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Buchdoktor
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Deutschland
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Romane, Krimis, Fantasy und Sachbücher zu sozialen und pädagogischen Tehmen interessieren mich.

Bewertungen

Insgesamt 612 Bewertungen
Bewertung vom 04.01.2017
Was meine Eltern von mir lernen können
Jeschke, Mathias

Was meine Eltern von mir lernen können


ausgezeichnet

Das kleine Mädchen hat abgefahrene Eltern. Die Mama trägt einen steilen pinken Haarschopf, grüne Strümpfe und schwarz-weiß-gestreifte Leggings. Der Herr Papa mit deutlicher Plautze stößt weiße Wölkchen aus den Nasenlöchern hervor. Zum Kummer der namenlosen Tochter streiten die Eltern oft lautstark wie die Kesselflicker, um sich danach beleidigt in verschiedene Zimmer zurückzuziehen. Selbst der Hund legt vor Schreck die Ohren an.

Auch Kinder streiten. Hannes beschimpft Marlene, Maida fetzt sich mit Valentina, die namenlose Erzählerin streitet mit Moritz. Im Gegensatz zu den Erwachsenen kennt Moritz jedoch ein Zauberwort - er entschuldigt sich später für sein Verhalten. Die Kinder können sich mit ihrem Kummer immer zu Frau Maiwald flüchten, sich mit ihr aufs rote Sofa kuscheln und mit ihrer Hilfe den Streit aus der Welt schaffen. Schließlich hält die Kleine den Familienkrach zuhause nicht mehr aus und droht: "Ich ziehe zu Frau Maiwald." Zwei sehr betroffene Eltern entschuldigen sich - in letzter Minute - bei ihrer Tochter.

In diesem Buch wird gebrüllt, gestritten, die Zunge herausgestreckt, gekitzelt und gelacht. Der Text transportiert die Emotionen in sehr großen Sprechblasen und in unterschiedlicher Schriftgröße. Je lauter das Geschrei, je größer die Buchstaben. Die Botschaft der Geschichte ist so einfach wie verblüffend: Lauthals streitende Erwachsene machen Kindern Angst; nach einem Streit kann man sich entschuldigen.

Bewertung vom 04.01.2017
Baedeker SMART Reiseführer Portugal

Baedeker SMART Reiseführer Portugal


sehr gut

Der Baedeker Smart Portugal mit innenliegender Spiralbindung ist mit seinem Farbcode sehr übersichtlich und systematisch angelegt. Die Farben an der Innenkante der Buchklappe führen durch schnellen Zugriff am Buchschnitt zu den einzelnen Kapiteln und wiederholen sich auf der Übersichtskarte in der Buchklappe. Eine Reisekarte im Maßstab 1:880 000 (Stand 2015) ist sicher in einer (mitgehefteten) Plastikhülle untergebracht. Der Text ist zum Teil kontrastarm auf farbigem Untergrund gedruckt und deshalb in diesen Abschnitten schlecht zu erkennen.

Nach einem einführenden Magazinteil (u. a. zu Portugal als Seefahrernation, Fado und Azulejos) folgen die einzelnen Regionen: Lissabon und Sintra, der Norden, Zentralportugal, Alentejo, Algarve. Die hier vorgeschlagenen Touren sind für eine Reisedauer von 16 Tagen angelegt. Für Lissabon und Umgebung sind insgesamt 4 Tage vorgesehen, für den Norden 3, für Zentralportugal 4, für den Alentejo 2 und die Algarve 3 Tage. Wenige Stadtrundgänge und Halbtages-Touren werden in einem extra Kapitel zusammengefasst (Stadtrundgang Lissabon, Fahrt ins Douro-Tal, Alentejo, Klippenwanderung Lagos). Die Karten- und Stadtplanausschnitte folgen - zusammengefasst - im Anschluss an dieses Kapitel.

Der smarte kleine Baedeker versammelt die wichtigsten Sehenswürdigkeiten für eine erste Portugal-Reise. Für Lissabon liegt ein eigener Baedeker SMART: Perfekte Tage in der weißen Stadt vor. Als kompakter Reiseführer enthält der kleine Baedeker viele Fotos, Kartenausschnitte und 3D-Darstellungen von Burgen und Klöstern. Die Orientierung im Text wird durch die klare Gliederung der Infos zu Hotels, Restaurants und Sehenswürdigkeiten mithilfe von Symbolen erleichtert.

