Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Mikka Liest
Wohnort: 
Zwischen den Seiten
Über mich: 
⇢ Ich bin: Ex-Buchhändlerin, Leseratte, seit 2012 Buchbloggerin, vielseitig interessiert und chronisch neugierig. Bevorzugt lese ich das Genre Gegenwartsliteratur, bin aber auch in anderen Genres unterwegs. ⇢ 2020 und 2021: Teil der Jury des Buchpreises "Das Debüt" ⇢ 2022: Offizielle Buchpreisbloggerin des Deutschen Buchpreises

Bewertungen

Insgesamt 735 Bewertungen
Bewertung vom 05.08.2015
Mord am Polarkreis / Anna Magnusson Bd.2
Pettersson, Lars

Mord am Polarkreis / Anna Magnusson Bd.2


gut

Der erste Lappland-Krimi aus der Feder des schwedischen Autors Lars Pettersson, "Einsam und kalt ist der Tod", hatte mich vor ein paar Monaten begeistert und beeindruckt, sowohl durch seine Originalität als auch durch die interessanten Einblicke in die Kultur der Samen, der indigenen Bevölkerung Lapplands.

Auch dieser zweite Band spielt wieder hauptsächlich in Kautokeino, einer Gegend, in der noch viele Samen die traditionelle Rentierzucht betreiben. Diese ist eigentlich nicht mehr rentabel; ohne staatliche Subventionen könnte eine Herde kaum eine Familie ernähen. Daher wird Kautokeino zum Pulverfass eines Konflikts zwischen Tradition und Moderne: Festtagskolt und Facebook, kulturelle Identität und wirtschaftliche Interessen.

Der Autor kennt Land und Leute gut, da er selber die Winter in Kautokeino verbringt - da kommt keine falsche Postkartenidylle auf. Er beschreibt Vorurteile und Borniertheit auf beiden Seiten des Konflikts, und es ist oft unmöglich zu sagen, wer im Recht ist.

Obwohl ich Schauplatz und kulturelle Hintergründe nach wie vor interessant finde, konnte mich "Mord am Polarkreis" jedoch leider nicht so überzeugen und fesseln wie sein Vorgänger.

Ich habe mich sehr, sehr schwer damit getan, mich in dieses Buch einzulesen. Ich hatte oft das Gefühl, dass sich die Geschichte im Kreis dreht. Viele Themen, die im ersten Band schon eine große Rolle spielten, werden hier fast unverändert erneut aufgegriffen, obwohl zwischen "Einsam und kalt ist der Tod" und "Mord am Polarkreis" fast zehn Jahre vergehen.

Der im Klappentext erwähnte Mord wird erst auf Seite 192 entdeckt, und danach ziehen sich die Ermittlungen träge in die Länge - und mutieren zu einer verbissenen Schlammschlacht zwischen den verschiedenen beteiligten Behörden, die sich gegenseitig der Unfähigkeit bezichtigen. Es fiel mir schwer, die Puzzleteilchen zusammen zu setzen, und ich muss zugeben, im Endeffekt hat mich kaum noch interessiert, wer den Staatssekretär denn nun erschossen hat...

Das Buch ist in meinen Augen gefangen zwischen zwei Ansätzen: Als Abhandlung über die Kultur der Samen ist es interessant, bringt aber im Vergleich zum ersten Band nur wenig Neues. Als Krimi verliert es sich zu oft in langatmigen Nebenhandlungen und legt ein schleppendes Tempo vor.

Es hat großartige Momente, die enormes Potential erahnen lassen, aber dieses Potential wollte sich für mich einfach nicht vollständig entfalten.

Die Protagonistin, Anna Magnusson, hat von allen Charakteren wahrscheinlich die größte Entwicklung durchlebt. War sie im letzten Band noch Staatsanwältin in Schweden und ihrer samischen Familie sehr entfremdet, vereint sie nun Tradition und Moderne in einer Person: sie pendelt zwischen Schweden, wo sie Teilzeit als Staatsanwältin arbeitet, und Kautokeino, wo sie auf dem Fjell Rentiere zusammentreibt und schlachtet.

