelungene Unterhaltung aus? Dass man sich gut fühlt während des Lesens, neue Erkenntnisse gewonnnen hat? Dass man mitfiebert, sich aufregt, ängstigt oder wer weiß noch was? Es ist wohl eine MIschung aus Allem, manches mehr, manches weniger, die mich für ein Buch einnehmen.Bei diesem Buch gibt es jedoch praktisch nichts, was mich dazu bringen würde, es weiterzuempfehlen bzw. zu verschenken, denn es ist weder lustig noch spannend noch sonst irgendwas. Dabei hätte die Geschichte durchaus Potenzial: Ein durchschnittlicher 50jähriger Westeuropäer (Göran), der Angst vor Allem und Jedem hat (besonders vor Auseinandersetzungen), flieht völlig überstürzt nach Indien zu einem guten Freund, der bald heiraten möchte. Leider ist ihm dieser keine große Hilfe, ganz im Gegenteil, denn er steckt bis über beide Ohren in richtig üblen Schwierigkeiten, gegen die Görans Probleme Kinkerlitzchen sind. Gemeinsam versuchen sie, doch noch Alles ins Lot zu bringen, was sich allerdings als nicht gerade einfach erweist.
Möglichkeiten gäbe es genug für jede Menge Situationskomik aber auch etwas ernsthaftere Themen, wie beispielsweise die Überwindung der eigenen Angst; was ist wichtig im Leben usw. Doch leider schien der Autor darauf keinen Wert zu legen, denn er erzählt die Geschichte so gleichmütig, als ob er sein Tagebuch schriebe und möglichst schnell fertig werden möchte. Selbst Spannung, die eigentlich zwangsläufig sein müsste, kommt kaum auf, da das Meiste völlig vorhersehbar ist. Zudem sind die Charaktere entweder nur oberflächlich beschrieben (wie die Hauptfigur Göran) oder ziemlich klischeehaft - dabei hätte man sooo viel daraus machen können.
Der 1. Band soll ein Bestseller gewesen sein? Ich kann es kaum glauben, denn dieses Buch hier lohnt das Lesen nicht, dafür ist die Auswahl an deutlich besserer Lektüre schlicht zu groß. Zwei Punkte gibt es, weil immerhin die Sprache ok ist und die Geschichte grundsätzlich ganz unterhaltsam wäre, wenn, ja wenn... siehe oben.