Bewertung vom 04.01.2017
Baedeker SMART Reiseführer Lissabon

Baedeker SMART Reiseführer Lissabon


ausgezeichnet

Der Baedeker Smart Lissabon mit innenliegender Spiralbindung ist mit seinem Farbcode sehr übersichtlich und systematisch angelegt. Die Farben an der Innenkante der Buchklappe führen durch schnellen Zugriff am Buchschnitt zu den einzelnen Kapiteln, sie wiederholen sich auf dem Stadtplan in der Buchklappe und in der Übersicht zu den Stadtplan-Ausschnitten im Anhang. Ein separater Stadtplan mit zusätzlichen Detailplänen im Maßstab 1:13 000 (Stand 2015) ist sicher in einer (eingehefteten) Plastikhülle untergebracht. Hier wurde mitgedacht, so dass der lose Stadtplan einem nicht entgegenfällt, wenn man den U-Bahn-Plan in der hinteren Umschlagklappe benutzt.

Nach einem einführenden Magazinteil (u. a. zur Nelkenrevolution, Fado, Heinrich dem Seefahrer, dem Erdbeben von 1755, Azulejos, Straßenbahn) folgen fünf Kapitel zu einzelnen Stadtteilen: Das Zentrum und der Norden, mittelalterliches Lissabon (Alfama und Castelo Sao Jorge), die westlichen Hügel, Belem und das Gelände der Expo von 1998, den Parque das Nacoes. Für jeden Stadtteil wird ein strammes Besichtigungsprogramm vorgelegt, um möglichst alle Sehenswürdigkeiten dieses Viertels in einem Urlaubstag unterzubringen. In einer Stadt mit so vielen Museen, Parks und Plätzen kann das natürlich nur ein erster Überblick sein. Die vorgeschlagenen Ausflüge führen nach Sintra, Queluz und Mafra, die separat aufgeführten Stadttouren nach Chiado und das Bairro Alto, in die Alfama und nach Cacilhas.

Der smarte kleine Baedeker versammelt für einen ersten Lissabon-Besuch ein strammes Besichtigungsprogramm. Als kompakter Reiseführer enthält der Stadtführer viele Fotos, Stadtplan-Ausschnitte und 3D-Darstellungen. Den Magazinteil finde ich sehr gelungen; er weckt sofort Lust auf einen Städtetrip. In einem Stadtführer ist die Verbindung von Karte, Kartenausschnitt und Text besonders wichtig, sie ist hier wie in allen Dumont-Reiseführern sehr gut gelungen.

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Bewertung vom 04.01.2017
Rosaleens Fest
Enright, Anne

Rosaleens Fest


ausgezeichnet

Rosaleen Madigan will ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest mit ihren erwachsenen Kindern feiern, danach soll ihr Haus an der irischen Westküste verkauft werden. Anne Enright richtet ihren Blick nacheinander auf alle vier Kinder und umfasst dabei einen Zeitraum von rund 25 Jahren. Eng mit der Familiengeschichte verbunden war in Tochter Hannas Erinnerung die Drogerie des Großvaters mütterlicherseits, die zuletzt von Onkel Bart Considine betrieben wurde. Der Drogist war damals nicht nur Herr über die Arzneimittel für Kühe und Schweine, sondern zugleich die moralische Instanz über Artikel, die ein gläubiger Ire damals nicht besitzen durfte. Die Familie Madigan war in Hannas Kindheit arm. Pat, der Vater, bewirtschaftete den winzigen Bauernhof seiner Eltern, auf dem seine Mutter allein lebte. Eine Entscheidung, die Rosaleen vermutlich nicht recht gewesen sein wird. Pats Elternhaus wirkt aus heutiger Sicht wie ein eifersüchtiges Kind, das gefälligst beachtet werden möchte.

Gemeinsam mit der alternden Mutter ist ihr reparaturbedürftiges Elternhaus auch für die Geschwister Madigan zum Klotz am Bein geworden, um den sich endlich jemand kümmern muss. Im wirtschaftlich erfolgreichen Irland stellen Haus und Grund inzwischen einen beachtlichen Vermögenswert dar, was noch nicht allen Beteiligten klar ist. Selbst wenn das Haus gewinnbringend verkauft würde, muss das auf Gefühlsebene noch lange keine kluge Entscheidung sein.