Sie ist härter geworden - energischer, aber auch verschlossener, unzufriedener. Obwohl sie jetzt lebt wie eine "echte" Samin, muss sie sich immer noch gegen Misstrauen und Sticheleien behaupten.

Ich fand es schwierig, in diesem Band mit ihr mitzufühlen, und auch zu den anderen Charakteren fand ich einfach keinen rechten Zugang - sie erschienen mir meist sehr nüchtern und emotionslos beschrieben, ich konnte ihre Gefühle und ihre Motivation nur selten nachempfinden.

Der Schreibstil schwingt sich immer mal wieder zu einer kargen Poesie auf, der ein ganz eigener Zauber innewohnt - aber oft fand ich ihn dann doch zu spröde, fast schon nüchtern und steril.

Fazit:
Vielleicht waren meine Erwartungen nach dem großartigen Vorgänger einfach zu hoch, und "Mord am Polarkreis" ist sicher auch kein schlechtes Buch... Aber es fiel mir sehr schwer, einen Zugang zu ihm zu finden.

Bewertung vom 04.08.2015
The Jewel (eBook, ePUB)
Ewing, Amy

The Jewel (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Die Geschichte ist in meinen Augen etwas ganz Neues, eine zutiefst originelle, märchenhaft-fantasievolle Dystopie mit einer Vielzahl an grandiosen Einfällen. Eine ähnliche Grundidee habe ich noch in keinem anderen Buch gelesen:

Eine große Stadt, die nur von starken hohen Mauern davor bewahrt wird, vom tosenden Ozean verschlungen zu werden. Eine Gesellschaft, die in einer Art striktem Kastensystem funktioniert, wobei jede Kaste in einem eigenen Stadtteil lebt. Regiert wird sie vom dekadenten Adel, der im "Juwel" in unerhörtem Reichtum schwelgt.

Da der Adel allerdings schon seit Jahrhunderten Inzucht betreibt, können die adligen Frauen keine Kinder mehr bekommen, die nicht entstellt, geistig behindert oder von Erbkrankheiten geplagt sind.

Die "Lösung" ist so magisch wie grauenhaft:

Ausgerechnet den Ärmsten der Armen werden gelegentlich Töchter geboren, die eine kostbare, durch Blut und Schmerz erkaufte Begabung haben: sie können Dinge durch reine Willenskraft verändern, und das erlaubt es ihnen, die Nachkommen des Adels gesund auszutragen. Nur fragt niemand danach, ob sie das auch wollen... Schon als Kinder werden sie eingesperrt und als zukünftige Leihmütter trainiert, um dann wie Vieh an adlige Frauen versteigert zu werden.

Violet, die Hauptfigur, ist eine dieser Unglücklichen. Sie war mir von der ersten Seite an sympathisch, denn sie ist sehr tapfer und hat trotz ihres eigenen schweren Schicksals eine mitfühlende, großherzige Natur. Sie wagt es zwar nicht, allzu offen zu rebellieren, denn das könnte ihr Todesurteil sein, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht sie, sich ihre Individualität zu bewahren. Für mich ist sie ein großartiger Charakter mit einnehmenden Stärken, aber auch gravierenden Schwächen, die sie erst so glaubhaft und überzeugend machen.

Auch die anderen Charakter fand ich wunderbar komplex und mehrschichtig geschrieben: auch die scheinbar abgrundtief Bösen haben meist ihre verletzlichen Seiten, wie zum Beispiel Violets Herrin, die sie oft erniedrigt und behandelt wie einen Hund, aber dann doch manchmal Mitgefühl für sie zeigt... (Wobei dennoch kein Zweifel daran besteht, dass ihr Verhalten absolut nicht zu entschuldigen ist!)