Bewertung vom 16.07.2016
Endgültig / Jenny Aaron Bd.1
Pflüger, Andreas

Endgültig / Jenny Aaron Bd.1


sehr gut

Nein, dies ist kein Buch über das Leben des bösen Rappers aus Berlin, sondern ein Krimi um zwei Menschen, die nach der Philosophie des Bushidō leben. Einer davon ist Jenny Aaron, ehemalige Mitarbeiterin einer geheimen Eliteeinheit der Polizei, seit einem Einsatz blind und nun in Diensten des BKA als Vernehmungsspezialistin. Fünf Jahre nach diesem Einsatz wird sie von ihren früheren Kollegen angefordert, weil ein Mörder, für dessen Verurteilung sie verantwortlich ist, im Gefängnis eine Psychologin getötet hat und nur mit ihr reden möchte. Sie folgt dieser Anforderung und schnell wird ihr klar, dass dies nur der Auftakt ist zu einem Kampf um Leben und Tod - und der Lösung der wichtigsten Frage in ihrem Leben.
So, das wäre nun in Kürze der wichtigste Handlungsstrang - allerdings ist dies nur einer von vielen. Denn so ganz nebenbei werden noch die Vergangenheiten verschiedener Kollegen wie auch der Bösewichte erzählt ebenso wie deren aktuelle Befindlichkeiten. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch ganz klar bei Jenny Aaron und zwar in einer Art und Weise, die das Buch anfangs etwas gewöhnungsbedürftig wirken lassen. Alles ist im Präsens und die Empfindungen und Gedanken Jennys dominieren häufig das Geschehen, die als Blinde über noch perfekter ausgebildete Sinne verfügt, wie sie sie bereits als Sehende hatte. So liest man ihre Gedanken und hat doch häufig kaum eine Ahnung, was denn eigentlich gerade los ist - zeitweise stolperte ich fast ein bisschen blind in der Geschichte herum. Dazu kommen jede Menge Sprünge in die Vergangenheit und zurück, bei denen mir zu Beginn nicht immer ganz klar war, von wem nun die Rede ist. Doch wenn man mit Aufmerksamkeit liest, klärt sich Alles recht schnell und es bleibt ein überaus spannender, recht verzwickter und sehr intensiver Thriller, der die zwei Tage (in diesem Zeitraum spielt sich die Geschichte ab) wie eine Ewigkeit erscheinen lassen.
Was mich gestört hat, sind die Eigenschaften der Hauptpersonen Aaron, Pavlik und des Bösewichts. Ein Einbeiniger, eine Blinde und ein immerhin nicht behinderter 50jähriger weisen Fähigkeiten auf, die jeden Actionfilm zum Fantasyreißer ummodeln würden. Da werden Schläge eingesteckt, die jeden Normalsterblichen in kürzester Zeit unter die Erde bringen würden; treffsichere Schüsse werden aus Distanzen abgefeuert, bei denen man das Ziel nur ahnen kann; Intuition, Empathie und andere Fähigkeiten sind derart ausgeprägt, dass es an Hellseherei grenzt. Alles ein bisschen viel - zuviel wie ich finde. Etwas weniger dick aufgetragen und ich hätte vielleicht eine neue Lieblingsheldin. So aber bleibt es bei einem guten Thriller.

Bewertung vom 16.07.2016
Altes Land
Hansen, Dörte

Altes Land


ausgezeichnet

Hach, so muss ein Wohlfühlbuch sein! Eine grundsätzlich humorvolle Grundstimmung, die sich von dunkel gestimmten Protagonisten nicht vertreiben lässt (höchstens ganz kurz ;-)); Figuren, in denen man sich auch in den schlechten Eigenschaften wiedererkennt - doch nie so sehr, dass es zuviel wäre; eine Beschreibung der Realität, aber ohne in Klischees zu verfallen; Gefühle ohne Kitsch, schöne wie schmerzhafte. Und nicht zuletzt eine Geschichte die zeigt, wie sehr Menschen durch ihre Vergangenheit geprägt werden, im Guten wie im Schlechten. Dass das Alles dazu noch in einer wunderbaren, exakten und bilderreichen Sprache geschildert wird, macht das Lesen letzlich zu einem puren Vergnügen.
Obwohl es so leicht fällt, sich bei dieser Lektüre wohl zu fühlen, ist das Thema alles andere als seicht: Flüchtlinge - wenn auch in einem anderen Zusammenhang, als der erste Gedanke wahrscheinlich vermuten lässt. Eine junge Mutter verlässt den Vater ihres Kindes, der eine neue Liebe gefunden hat, und zieht zu ihrer eigenbrötlerischen Tante ins Alte Land, wo diese seit Jahre alleine lebt. Beiden ist nicht nach der Gesellschaft der jeweils Anderen zumute, aber die Eine weiß nicht wohin, die Andere kann aus eigener Erfahrung nur zu gut nachempfinden, wie das ist - und hilft. Nach und nach werden die Geschichten der beiden Frauen und ihrer Familie erzählt wie auch die der Nachbarschaft, zu denen nicht nur Bauern gehören, sondern auch zugezogene Städter, (Luxus-)Flüchtlinge auch sie. Vergangenes, das bis in die Gegenwart wirkt, wird wieder hervorgeholt und so manche Widersprüchlichkeiten des Lebens voller Vergnügen beschrieben wie in dem nachfolgenden Beispiel:
"Carsten wuchsen all die Widersprüche in seinem Leben manchmal ziemlich über den Kopf. Vollholz und Fertigparkett, mittags Kohlrouladen und abends Basenfasten, Urtes harter Futon und Herthas lenorweiche Biberbettwäsche, der Terror mit dem Alten und das schöne, kalte Astra, Schulter an Schulter nach Feierabend auf der Bank vor der Werkstatt, wenn es dann wieder gut lief. Pentatonische Konzerte in der Aula von Urtes Rudolf-Steiner-Schule und Puzzle-Abende mit seinen Eltern, Ravensburger, 5000 Teile, das große Korallenriff. Zu dritt hatten sie das ruckzuck fertig."
Alles in allem ein Buch, wie man es sich wünscht: Unterhaltung mit Anspruch!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.04.2016
Eins im Andern
Schwitter, Monique