Das nahende Weihnachtsfest wird die brüchige Fassade der Familie bloßstellen, hinter der sich mühsam gebändigte Konflikte verbergen und Rosaleens schwierige, egozentrische Art. Rosaleen war schon immer chronisch unzufrieden, leicht kränkbar, eine Person auf deren widersprüchliche Signale andere Menschen nur falsch reagieren konnten. Ihre Kinder erinnern sich an sie als theatralisch und lautstark in ihrem Leiden. Vor der feindlichen Welt flüchtete die Mutter lieber ins Bett, als ihre deutlich spürbare Depression ärztlich behandeln zu lassen. Rosaleen kann austeilen, aber nicht einstecken. Doch mit über 70 angewiesen auf die Hilfe ihrer Kinder, kann sich Rosaleen den giftigen Teil ihrer Persönlichkeit nun nicht mehr leisten.

Jedes der erwachsenen Kinder bringt sein vernachlässigtes inneres Kind mit zurück ins Elternhaus. Dan ist Priester geworden und hat Irland bereits als junger Mann verlassen. Nach seiner Zeit in der New Yorker Homosexuellen-Schickeria lebt er inzwischen mit einem festen Partner in Toronto. In Dans widersprüchliches Selbstbild und seine Partnerschaftsprobleme gibt Enright tiefen Einblick.

Auch Emmet hat Irland den Rücken gekehrt, um als Arzt in aller Welt Leben zu retten. Er hat in Afrika und Asien mit Bürokratie und jeglichem Schlendrian gekämpft, so dass er sich keine Illusionen mehr über diese Welt macht. Seine afrikanische Lebensweise kann Emmet nach so langer Zeit nicht mehr ablegen und sichert auch in Irland zuerst seinen Pass unter der Matratze.

Constance nahm als junges Mädchen einen Job in Dublin an. Mit noch nicht einmal 40 ist diejenige, die alle anderen glücklich sehen will, eine erschöpfte und gesundheitlich angeschlagene Mutter dreier Kinder. Aus Hannas Sicht wird liebevoll und detailreich die Kleinstadtatmosphäre der 80er beschrieben, als Mädchen katholisch und ahnungslos zu sein hatten. Die erwachsene Hanna trinkt und ist offensichtlich therapiebedürftig. Um die realen Probleme ihrer Kinder schleicht Mutter Rosaleen in scheinheiliger Weise herum, als hätte sich in ihrem Dorf seit 40 Jahren nichts verändert.

Anne Enright beschreibt die Beziehung zwischen den Madigans präzise und desillusionierend, als hielte sie ihren Figuren selbst den Spiegel vor die Nase. Die Figur der Rosaleen Madigan hat mich spontan an Elizabeth Strouts boshafte Olive Kitteridge erinnert. Auch Rosaleen macht einem als Leser die Entscheidung schwer, ob man sie bemitleiden oder hassen soll. Lesern von Familienromanen mit Überzeugung empfohlen.

