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Volker M.

Bewertungen

Insgesamt 397 Bewertungen
Bewertung vom 28.04.2022
Der Verdächtige / Lacy Stoltz Bd.2 (2 MP3-CDs)
Grisham, John

Der Verdächtige / Lacy Stoltz Bd.2 (2 MP3-CDs)


ausgezeichnet

Nachdem die letzten Grishams mich nicht mehr so richtig überzeugt haben, ist „Der Verdächtige“ wieder ein richtiger Pageturner mit einer interessant konstruierten Geschichte, spannenden Interna aus dem amerikanischen Justizsystem und überraschenden Wendungen.

Floridas interne Justizermittlung BJC, die Beschwerden über Richter nachgeht, ist chronisch unterfinanziert und chronisch unterbesetzt, aber dennoch nimmt Anwältin Lacy Stoltz ihren Job sehr ernst. Als sie von einer anonymen Informantin den Hinweis erhält, dass ein anscheinend ehrenwerter Bezirksrichter möglicherweise ein raffinierter Serienmörder ist, kann sie es zunächst kaum glauben, aber die Indizien wiegen schwer. Und bald stellt sich heraus, dass die Vorsicht der Informantin keineswegs Paranoia ist. Der verdächtige Richter ist hochintelligent und absolut skrupellos. Seine Opfer wählt er aus persönlichen Motiven und er lässt sich Zeit mit seiner „Rache“. Soviel Zeit, dass niemand mehr den Mord mit ihm in Verbindung bringt. Jery, deren Vater ebenfalls Opfer wurde, hat 20 Jahre nach dem Täter gesucht und sieht mit Hilfe der BJC jetzt eine Möglichkeit, Richter Bannick dingfest zu machen. Aber so leicht gibt sich das kriminelle Mastermind nicht geschlagen.

Grisham treibt die Entwicklung permanent voran, indem er zum einen die Perspektiven zwischen Jery, Lacy und Richter Bannick wechselt, zum anderen die Lebensgeschichten der Opfer miteinander verknüpft. Wie ein riesiges Puzzle werden die einzelnen Teile zusammengesetzt und die Schlinge um den Täter zieht sich immer enger. Grishams nüchtern-sezierender Stil lässt auch grausame Szenen erträglich wirken und wie immer erfährt man eine Menge über polizeiliche Ermittlungsarbeit. Gewundert hat mich in diesem Zusammenhang allerdings, dass DNA-Analysen bei ihm keine Rolle spielen, obwohl sie heutzutage eigentlich das wichtigste Instrument zur eindeutigen Täteridentifizierung geworden sind. Zum Schluss nimmt die Geschichte noch einmal eine überraschende Wendung, bei der genau dieser Aspekt besonders wichtig wird. An diesem Punkt hat die Story aus meiner Sicht und aus dem genannten Grund eine logische Schwäche, über die man aber im Interesse des Spannungserhalts hinwegsehen kann.
Ansonsten ist die Geschichte fesselnd, vielschichtig und zu keinem Zeitpunkt langatmig. Nicht alle Entscheidungen der Protagonisten sind in jedem Aspekt psychologisch nachvollziehbar, aber es entstehen dadurch interessante neue Konstellationen, die der Geschichte auch neuen Schwung geben.

Charles Brauer ist der Grisham-Vorleser der Nation, jedoch man merkt ihm langsam das Alter an. Seine Sprache hat nicht mehr die Präzision von ehedem und wenn er müde wird, verwischen seine Konsonanten schon deutlich. Es war für dieses Mal noch OK, aber vielleicht sollte der Verlag mal jüngeres Blut ranlassen, so gerne ich Charles Brauer früher auch gehört habe...

Bewertung vom 27.04.2022
Das Labyrinth
Stålenhag, Simon

Das Labyrinth


ausgezeichnet

Die drei Vorgängerbände haben mich zu einem Stålenhag-Fan gemacht und entsprechend gespannt war ich auf „Das Labyrinth“. Dieses Mal spielt die Geschichte nicht in einer alternativen Gegenwart, sondern in einer dystopischen Zukunft, in der die Menschen nur noch unter der Erdoberfläche existieren können. Die Ursache für die Zerstörung aller Ökosysteme kommt erst im Lauf der Erzählung langsam ans Licht, wie es sich für einen guten SciFi-Plot gehört, aber das eigentliche Drama ist zwischenmenschlicher Natur: Charlie, ein kleiner, offenbar traumatisierter Junge, lebt in seiner eigenen, kaum erreichbaren Welt und verschließt sich jeder Kontaktaufnahme. Ist er Autist? Lange bleibt der Leser im Unklaren, bis im Finale plötzlich alle Dämme brechen und Charlie aus seiner Lethargie erwacht.