Eins im Andern


gut

Zufällig erfährt die namenlose Protagonistin (oder habe ich ihren Namen überlesen?), dass die erste Liebe ihres Lebens sich bereits vor Jahren umgebracht hat. Erschüttert versinkt sie in Erinnerungen und versucht zu begreifen, weshalb es sie so mitnimmt. Sie beginnt ihre Gedanken an die Vergangenheit aufzuschreiben und statt sich chronologisch an ihr bisheriges Leben zu erinnern, hangelt sie sich von einer Liebe zur nächsten, gerade so, als ob das Dazwischen nicht zählte. Doch immer mehr drängt sich das reale Leben in den Vordergrund: Es tauchen Probleme auf, die existentiell werden und ihr immer weniger Zeit lassen, sich um die Vergangenheit zu kümmern.
Eine Liebesbiographie an zwölf Männern wird hier abgehandelt, schreibt der Klappentext, die mehr als nur die Namen mit den Aposteln gemein haben. Um ehrlich zu sein: Als zugegebenermaßen überhaupt nicht bibelfeste Westeuropäerin wäre mir das nicht einmal aufgefallen - dass alle Zwölf die Namen der Apostel tragen. Ganz zu schweigen davon, was sie darüber hinaus mit diesen gemeinsam haben könnten. Dafür hatte ich den Eindruck, dass ihre Lieben auch die drei Arten darstellen, wie sie seit der Antike verwendet werden: Eros - die sinnlich-erotische, Philia - die Freundesliebe und Agape - die Nächstenliebe. Und es ist egal, um welche Form der Liebe es sich handelt. Jede hilft auf ihre Weise der Protagonistin aus ihrer Krise bzw. unterstützt sie. Denn ohne Liebe ist alles nichts.
Einerseits lässt sich das Buch leicht lesen, andererseits bringen die häufigen Zeit- und Ortswechsel gehörig Verwirrung in die Lektüre. Und so ganz klar wurde mir der Sinn der Liebesgeschichten doch nicht, dafür waren sie einfach nicht eindringlich genug. So bleibt es bei einer Lektüre, die ganz ok war. Mehr aber auch nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.04.2016
Uebel unterwegs
Uebel, Tina

Uebel unterwegs


ausgezeichnet

Hach, was habe ich diese Lektüre genossen! Mit Tina Uebel den Balkan und Zentralasien zu durchqueren, um ans östliche Ende von China zu gelangen, ist nicht nur unterhaltsam und lehrreich, sondern weckt zudem jede Menge Erinnerungen an eigene Reisen (mir ging das so ;-)).
Sich als alleinreisende Frau in Ländern fortzubewegen in denen meist die Männer das Sagen haben, hat den Vorteil, dass man wirklich mit Menschen jeden Alters und Geschlechts in Kontakt kommt, gerade auch mit Frauen. Und Tina Uebel nutzt dies hemmungslos aus und genießt es - sehr zur Freude aller Lesenden ;-) Auch beim 127. Mal 'Where are you from?' antwortet sie noch lächelnd und stürzt sich bereitwillig in jede Unterhaltung, auch wenn sie nur mit Händen und Füßen geführt werden kann. Obwohl ihre Aufenthalte meist nur recht kurze Zwischenstopps sind um von einem Zug in den nächsten zu wechseln, vermittelt sie mit ihrem lebendigen Schreibstil und ihrer offenen, zugewandten Art ein überzeugendes Bild von den Menschen und der Kultur des jeweiligen Landes. Wobei es ihr dabei weniger um die Vermittlung exakter historischer und aktueller Daten geht, sondern mehr um die Art und Weise wie die Menschen leben. Dabei zeigt sie sich überaus aufmerksam für die Besonderheiten in den jeweiligen Ländern (beispielsweise die hohen Hinterköpfe der Frauem im Iran oder das Fehlen der Menschen auf den Straßen Turkmenistans ;-)), die sie in ihrer besonderen Art der Übertreibung sehr anschaulich beschreibt.
Tina Uebels Erzählstil war mir durchweg ein Vergnügen. Auch deshalb, weil sie nicht vergisst darauf hinzuweisen, wieviel Glück sie (und natürlich auch wir) hat, in einem Land geboren worden zu sein, mit dessen Pass ihr all diese Erlebnisse so ohne weiteres möglich sind. Dieses Glück ist den Meisten, denen sie unterwegs begegnet ist, nicht gegeben. Sie träumen stattdessen von einer Freiheit, die bei uns häufig nicht mehr wahrgenommen wird, weil sie als selbstverständlich angesehen wird. Dieses Buch erinnert auch daran, wie glücklich wir uns dafür schätzen können - in Freiheit zu leben und zu reisen.