Bewertung vom 04.01.2017
Cold Spring Harbor
Yates, Richard

Cold Spring Harbor


sehr gut

Charles Shepard hat nach einem kurzen Kriegseinsatz sein Leben als Berufsoffizier auf amerikanischen Militärstützpunkten verbracht. Die Chance gemeinsam mit einem Freund ins Zivilleben zurück zu wechseln schlägt Charles (auch aus Rücksicht auf seine psychisch "labile" Frau) zugunsten der Sicherheit im Staatsdienst aus. In den 40ern des vorigen Jahrhunderts ist Charles im Rang eines Captains (entspricht dem Hauptmannsrang der Bundeswehr) gerade aus der Armee ausgeschieden und mit Frau und Sohn nach Cold Spring Harbor auf Long Island gezogen. Charles Frau Grace hat sich schon immer wegen einer unklaren psychischen Erkrankung von der Welt zurückgezogen; den Haushalt erledigt zurzeit Charles. Der 1918 geboren Sohn Evan ist als gut aussehender Nichtsnutz bereits als Jugendlicher mit der Polizei in Konflikt geraten. Doch seit Evan sich für Autos interessiert und sein Talent als Schrauber entdeckt hat, besteht in seinem Leben Hoffnung auf eine Wendung zum Guten. Eine überstürzte Ehe aufgrund einer ungeplanten Schwangerschaft hat Evan bereits hinter sich. Charles ist im neuen Wohnort aufgrund seiner Army-Vergangenheit sofort ein angesehener Mann. Auf Long Island erwartet man von einem 'Captain' vermutlich automatisch den sehr viel höher besoldeten Rang eines Captains der Navy. Als Evan 1941 gemeinsam mit dem Vater seine zweite Frau kennenlernt, besteht wenig Anlass zur Hoffnung, dass der junge Mann inzwischen reif genug für eine Beziehung ist. Unlösbar wirkt der Konflikt, dass Evan ursprünglich für ein Maschinenbaustudium sparen will und beide Familien das Konzept einer berufstätigen Frau mit studierendem Ehemann nicht zu kennen scheinen. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verschärft sich die Situation der jungen Shepards weiter durch Charles fixe Idee, sein Sohn müsse in einer Stellvertreter-Rolle für ihn in den Krieg ziehen. Die Familie von Rachel Drake lässt sich indessen von einem durch sie selbst schöngeredeten Bild der Shepards als bedeutender Familie blenden, das der Realität nicht standhalten kann. Die Ehe zwischen Evan und Rachel dient beiden Familien als Rettungsring aus überaus bescheidenen Lebensumständen. Charles und Evan wirken dabei wie Schauspieler in nicht geprobten Rollen und in für sie viel zu großen Kostümen.

Auf wenigen Seiten skizziert Richard Yates sehr nüchtern und distanziert ein Familienszenario, das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs ein gewaltiges Konfliktpotential birgt. Rachel und ihre Mutter Gloria fühlen sich von der Beziehung zu den Shepards in ihrer Bedeutung aufgewertet. Auch Evan fühlt sich erst durch Rachels Bewunderung als Mann. Beachtlich in einem so kurzen Roman fand ich die Nebenrolle des 16-jährigen Philip Drake, Rachels jüngerem Bruder, der eine eigenständige Beziehung zu Evan findet. Philip setzt im Roman die Reihe der Männer fort, die sich vom Militärdienst gesellschaftlichen Aufstieg und persönliche Reife versprechen. Der Junge dient Richard Yates aber auch dazu, die Klassenunterschiede zu den im Ort alteingesessenen Familien zu verdeutlichen und damit die Aussichtslosigkeit der Aufstiegspläne von Evan, Rachel und Philip.

Rund siebzig Jahre liegen die Erlebnisse der Shepards und der Drakes zurück und die Einstellungen der beiden Familien werden heute auf manchen Leser befremdlich wirken. 'Cold Spring Harbour' wird mir besonders durch die nüchterne und dabei liebevolle Sicht des Erzählers auf seine Figuren in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 04.01.2017
Das grenzenlose Und
Weihs, Sandra

Das grenzenlose Und


ausgezeichnet

Willi hat einen Deal mit Marie. Er hat sich dafür eingesetzt, dass sie trotz Selbstmordgefährdung wegen ihrer Borderline-Störung nicht stationär in der Psychiatrie behandelt wird, sondern in einer Jugend-Wohngemeinschaft leben darf, für die sie formal als 18-Jährige schon zu alt ist. Maries Anteil an der Vereinbarung: sie nimmt ihre Therapiesitzungen in Willis Praxis wahr und wird sich in dieser Zeit nicht das Leben nehmen, weil Willi sonst seine Zulassung verliert. Marie ritzt sich, zeigt weitere selbstzerstörerische Züge und ist deutlich auf der Suche nach ihrer eigenen Normalität. Wie sie sein muss, damit andere sie mögen und wie diese anderen Personen ticken, ist Marie aufgrund von Vernachlässigung in der Kindheit ein Rätsel.