Mein Lieblingscharakter ist Lucien, dem Violet das erste Mal begegnet, als er sie für die Auktion schminkt und herrichtet. Da es seine Rolle ist, den adligen Frauen zu dienen, wurde er kastriert, lebt also als Eunuch. Er ist lange der Einzige, der Violet tröstet und unterstützt, und dennoch ist die Frage: warum tut er das? Ist er wirklich wohlwollend, oder verfolgt er seine ganz eigenen Ziele? Gerade diese Zwiespältigkeit machte ihn für mich so interessant!

Natürlich ist es Violet nicht erlaubt, sich zu verlieben. Und natürlich tut sie es trotzdem. Ash ist ein "Begleiter" für junge Adlige. Er schmeichelt ihnen, bringt ihnen das Tanzen bei - und auf Wunsch auch das Küssen (oder mehr). Aber auch er hatte nicht wirklich eine Wahl, ob er seinen Körper verkaufen will.

Die verbotene Liebe zwischen den beiden hat etwas unheimlich Rührendes, wird dabei aber in meinen Augen nie zu kitschig.

Die Geschichte fängt spannend an und wird dann sogar von Kapitel zu Kapitel immer spannender, je mehr man über diese Gesellschaft erfährt und was wirklich hinter dem korrupten politischen System steckt. Auch, wenn sich das Ganze manchmal liest wie ein Märchen, wenn die Autorin in Beschreibungen der prachtvollen Kleider und der wunderschönen Paläste schwelgt - es ist doch auch eine Dystopie, die vor wirklich schrecklichen Dingen nicht zurückschreckt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass in dieser Welt niemand wirklich glücklich und frei ist, nicht einmal die Mächtigen.

Den Schreibstil fand ich einfach wunderbar, bunt und lebendig und voller dichter Atmosphäre. Das war Kopfkino vom Allerfeinsten; ich konnte immer alles sehr detailliert vor mir sehen.

Bewertung vom 29.07.2015
Crazy Games. Der perfekte Tag, der in der Hölle endet
Mous, Mirjam

Crazy Games. Der perfekte Tag, der in der Hölle endet


gut

Die Idee klingt super spannend und originell: der junge Elvis (zu dessen Groll so benannt von seinem Vater, der als Elvis-Imitator arbeitet) glaubt, er hätte einen tollen Tag vor sich und er könnte mit schicker neuer Frisur und trendiger Brille endlich bei seiner Angebeteten landen. Aber dann drückt ein Obdachloser ihm einen Zettel in die Hand, auf dem steht:

DAS IST EIN TEST.
WIR HABEN DEINEN VATER.
ERZÄHL ES NIEMANDEM.
SONST UNTERZEICHNEST DU SEIN TODESURTEIL.

Elvis denkt erst, das wäre ein doofer Scherz von seinen Freunden, muss aber schnell feststellen, dass der Zettel bitterer Ernst ist. Die Entführer lassen ihm eine Reihe von Aufträgen zukommen, mit denen er sich die Freiheit seines Vaters erkaufen soll, und die haben es in sich.

Originell sind die Idee und die Auflösung, warum das alles passiert und wer dahinter steckt, auch tatsächlich! Leider habe ich beides in groben Zügen schon nach etwa der Hälfte erraten, daher konnte mich das Ende, das ansonsten bestimmt der Hammer ist, nicht überraschen... Aber auch davor konnte mich die Spannung einfach nicht so richtig packen.

Die Geschichte verläuft lange nach dem immer gleichen Schema: neuer Auftrag, unerwartete Schwierigkeiten, Elvis muss umdenken, Erfolg oder Misserfolg. Es gibt gefährliche Situationen, eklige Situationen, und oft muss Elvis Straftaten begehen. Noch dazu muss er da ganz alleine durch, denn die Entführer beweisen ihm schnell, dass sie jederzeit überwachen, ob er auch wirklich niemandem davon erzählt.

Das ist alles absolut nicht langweilig, aber hochspannend fand ich es leider auch nicht.