Bewertung vom 19.04.2016
Y
Böttcher, Jan

Y


sehr gut

Vordergründig erzählt dieses Buch von einer Liebe, die daran scheitert, dass das Paar in völlig unterschiedlichen Lebensumständen aufwuchs, auch wenn beide eine gewisse Zeit in Lüneburg gemeinsam zur Schule gingen. Während Jakob in einer gutbürgerlichen Familie groß wurde, kam Arjeta zusammen mit ihrer Familie als Bosnien-Flüchtlinge nach Deutschland. Sie verliebten sich, als sie sich einige Jahre nach dem Abitur zufälligerweise wieder trafen und erst zu diesem Zeitpunkt realisierte Jakob den familiären Hintergrund seiner Freundin, der ihr Leben immer noch in großem Maße bestimmte.
Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sondern kommt teilweise verwirrend wie auch vielschichtig daher. Der Ich-Erzähler in der Gegenwart ist ein Mann in Jakobs Alter, der seinen 14jährigen Sohn Benji mit dem ihm bisher unbekannten Freund Leka auf seinem Balkon vorfindet. Der Junge verschwindet ebenso unbemerkt wie er kam, was Benji ziemlich erschüttert, sodass sein Vater sich auf die Suche nach Leka macht. Dabei findet er den Vater des Jungen, Jakob, der ebenfalls auf der Suche nach seinem Sohn ist. Dieser erzählt ihm von seiner Liebe zu Lekas Mutter Arjeta. Nun wechseln Gegenwart, verschiedene Stufen der Vergangenheit wie auch die Perspektiven. Denn irgendwann fliegt der Ich-Erzähler mit seinem Sohn Lekas Spuren nach, wo sie unter anderem auf Arjeta treffen, die ihm ihre Sicht der Ereignisse schildert.
Merkt man, wie ich mich schwer tue mit einer Art von Zusammenfassung? Denn ausser der Liebesgeschichte von Jakob (der nebenbei ein erfolgreicher Computernerd und Spieleprogrammierer ist und das Leben eher wie ein Spiel betrachtet) und Arjeta kommen die erbärmlichen Verhältnisse im heutigen Bosnien zur Sprache, die Machtlosigkeit der Bevölkerung gegenüber den mafiosen Strukturen, die Perspektivlosigkeit der Jungen, der Krieg der noch lange nicht vergessen sein wird. Dann das Verhältnis von Leka zu seinen Eltern bzw. umgekehrt, denen ihre Arbeit wichtiger ist als ihr Kind, wobei es ihnen nicht unwichtig ist. Das Wohlstandsgefälle zwischen Deutschland und dem Balkan, die bei uns herrschende Saturiertheit - ach, je mehr ich über das Buch nachdenke, desto mehr fällt mir ein.
Und als ob all das nicht schon ausreichen würde, verlangt auch der Sprachstil Jan Böttchers Aufmerksamkeit. Nein nein, es sind keine komplexen Satzgebilde, die einen 'zwingen', dabei zu bleiben. Sondern Bilder für Gefühle und Stimmungen, die der Autor in ungewohnter Weise in Worten zusammenfasst. Ein Beispiel dafür ist der Abend, als Arjeta mit ihrer Familie wieder nach Prishtina zurückkehrt:
"Der erste Abend war eine Aufzählung: Großvater Naim, Großmutter Gladiola, Onkel Xherdan...
Der erste Abend war eine Abstellkammer. Sie warfen alles hinein, was dort für Jahre noch aufbewahrt werden sollte. Die Erzählung von den Lebenden und Toten, von der albanischen Unbeugsamkeit, von den verschwundenen serbischen Henkern, vom befreienden Einmarsch der Amerikaner....
Was der erste Abend auch war: Lammfleisch über dem Feuer, drei Flaschen Raki Rrushi...
Der erste Abend war das Fehlen ihres Onkels Jeton, der in der Schweiz geblieben war. Und der linke Unterschenkel von Arjetas jüngstem Bruder, der fehlte auch."
Ein ungewöhnliches Buch, ein anstrengendes Buch - aber auch ein Buch, das einem scheinbar weit Entferntes plötzlich nahe bringt.