Die Geschichte ist zu kurz, als dass ich hier noch mehr Details verraten kann ohne die Spannung zu zerstören, aber mir ist aufgefallen, dass „Das Labyrinth“ erzähltechnisch deutlich mehr Ebenen besitzt als die beiden Vorgängerbände. Es gibt symbolistische Referenzen (das schwarze Wasser steht z. B. für die verdrängten dunklen Geheimnisse), Psychologie spielt eine große Rolle, es geht um moralische Entscheidungen, grundsätzliche Abwägungen zwischen Gut und Böse und letztlich darum, was einen Menschen zum Menschen macht.

Die Zeichnungen sind wieder in Stålenhags hyperrealistischem Stil gehalten, wobei die gruseligen Bilder diesmal weniger mit SciFi-Elementen spielen als mit der trostlosen Einsamkeit menschenverlassener Gänge und Räume. Wer „Shining“ kennt, weiß, was ich meine. Es ist das Gefühl einer subtilen Bedrohung, die man nicht richtig fassen kann, die aber immer präsent ist.

„Das Labyrinth“ ist ganz anders als die „Loop“ Stories. Die Geschichte ist insgesamt psychologisch feiner gestrickt, die Bilder sind weniger futuristisch aber nicht weniger bedrohlich. Ich bin und bleibe Stålenhag-Fan.

Bewertung vom 25.04.2022
Nachts im Kanzleramt
Slomka, Marietta

Nachts im Kanzleramt


sehr gut

Für viele ist Politik eine Black-Box. Alle vier Jahre geht man wählen, meistens ohne eine erkennbare Wirkung, egal wer regiert. Aber wie funktioniert dieses politische Getriebe eigentlich? Was sind die rechtlichen und organisatorischen Grundlagen? Marietta Slomka leistet in ihrem Buch politische Grundausbildung für Ahnungslose. In der DDR nannte man es Staatsbürgerkunde, aber Slomka enthält sich selbstverständlich jeder Indoktrination und da in unseren Schulen diese wichtigen Grundlagen häufig nicht mehr vermittelt werden, macht es durchaus Sinn, nochmal ganz von vorne anzufangen: Wie funktionieren Wahlrecht, Parteien, Grundrechte, Staatsorgane (Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat), Gesetzgebung, Staatsform und Föderalismus? Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf unserem Wirtschaftssystem, das um einen Ausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen bemüht ist. Slomka erklärt Zusammenhänge von Konjunkturzyklen, Subventionen, Währung, Steuern und Staatsverschuldung und streift auch die Geschichte der Europäischen Union und deren aktuelle Probleme. Im letzten Kapitel rückt dann die Globalisierung in den Fokus.

Themen wie Journalismus, Pressefreiheit und Medien behandelt Slomka anhand von Beispielen und persönlichen Erlebnissen, wobei sie auch ihre typische, konfrontative Interviewtechnik begründet. In einigen Fällen vertieft sie einzelne Aspekte, im allgemeinen bleibt sie aber relativ oberflächlich.

Gut gefielen mir die „Jobbeschreibungen“ der einzelnen Posten in der Regierung, wie Minister, Staatssekretäre, Kanzler, Kanzleramtsminister, Generalsekretär oder Fraktionschef. Es ist nachvollziehbar, wie Politik zum Suchtfaktor werden kann oder warum sich die Medien häufig als "vierte" Gewalt empfinden und mit politischer Manipulation ihr journalistisches Neutralitätsgebot verletzen. Gerade in diesem Zusammenhang hätte Slomka ja auch ihren eigenen Arbeitgeber kritisch beleuchten können, aber das unterbleibt.

Sehr anschaulich ist Slomkas Ansatz, theoretische Themen meistens mit einem Zeitbezug und aktuellen Beispielen zu versehen und dabei immer wieder Vergleiche mit Großbritannien und den USA zu ziehen. Sie thematisiert auch heiße Eisen, wie Political Correctness, "Sprachpolizei", Gendern, Migration und Rassismus, allerdings häufig oberflächlich und auch nicht immer ausreichend differenziert (siehe „journalistisches Neutralitätsgebot“...).

Insgesamt ein locker, manchmal auch salopp geschriebenes Buch über die Welt der Politik, das sich vor allem an diejenigen richtet, die mit dem Thema bisher wenig am Hut hatten. Tiefergehende Analysen sind selten und Insiderberichte aus dem Nähkästchen fehlen völlig. Meine Erwartungshaltung war etwas anders.