Vielleicht hat mich die Spannung nicht so richtig gepackt, weil ich nicht den Eindruck hatte, dass Elvis wirklich aus eigener Kraft weiterkommt. Er versucht natürlich, klammheimlich rauszukriegen, wer die Entführer sind und wo sie seinen Vater gefangen halten, und er hat auch gute Einfälle, aber wenn er weiterkommt, dann meistens durch einen glücklichen Zufall (bzw das, was er für einen glücklichen Zufall hält), oder manchmal auch durch Hilfe von unerwarteter Seite, wie zum Beispiel durch die taffe Graffiti-Künstlerin Jules.

Elvis ist ein sympathischer Junge, der nicht auf den Kopf gefallen ist und seinen Vater so sehr liebt, dass er alles tun würde, um ihn zu retten. Ich mochte ihn gerne, aber die anderen Charaktere blieben für mich ziemlich blass - was halt daran liegt, dass Elvis von den Entführern sehr isoliert wird. Talisha, das Mädchen, in das er verknallt ist, spielt zum Beispiel nur in wenigen Kapiteln eine aktive Rolle. Da wirkt sie dann zwar sehr mutig und interessant, aber ich konnte sie einfach nicht genug kennen lernen, um wirklich mit ihr warm zu werden!

Die Geschichte wird uns aus der Ich-Perspektive von Elvis erzählt, und der erzählt locker, in jugendlicher Sprache und manchmal mit bösem Humor. Der Schreibstil wirkte dadurch auf mich sehr passend für ein Jugendbuch.

Fazit:
Die Idee für die Geschichte ist sehr originell und klingt total spannend, aber leider konnte mich das Buch einfach nicht packen und ich habe die große Wendung am Schluss zu früh erraten. Für mich ist "Crazy Games" ein Buch, das man gut zwischendurch lesen kann, aber kein Buch, das man unbedingt lesen muss.

Bewertung vom 29.07.2015
Requiem / Amor Trilogie Bd.3
Oliver, Lauren

Requiem / Amor Trilogie Bd.3


weniger gut

Nachdem ich von Band 1 und 2 der Trilogie beeindruckt und begeistert war, war Band 3 für mich leider eine herbe Enttäuschung.

Aber kommen wir trotzdem erstmal zum Positiven: der Schreibstil ist immer noch wunderbar, eindringlich und manchmal fast schon poetisch, mit großartigen Bildern und Metaphern. Einfach ein Traum! Originell ist die Geschichte auch nach wie vor, und man merkt wieder, wie perfekt die Autorin ihre Welt der Zukunft durchdacht hat.

Interessant fand ich auch, dass die Geschichte parallel von Lena und Hana erzählt wird. Hana hat den Eingriff inzwischen hinter sich und ist dem neuen Bürgermeister der Stadt versprochen. Sie lebt im Luxus und hat einen hohen sozialen Status, könnte also sehr zufrieden sein - aber irgendetwas stimmt nicht. Sie hat Gedanken und Gefühle, die sie nach dem Eingriff eigentlich nicht haben dürfte. Außerdem ist ihr Verlobter nicht der charmante, freundliche Mann, der er auf den ersten Blick zu sein scheint. Hanas Teil der Geschichte hat mir deutlich besser gefallen als Lenas Teil der Geschichte!

Warum war ich also enttäuscht?

Zum großen Teil lag das an Lena, die im zweiten Band eine so große persönliche Entwicklung durchlaufen hatte, von einem systemgläubigen, ängstlichen Mädchen zu einer starken jungen Frau, die die Gesellschaft und das System hinterfragt und beginnt, für das, an was sie glaubt, zu kämpfen. In diesem dritten Band macht sie in meinen Augen vieles davon wieder zunichte.

Dadurch, dass Alex sozusagen von den Toten auferstanden ist, ist sie natürlich in einer schwierigen Situation, die ihr viel Schmerz bringt. Und so denkt sie sich immer wieder, dass die Liebe vielleicht doch eine Krankheit ist, dass die Regierung vielleicht doch recht hatte... Wenigstens hält sie dennoch daran fest, dass die Menschen das Recht haben sollten, zu wählen - auch, wenn sie das Falsche wählen. Aber ich fand enttäuschend, dass sie ernsthaft daran denkt, dass die Liebe vielleicht "das Falsche" ist.