Bewertung vom 15.04.2016
Nach der Empörung
Werner-Lobo, Klaus

Nach der Empörung


ausgezeichnet

Vor einigen Jahren erschien das kleine Büchlein 'Empört Euch!' von Stéphane Hessel, das sofort viel Beifall fand, da es die Unzufriedenheit und den Ärger eines Großteils der Bevölkerung über den Zustand der Gesellschaft in klare Worte fasst: die zunehmende Distanz zwischen Arm und Reich, die Geiz-ist-Geil-Mentalität, die Rücksichtslosigkeit großer Industrieunternehmen gegenüber Mensch und Umwelt, die Dominanz der Wirtschaft in der Politik undundund. Doch Empörung schön und gut: Was (mir) fehlte, waren Hinweise und Ratschläge, was die/der Einzelne konkret unternehmen könnte. Klaus Werner-Lobo schließt diese Lücke mit seinem neuen Werk, soviel sei schon verraten, tadellos.
Vier Teile umfasst das knapp 200 Seiten starke Buch. Im ersten Teil erfolgt eine Bestandsaufnahme der Dinge, die viele Menschen heute umtreiben: Dass Politik immer öfter im Hinterzimmer ohne Öffentlichkeit stattfindet. Dass die Wirtschaft zunehmend Politik betreibt. Dass Gewinne in Unternehmen verbleiben, Verluste aber die Gesellschaft tragen muss. Undsoweiterundsofort, Themen zuhauf wie sich die politisch Interessierten vorstellen können.
Was tun? Dieser zweite Teil, der den größten Umfang des Buches einnimmt, ist erfreulicherweise sehr lebensnah. Klar ist, es gibt kein Patentrezept wie Dinge zu ändern sind, sieht man mal von etwas so Grundlegendem ab wie Informationen beschaffen und deren Verbreitung. Selbst die übelsten Missstände können weiterbestehen, wenn sie nicht bekanntgemacht werden. Doch wie dagegen angehen? So individuell die Menschen und die Anliegen, so individuell sind die möglichen Ansätze, von denen Werner-Lobo eine Menge aufzeigt. Beispielsweise Boykotte, Änderung der Lebensweise und/oder des Konsums, Engagement in NGOs und/oder Gewerkschaften, Kunst, ziviler Ungehorsam und Diverses mehr. Vieles mag Manchen bekannt sein, doch einer der großen Vorteile dieses Abschnittes ist es, auch die möglichen Gefahren dieser Aktivitäten aufzuzeigen und Hintergründe auszuleuchten, beispielsweise zum zivilen Ungehorsam. Reichlich Beispiele sind aufgeführt, die alle durch entsprechende Links oder Literaturverweise im Anhang vertieft werden können.
Ist die repräsentative Demokratie noch zu retten? Wenn sich nichts ändert wohl nicht. Und so schlägt der dritte Teil neue Möglichkeiten bzw. Veränderungen vor, wie aus der mittlerweile bestehenden Oligarchie tatsächlich wieder eine Herrschaft des Volkes werden kann. Dieser Abschnitt ist mit gerade einmal 13 Seiten recht knapp ausgefallen, da hier Politiksysteme als Ganzes beschrieben werden, weniger die Handlungsmöglichkeiten von Einzelnen.
Zuguterletzt gibt es eine Übersicht der momentan wohl aktivsten bzw. erfolgreichsten 'unbekannten' Initiativen, an denen man sich beteiligen kann, sofern man keine eigene Aktion auf den Weg bringen möchte.
'Eine Anleitung zum Selberhandeln' steht im Klappentext mit jeder Menge mutmachender Beispiele. Genau das ist es, für Alle, die sich nicht nur empören, sondern auch handeln wollen.