Bewertung vom 23.04.2022
Der Doktor und das liebe Vieh - Staffel 2
Ralph,Nicolas/West,Samuel/Madeley,Anna/+

Der Doktor und das liebe Vieh - Staffel 2


ausgezeichnet

Nachdem in Staffel 1 Helen dem smarten Hugh vor dem Altar den Laufpass gab, bietet sich für James eine neue Chance. Außerdem bekommt er das verlockende Angebot einer modernen Tierarztpraxis in Glasgow, was ihn vor eine schwierige Gewissensentscheidung stellt. Das sind die beiden horizontalen Geschichten, die sich durch die neue Staffel ziehen, neben den üblichen medizinischen Komplikationen bei Mops, Schaf und Pferd. Auch diesmal verbreitet Farnons Praxis in Yorkshire den wunderbaren Downton Abbey Charme einer unbeschwerten Zeit, jedoch deutet sich bereits der kommende Krieg an. Die Parallelen zu Russlands Angriffskrieg heute sind nur zu offensichtlich, auch wenn das zum Zeitpunkt der Dreharbeiten noch gar nicht bekannt war. Das gibt der Leichtigkeit der Geschichten einen diesmal etwas düsteren Unterton, der sicher auch auf Staffel 3 abfärben wird. Trotzdem habe ich die wunderbaren Kulissen und liebevolle Ausstattung wieder sehr gerne mit den Augen durchstöbert, James und Helen bei ihrem züchtigen Werben zugesehen und das unvermeidliche Happy End erwartet.

Deutlich schwächer als der Rest ist das Weihnachtsspecial, das mir dann doch ein wenig zu süßlich geraten ist, aber das hatten auch die Weihnachtsspecials von Downton Abbey so an sich. Man darf auch nie vergessen, dass die hier so optimistisch dargestellte Welt in den Dreißigern in Wirklichkeit geprägt war von Wirtschaftskrise und bitterer Armut auf dem Land. Es ist nun mal Eskapismuskino und als solches muss man die Serie auch sehen (und genießen).

Das Bonusmaterial ist diesmal leider nicht so ergiebig. Es sind nur Interviews mit Autoren, Schauspielern und Produzenten, die kaum etwas Erhellendes beitragen (im Gegenteil, sie zementieren ein wenig sogar den Mythos von „früher war alles besser“) und eine Diashow mit Fotos aus den Kulissen. Wer Staffel 1 noch nicht gesehen hat, der sollte das unbedingt nachholen, obwohl es für das Verständnis der Geschichten nicht erforderlich ist, denn da gibt es einen genial kommentierten Live-Rundgang durch die Kulissen, die tatsächlich komplett im Studio aufgebaut wurden.

Bewertung vom 20.04.2022
The North Water - Nordwasser
Farrell,Colin/O'Connell,Jack/Graham,Stephen/+

The North Water - Nordwasser


ausgezeichnet

1859. Der Engländer Patrick Sumner heuert auf einem Walfänger als Schiffsarzt an, nicht wissend, dass es eine Fahrt ohne Wiederkehr sein wird. Mit an Bord befindet sich der Harpunier Henry Drax, ein völlig verrohter und gewissenloser Mörder, der nur seinen Trieben folgt, sich von niemandem aufhalten lässt und andere Menschen nach seinem Willen manipuliert oder physisch bezwingt. Er ist ein Psychopath, wie er im Buche steht. Als auf der Fahrt ins arktische Eismeer der Schiffsjunge ermordet wird, begibt sich Patrick Sumner auf Tätersuche und gerät natürlich mit Henry Drax aneinander. Doch das Katz und Maus Spiel ist nicht die einzige Gefahr, die im Eismeer lauert. Der Kapitän hat nämlich einen geheimen Auftrag, der sich für alle als schicksalhaft erweisen wird...

Die Verfilmung von Ian McGuires in Deutschland relativ unbekanntem Roman „Nordwasser“ wurde mit großem Aufwand in Grönland produziert, auf einem historischen Segelschiff und vor grandioser Naturkulisse. Die Schauspieler sind bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt, wobei vor allem Collin Farrell als Henry Drax herausragt, dem die Gewissenlosigkeit ins Gesicht geschrieben steht. Für die Rolle hat er sich auch körperlich in einen Berg aus Muskeln und Fett verwandelt, kaum wiederzuerkennen, aber die physische Präsenz passt perfekt zum besitzergreifenden Charakter Henry Drax‘s.
Die Geschichte entwickelt spätestens in der dritten Folge einen Sog, dem man als Zuschauer nicht entkommt. Die authentische Naturkulisse färbt spürbar auf die Darsteller ab, die in ihre Rollen eintauchen, wie das niemals vor einem Greenscreen möglich wäre. Mein Logikempfinden hat allerdings gestört, dass die „Überwinterung“ im ewigen Eis bei hellem Tageslicht stattfindet und nicht in dunkler Polarnacht und man überraschend selten Atemfahnen erkennt, obwohl es doch eigentlich bitterkalt sein sollte. Im Sommer ist es auch auf Grönland deutlich über Null, aber das passt eben nicht zur dargestellten Jahreszeit.