Die Dreiecksgeschichte zwischen Alex, Julian und Lena nimmt relativ viel Raum ein. Ich konnte durchaus verstehen, dass Lena jetzt nicht mehr weiß, was sie tun soll und wen von den beiden sie mehr liebt - aber ich fand nicht gut, wie sie damit umgeht. Sie teilt sich mit Julian das Bett, reagiert aber mit wütender Eifersucht, wenn Alex mit einem Mädchen redet. Sie kam mir oft zickig, kindisch, unfair und verbittert vor.

Der Band ist meinem Empfinden nach deutlich düsterer vor als die ersten beiden Bände. Es gibt nur wenig Hoffnung, der Widerstand muss schreckliche Rückschläge und enorme Verluste hinnehmen... Es steht mehr auf dem Spiel denn je, und dennoch konnte mich die Spannung einfach nicht richtig packen und manchmal zog sich die Handlung geradezu. Fliehen, Kämpfen, Hunger und Elend, Fliehen, Kämpfen... Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass die Rebellen selber nicht genau wissen, was sie eigentlich vorhaben, abgesehen davon, die momentane Regierung zu stürzen - aber was kommt danach?

Auch das Ende konnte mich leider nicht überzeugen, denn es kommt sehr abrupt und es bleibt sehr viel offen. Natürlich wäre es nicht realistisch gewesen, wenn es jetzt direkt die schöne neue Welt gibt, wenn alle Probleme sofort gelöst werden... Es soll sicher auch zeigen, dass der Preis der Freiheit eben ist, dass die Dinge manchmal auch unsicher sind, dass es nicht immer die perfekte Lösung gibt.

Aber dennoch hätte ich gerne nach dem Ende noch ein paar Kapitel gehabt, in denen zumindest angedeutet wird: Wie soll es weitergehen mit dieser Welt?

Fazit:
Trotz des wunderbaren Schreibstils war der dritte Band der Amor-Trilogie für mich leider eine große Enttäuschung, denn trotz aller Gefahren und Hindernisse kam für mich keine richtige Spannung auf, und vor allem hatte ich den Eindruck, dass die Protagonistin deutliche Rückschritte in ihrer persönlichen Entwicklung macht. Auch das Ende konnte mich nicht überzeugen.

Bewertung vom 26.07.2015
Pandemonium / Amor Trilogie Bd.2
Oliver, Lauren

Pandemonium / Amor Trilogie Bd.2


ausgezeichnet

Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt:

"Jetzt" ist Lena eine erfahrene Freiheitskämpferin, die unter falschem Namen in New York eingeschleust wurde, um dort zur Schule zu gehen und die aggressive Pro-Heilmittel-Organisation VDFA ("Verein für ein deliriafreies Amerika") zu unterwandern. Bei einer Großveranstaltung bekommt sie vom Widerstand den Auftrag, Julian Fineman besonders im Auge zu behalten, den Sohn eines Anführers der VDFA - und das ist das Dominosteinchen, das eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, an deren Ende sich Lena fragen muss, wer hier eigentlich Freund und wer Feind ist.

"Damals" ist Lena gerade erst entkommen. Halb wahnsinnig vor Angst und Trauer rennt sie, bis sie zusammenbricht, und wird von ein paar "Invaliden" gefunden, die sich im Wald eine kleine Familie aufgebaut haben. Sie ist sich erst nicht sicher, ob sie ohne Alex überhaupt weiterleben will, aber irgendwann muss sie sich entscheiden, ob sie kämpfen oder aufgeben will.