In Willis Praxis trifft Marie den ein paar Jahre älteren Emmanuel, der an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt ist. Auch Emmanuel will sterben, bevor er nicht mehr in der Lage sein wird, selbst über sein Leben zu entscheiden. Als wäre diese Besetzung nicht schon krass genug, liegt auch noch die Mutter von Maris Mitbewohnerin Amina im Sterben. Die Jugendwohngemeinschaft als Kulisse ist in gewohnter Form aufgestellt; die Sozialpädagogen halten sich prinzipiell für die Guten, die abwesenden Eltern der hier betreuten Jugendlichen treten in der Rolle der 'Verantwortungslosen' auf; denn ohne ihre sozialen Defizite wären Jugendliche und angestellte Betreuer nicht hier. Maries Zickzackkurs zwischen erwachsen sein Wollen und dem Bedürfnis nach Betreuung ist für verspätet Pubertierende nicht ungewöhnlich. Doch in Maries Fall ist das Schlingern zwischen Manipulation anderer und Sinnsuche nicht ungefährlich. Vor Maries Vereinnahmung war ich auf der Hut und diese Distanz zu ihrem Schicksal hat mir beim Lesen gutgetan.

Willi hat sich für die therapeutische Marschrichtung entschieden, Marie allmählich vor Augen zu führen, dass sie kein Kind mehr ist und kindliche Manöver nicht mehr nötig hat. Für mich als Leser führte seine Haltung zu der Hoffnung, Maries schwere psychische Störung könnte tatsächlich eine Übergangsphase sein mit der Chance für sie, ihren Reifungsrückstand noch aufzuholen.

Emmanuel plant derweil in allen Details sein Lebensende und konfrontiert Marie mit der Frage, was sie einmal hinterlassen möchte, vielleicht ein Graffiti? Ein faszinierender Wettstreit der Argumente zwischen zwei jungen Menschen entbrennt, die aus verschiedenen Gründen ihrem Leben ein Ende machen wollen. Auch das Rätsel wird schließlich gelöst, welche Bedeutung der Papierflieger auf dem Buchcover für Sandra und Emmanuel haben könnte.

Die Begegnung zweier Jugendlicher, von denen einer unheilbar krank und der andere psychisch krank ist, gab es in der Jugendliteratur bereits in gelungenen und weniger gelungenen Varianten. Ganz im Gegensatz zu manch anderem Text, der Selbstmordpläne Jugendlicher thematisiert, hatte ich in Sandra Weihs Debütroman nie den Eindruck, dass Maries psychische Störung und ihre Selbstmordpläne idealisiert werden oder eine Triggerwirkung auf gefährdete Jugendliche haben könnten. Das Buch spricht jugendliche und erwachsene Leser auf sehr persönlicher Ebene an, je nachdem ob man sich mit einer der Personen identifizieren kann. Selbstironisch dem eigenen Berufsstand und seinen professionellen Worthülsen gegenüber schreibt hier spürbar jemand aus Erfahrung mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Als Debüt hat mich Sandra Weihs Buch sehr beeindruckt!

Bewertung vom 04.01.2017
Die Eule, die gern aus dem Wasserhahn trank
Windrow, Martin

Die Eule, die gern aus dem Wasserhahn trank


ausgezeichnet

Martin Windrow, der im Hauptberuf militärhistorische Bücher schrieb und verlegte, ermahnt seine Leser zuerst, unter keinen Umständen Wildtiere mit nach Hause zu nehmen. Er ist sich der Gefahr vollkommen bewusst, dass Leser seines Buches den Waldkauz Mumble so niedlich finden, dass sie Windrows Experiment nachahmen könnten. Die Idee des englischen Autors, im siebten Stock eines Londoner Appartementhauses einen Kauz zu halten, wirkt von dem Punkt an weniger exzentrisch, an dem man erfährt, dass Windrows Bruder erfahrener Falkner ist, der auf seinem großzügigen Farmgelände selbst einen Kauz hält. Wäre Martin Windrow gescheitert, hätte es in der Familie sicher noch einen Plan B für Mumble (engl. Murmler, Grummler) gegeben.

Da Greifvögel auch in England streng geschützt sind, kauft Windrow seinen Jungkauz aus einer privaten Zucht. Meist sind diese Tiere Nachkommen verletzt aufgefundener Elterntiere, die aufgrund ihrer Verletzung in Freiheit nicht überleben würden. Mumble wird vom Kind des Züchters von Hand aufgezogen und verhält sich von Anfang an völlig zahm.