Bewertung vom 09.04.2016
Die Frauen von La Principal
Llach, Lluis

Die Frauen von La Principal


sehr gut

Wer heutzutage nicht den Erwartungen der Gesellschaft entspricht, hat es meist schwerer als die vielen angepassten MitläuferInnen. Doch um wieviel schwieriger gestaltete sich das Leben erst für Frauen in einer Welt, die nicht nur im Alltag von Machos dominiert wurde, sondern auch in einem beruflichen Umfeld wie dem Weinbau? Und das Alles zudem vor mehr als 100 Jahren? Doch die drei Marias des großen und berühmten Weingutes La Principal wissen sich zu behaupten: die erste gegen ihre Brüder, die ihr ihr Erbe neiden. Die Zweite, ihre Tochter, gegen die Folgen der Revolution und der Missachtung der Wahl ihres Gatten. Und die Dritte schließlich gegen den ganz alltäglichen Chauvinismus in der heutigen Geschäfts- wie auch Wissenschaftswelt. Alle Drei bringen das Weingut zu großem Ruhm und leben IHRE Leben, die in diesem Roman erzählt werden.
Es ist eine, nein, es sind mindestens zweieinhalb (die dritte Maria spielt eher eine Nebenrolle) mitreißende und spannende Geschichten, die mehr als ein ganzes Jahrhundert umfassen. Zudem gibt es noch einen Kriminalfall, der in der ersten Hälfte des Buches eher am Rande mitläuft, bis er gegen Ende dann doch in den Mittelpunkt rückt. Was meiner Meinung nach nicht notwendig gewesen wäre, denn die Geschichte der drei Frauen und damit die des Weingutes ist auch so bereits interessant genug. Für meinen Geschmack hätten zudem die historischen Hintergründe gerne vertieft werden dürfen, aber man kann wohl nicht alles haben ;-)
Bemerkenswert ist die Sprache des Autors (und damit auch der Übersetzerin). Trotz des eigentlich ernsten Themas klingt immer wieder sein Wortwitz hervor, der die Lektüre dadurch richtig amüsant werden lässt. Ein paar Beispiele: 'Sitzmöbel, die das Ungleichgewicht zur Tugend erhoben, waren mit Vorsicht zu genießen...' (S. 10, zum Schaukelstuhl). 'Er konnte sich fröhlich seinen Seitensprüngen widmen, und weil eine Gießkanne zwei Blumentöpfe begoss, hatten diese mehr Ruhe.' (S. 32). 'So sind die Reichen nun mal, erst kümmern sie sich um die Kiste mit dem Geld, dann um die Kiste für die Leiche'. (S.94).
Lediglich das Ende, das beinahe alle Fragen klärte, empfand ich in dieser Form unnötig. Es passte so gar nicht zum bisherigen Erzählstil und wirkte auf mich, als ob unbedingt irgendwie die Antworten angefügt hätten werden müssen. Ich hätte darauf gerne verzichtet, auch wenn es bedeutet hätte, dass ich nie die ganze Wahrheit erfahren würde ;-)