Diesen Band fand ich fast noch spannender als den ersten! Das Tempo ist rasant, es passiert immer wieder etwas Neues, Lena muss eine gefährliche Situation nach der anderen überstehen... Die Autorin gönnt Lena und dem Leser keine Atempause! Aber auch die Gefühle kommen nicht zu kurz, denn Lena hat einiges zu bewältigen, was starke Emotionen auslöst - die volle Bandbreite von Trauer bis (nicht notwendigerweise romantischer) Liebe.

Mir hat auch gut gefallen, wie viel Neues man über dieses Amerika der Zukunft erfährt; die Autorin hat eine wirklich komplexe, vielschichtige Welt erschaffen. Vor allem merkt man, dass es nicht einfach nur die "Guten" und die "Bösen" gibt; es gibt viele Faktionen, die alle unterschiedliche Dinge wollen, aus unterschiedlichen Gründen.

Lena ist "jetzt" nicht mehr das naive, angepasste Mädchen aus dem ersten Band. Sie hat viel Schreckliches erlebt, und das hat sie härter, mutiger und entschlossener gemacht. Außerdem hat sich ihr Blickwinkel drastisch verändert: ursprünglich wollte sie ja eigentlich nur fliehen, um mit Alex zusammen sein zu können. Sie fing zwar schon an, die Dinge zu hinterfragen, aber sie war noch nicht so weit, tatsächlich deswegen Widerstand leisten zu wollen, weil das System falsch und ungerecht ist. Das hat sich definitiv geändert!

Durch das ständige Wechseln zwischen "jetzt" und "damals" merkt man als Leser deutlich, wie sehr Lena sich entwickelt hat und an ihren Erlebnissen gewachsen ist. Ich fand diese Entwicklung glaubhaft, und mir war die neue Lena auch wieder sehr sympathisch. Sie ist nicht perfekt, und sie hat viele Facetten: sie kann verletzlich sein, sie kann wütend und hasserfüllt sein, aber sie ist immer authentisch.

Man lernt in diesem Band einige neue Charaktere kennen. Ich fand sie alle hervorragend geschrieben, glaubhaft und lebendig, und besonders Raven und Julian fand ich sehr interessant.

Raven ist die selbsternannte Anführerin der kleinen Gemeinschaft, die Lena aufnimmt. Sie hat gute Ziele, kann aber knallhart und skrupellos sein, um sie zu erreichen. Ich war mich lange nicht sicher, was ich von ihr halten sollte, und ob sie Lena im Endeffekt verraten würde...? Aber gerade das machte sie zu einem so spannenden Charakter.

Julian ist das Aushängeschild der VDFA, die versucht, das Alter für die Prozedur deutlich herunterzusetzen, obwohl das gefährliche Nebenwirkungen haben oder sogar zum Tod führen kann. Er wird von seinem Vater als Propagandamittel eingesetzt. Als Lena und Julian sich kennen lernen, kam mir das ein bisschen vor wie verkehrte Welt: denn Julian glaubt genauso felsenfest an das System, wie Lena das im ersten Band tat, und jetzt ist es Lena, die versucht, ihm die Augen zu öffnen.

Den Schreibstil fand ich wieder großartig: eigen und unverwechselbar, und je nach Szene zutiefst emotional oder knapp und rasant.

Bewertung vom 25.07.2015
Delirium / Amor Trilogie Bd.1
Oliver, Lauren

Delirium / Amor Trilogie Bd.1


ausgezeichnet

Die Grundidee der Geschichte fand ich sehr spannend und originell: In der Zukunft ist Liebe nichts Schönes mehr, nichts Erstrebenswertes - sondern etwas Gefährliches, Verachtenswertes, beinahe schon Ekelhaftes. Das jedenfalls wird jungen Menschen von klein auf immer wieder gepredigt; sie lernen es im Kindergarten, in der Schule, im Elternhaus, überall... Die Liebe ist böse. Die Liebe ist gefährlich. Die Liebe ist heimtückisch. Die Liebe tötet.

Aber es gibt Hoffnung, zwangsverabreicht kurz vor dem achtzehnten Geburtstag: eine Operation, ganz schnell, ganz einfach. Ein kleiner Schnitt im Gehirn hier, ein kleiner Schnitt da, und schon kann man keine Liebe mehr empfinden. Man ist sicher, für alle Zeit. Man muss keine Angst mehr haben.