Martin Windrows erste Versuche als Eulenvogelhalter haben durchaus komische Seiten. Er muss nicht nur eine möglichst unauffällige Voliere für seinen Balkon bauen, da er offiziell keine Tiere in der Wohnung halten darf, sondern auch die zuverlässige Versorgung mit Eintagsküken sicherstellen, da er in der Stadt kaum mal schnell eine Wühlmaus für sein ungewöhnliches Haustier fangen kann. Mensch und Kauz nähern sich einander an, was erheblich dadurch erleichtert wird, dass Windrow die Fachliteratur kennt und weiß, dass Käuze im Gegensatz zu anderen Eulenarten lebenslang monogam leben und ein ausgeprägtes Revierverhalten haben. Nachdem Mumble der Pubertät entwachsen ist, darf es also außer ihm und seinem Menschen im gemeinsamen Revier im 7. Stock keine anderen Bewohner geben. Ein Problem, das Eulenliebhaber aus Bernd Heinrichs Ein Forscher und seine Eule Eule kennen.

Die Beziehung zwischen Mumble und seinem Besitzer wird sich später noch einmal komplett verändern, als Windrow nach Sussex aufs Land zieht und Mumble von sich aus in seinem neuen Revier, einer Voliere im Garten, kleine Nagetiere und Vögel zu jagen beginnt, die von draußen in das Gehege gelangen. Dabei schreckt er selbst vor ausgewachsenen Tauben nicht zurück. Die sorgfältige Beobachtung von Mumbles Interessen durch seinen Halter, das Vergnügen des Käuzchens an Schränken, Kartons, verborgenen Winkeln und der Cäsar-Büste aus dem Originaltitel zaubert so manches Lächeln ins Gesicht des Lesers. Die ungewöhnliche Partnerschaft endet tragisch, vermutlich durch einen Eingriff Außenstehender aus fehlgeleiteter Tierliebe.

Der Autor zeigt seinen kleinen Mitbewohner niemals als 'niedlich' oder vermenschlicht, sondern referiert, getrieben von wissenschaftlicher Neugier, in den Sachkapiteln des Buches Hintergrundwissen zu Eulenvögeln, die Bedrohung ihrer natürlichen Lebensräume, ihre Fähigkeiten und Eigenarten. Ausgiebig reflektiert er, was ein Greifvogel in Gefangenschaft vermissen und als was Mumble seinen Menschen wohl betrachten könnte.

Für einen Autor, der sich inhaltlich gewöhnlich mit der Französischen Fremdenlegion und den Uniformen vergangener Kriege befasst, finde ich Windrows Buch stilistisch und durch seine moralische Reflektion der Tierhaltung in Gefangenschaft äußerst gelungen. Es tendiert stärker zum Sachbuch als zu heiterer Unterhaltungsliteratur.

Bewertung vom 04.01.2017
Die letzten Entdecker
Williams, Naomi J.

Die letzten Entdecker


sehr gut

Der historische Hintergrund:
Die dreijährige Expedition führte die beiden französischen Fregatten Astrolabe und Boussole (die kurz zuvor noch als Frachtschiffe gedient hatten) zwischen 1785 und 1788 von Europa an der zentralafrikanischen Küste entlang, um Kap Hoorn zur nordamerikanischen Westküste über Macao, Kamtschatka bis ins damals noch Neuholland genannte Australien. Die beiden (realen) Schiffe verschwanden damals samt Mannschaft spurlos, ihr Schicksal wurde erst Jahre später geklärt.

Inhalt
Naomi J. Williams lässt zahlreiche Personen ihre Erlebnisse auf dieser wissenschaftlichen Expedition berichten, mehrere Icherzähler treten auf, Briefwechsel zeigen Beziehungen zwischen den handelnden Figuren auf und manche Szenen werden aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt. Die amerikanische Autorin beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen auf die Sicht der Oberschicht, der Offiziere, Wissenschaftler, Priester und Dolmetscher an Bord. Etwas Farbe bekommt die Angelegenheit durch das Auftreten der Ehefrau des chilenischen Gouverneurs und eines jungen Inuit-Mädchens in Alaska. Indem Lamartinière, der Botaniker der Expedition, sich hauptsächlich mit dem Protokollieren der Reise befasst und weniger mit seiner Profession, bleiben die naturkundlichen Beobachtungen auf der Reise leider sehr blass. Mehr als die Sichtung "eines Bären" oder "eines Seevogels" darf man nicht erwarten. Die Konzentration der Erzählweise auf die Beziehungsebene lässt Willams Roman wie einen Gesellschaftsroman wirken, den sie an Bord zweier französischer Schiffe angesiedelt hat. Die für mich spannenden Fragen in einem Entdecker-Roman werden nicht vertieft, z. B. wie ein Kapitän in der Notsituation handelt, nachdem ein entscheidender Teil seiner Mannschaft ausgefallen ist.