Nach dem Eingriff bekommt man einen Ehepartner und einen Beruf zugeteilt - sogar die Anzahl der Kinder wird vorgeschrieben, denn da es keine Elternliebe gibt, hätte sonst niemand die Motivation, Kinder zu bekommen.

Die Regierung beherrscht ihre Bürger mit mit totalitärem Terror. Für alles gibt es Regeln, und schon die kleinste Übertretung kann den Tod oder eine lebenslange Haftstrafe bedeuten. Man darf das Wort "Liebe" nicht mal aussprechen, geschweige denn körperliche Zuneigung zeigen, wie Umarmen oder gar Küssen. Alles muss von der Regierung erst genehmigt werden: Filme, Musik, Bücher... Und die Regierung sieht alles, immer und überall.

In dieser Welt ist Erwachsenwerden wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld. Lena, durch deren Augen wir die Geschichte sehen, freut sich richtig auf ihren Eingriff, der alles einfacher und sicherer machen wird. Sie hat ihr halbes Leben in panischer Angst vor der Amor Deliria Nervosa verbracht, die ihr schon die Mutter und die Tante geraubt hat. Das freudige Ereignis ist schon ganz nahe... Doch dann trifft sie den geheimnisvollen Alex und "infiziert" sich.

Auf den ersten Blick wirkt Lena wie ein schwacher Charakter. Sie scheint die Propaganda der Regierung fraglos zu schlucken, und es dauert sehr, sehr lange, bis sie endlich beginnt, die Dinge zu hinterfragen. Bis sie begreift, dass nicht die Liebe das Problem ist, sondern das Verbot der Liebe! Aber das fand ich eigentlich nur realistisch, schließlich hat sie 17 Jahre lang in einer Gesellschaft gelebt, in der die Menschen quasi eine ständige Gehirnwäsche durchlaufen.

Nach und nach kommt Lena aus sich heraus und man merkt, was für eine wache Intelligenz sie eigentlich besitzt, wie aufmerksam und genau sie beobachtet - und wie loyal und mutig sie ist. Immer mehr stellte ich fast, dass sie sogar ein sehr starker Charakter ist, mit dem ich wunderbar mitfühlen und mitleiden konnte.

Alex ist der Junge, in den sich Lena verliebt. Ich möchte noch nicht viel über ihn verraten, aber ich fand ihn einfach wunderbar: er ist liebevoll, geduldig, intelligent, verschlingt verbotene Bücher (vor allem Gedichte) und versucht wirklich, Lena zu nichts zu drängen. Die Liebesgeschichte zwischen den beiden ist rührend und zart und wirkt vor dem Hintergrund einer grauen, gefühllosen Welt unendlich kostbar.

Ich fand es sehr gekonnt, wie die Autorin den Unterschied herausarbeitet zwischen den "gefährdeten" Jugendlichen, die noch vor Leben und Leidenschaft sprühen, und den "geheilten" Erwachsenen, die flach, austauschbar und stumpfsinnig wirken.

"Delirium" ist eine Liebesgeschichte, und gleichzeitig eine Geschichte über freien Willen und Selbstbestimmung. Immer wieder taucht die Frage auf, ob die Liebe den Schmerz wert ist, und das ist im Endeffekt auch genau das, was Lena lernen muss: ein Leben, in dem jedes Gefühl abgestumpft ist, bringt vielleicht keinen Schmerz, ist aber auch nicht mehr lebenswert.

Der Schreibstil von Lauren Oliver hat mich sehr beeindruckt. Er ist voller Sätze, die man ein zweites oder ein drittes Mal lesen muss, weil sie so perfekt sind! Sie beschwören in eindrucksvollen, einfallsreichen Bildern Atmosphäre herauf und vermitteln Emotionen, glasklar und fast schon schneidend intensiv.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.