Williams Ton ist zeitweilig bissig bis ironisch, so dass ich ihre Sichtweise teils als Satire auf Entdeckerromane empfunden habe. Zu diesem Eindruck trug die wenig seemännische Beschreibung des Lebens an Bord bei. Ob die Autorin diese Wirkung ursprünglich bezweckt hat oder ob durch die Übersetzung ein ernstgemeinter Text unbeabsichtigt eine satirische Wirkung erhielt, kann ich nicht beurteilen. Rein sprachlich wirkt "Die letzten Entdecker" für einen Erstling beachtlich, inhaltlich hat er mich nicht überzeugt.

Bewertung vom 04.01.2017
Neues aus alten Büchern
Youngs, Clare

Neues aus alten Büchern


gut

Clare Young verarbeitet ganze Bücher und bedruckte Seiten (z. B. aus Katalogen) zu neuen Objekten. Vorausgesetzt an motorischen Talenten wird das Arbeiten mit einem Cuttermesser und das Kopieren, Vergrößern und Übertragen von Kopiervorlagen. Für das Ausschneiden einer Öffnung aus dem Deckel eines Leinenbandes heraus wird einige Körperkraft benötigt.
Benötigte Werkzeuge sind Cuttermesser, Teppichbodenmesser, Schere, Silhouettenschere, Metallineal, Schneidematte, flüssiger Kleber, Nadel und Faden und ein Quilling Stift
--> Der Hinweis, dass ein Metalllineal benötigt wird, wäre hilfreich gewesen.

Die Papierkünstlerin setzt bei ihren Upcycling-Projekten stark auf die Wirkung bedruckter Seiten. Dieser Ansatz hat mir gut gefallen, weil niemand für die Werkstücke ein ganzes Buch schlachten muss, der das nicht möchte. Zugleich wird der Blick dafür geschärft, was sich aus Katalogen und Prospekten Neues herstellen lässt.

Positiv finde ich den Bereich Grußkarten, weil ich oft auf der Suche nach kleinen Arbeiten bin, die sich per Brief versenden lassen. Das Kapitel 'Kreatives für Kinder' kann man getrost überblättern. Mit Kindern würde ich keine Marionette aus Modelliermasse formen und nach dem Trocknen mit Pappmachee überziehen, weil die langen Trockenzeiten hier für Kinder sehr frustrierend sind. Auch würde ich keinen selbstgebastelten Hampelmann an ein Kind verschenken. Die im Kinderkapitel abgebildeten Scherenschnitte richten sich an Experten, die mit einer spitzen Silhouetten-Schere erfahren sind. Sehr schöne Arbeiten und Pop-Up-Objekte entstehen aus ganzen Büchern, indem ein Scherenschnitt aus einer Buchseite heraus gefaltet, ein Buchblock ausgehöhlt wird und vielleicht sogar die herausgeschnittenen Teile wieder verwendet werden können.

Die Anleitungen sind sehr gut illustriert, Erläuterungstexte und Methodik überzeugen nicht immer. Das Kopieren der Vorlagen mit Pauspapier ist m. A. seit langem durch den Einsatz von Schneiderkopierpapier überholt. Gerade dort, wo z. B. der exakte und gezielte Einsatz von flüssigem Kleber sinnvoll wäre, zeigen die Abbildungen leider unzweckmäßig das Arbeiten mit Klebestiften.

Zum Basteln mit Kindern und für Kinder bringt der Band kaum etwas. Die gezeigten Arbeiten erfordern Kraft und Geschick im Umgang mit scharfen Messern. Clare Youngs Anregungen schärfen den Blick für eigene Upcycling-Projekte aus alten Katalogen oder Prospekten.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.