Der Bonus mit dem Making-of ist angesichts des logistischen und technischen Aufwands (es soll die teuerste BBC Miniserie aller Zeiten sein), bemerkenswert unergiebig und besteht in erster Linie aus gegenseitiger Lobhudelei und der Versicherung aller Beteiligten, dass es anstrengend war. Schade, ich hätte gerne mehr über die Dreharbeiten erfahren oder auch nur mal eine einzige Szene gesehen, wie man vor Ort gearbeitet hat. Davon erfährt man leider nichts.

„The North Water“ ist spannende Unterhaltung mit Tiefgang, schauspielerisch grandios umgesetzt und von einer Authentizität, wie man sie im Fernsehen selten sieht.

Bewertung vom 11.04.2022
Odysseus und die Wiesel
Wallwitz, Georg von

Odysseus und die Wiesel


ausgezeichnet

"Odysseus und die Wiesel" ist kein praktischer Anlageratgeber, sondern ein amüsantes Lesebuch zum besseren Verständnis der Finanzmärkte.

Die Ökonomen waren über Jahrhunderte immer auf der Suche nach einer Theorie, mit der sich in der Wirtschaft möglichst alles erklären lässt, sowohl die vergangenen als auch zukünftigen Entwicklungen.
Bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts gab es an der Wall Street allerdings einen tiefen Graben zwischen den "praktischen" Händlern und den "theoretischen" Professoren der Finanz- und Wirtschaftswissenschaften. Die Börsianer hatten für die akademischen Kopfmenschen nicht viel übrig, während sie selbst als laut, ungebildet, unberechenbar und testostorongesteuert galten. Nun ja, vielleicht hatten beide Seiten recht.
Die unkonventionellen Wirtschaftswissenschaftler Graham und Dodd waren die Synthese aus diesen beiden Antithesen, da sie zwar theoretische Betrachtungen über die Börse anstellten, aber vor allem Praktiker waren. Für sie war die Börse keine exakte Naturwissenschaft, sondern eher eine Kunst, bei der Erfolg und Misserfolg vom individuellen Können und dem Zufall bestimmt werden.
Auch Keynes hegte ein erhebliches Misstrauen bei der Anwendung mathematischer Modelle in der Praxis. Sie können zwar als Richtschnur für das Handeln oder für die Erklärung vergangener Zusammenhänge dienen, sollten aber nie mit der Realität verwechselt werden. Das menschliche Handeln ist zu komplex, als dass es jemals in eine mathematische Formel gefasst werden könnte. Von Wallwitz bringt dem Leser auch den Menschen Keynes näher und beiläufig erfährt man z.B. auch Grundlegendes über Futures und warum Keynes sich von ihnen abwandte und lieber auf einige wenige, aber dafür langfristige Aktien setzte.

Auch heute gehorchen die Märkte nicht nur den Fundamentaldaten, weil Ängste, Naivität oder Betrug die Vernunft überlagern und häufig die blanke Gier regiert. Darüber hinaus ist das Marktgeschehen komplexer geworden und "Schwarze Schwäne" (unvorhersehbare Ereignisse) werden daher häufiger.
Besonders gut hat mir der Beitrag über die Fondsmanager gefallen. Auf humorvolle Art räumt von Wallwitz mit dem Mythos des allmächtigen Fondsmanagers auf. Die sind vielfach nicht besser als der Index, müssen aber permanent Aktivitäten vortäuschen, damit die Kunden ihre Daseinsberechtigung (und die damit verbundenen Kosten) nicht infrage stellen. Und die Helden vom Vorjahr sind meist die Versager im nächsten.

Der Autor zeigt auf unterhaltsame Art die Diskrepanz zwischen den Theorien einiger bekannter Wirtschaftswissenschaftler und der tatsächlichen Börsenpraxis und entzaubert ganz nebenbei die gierigen Akteure wie Fondsmanager oder Analysten. Er ist zwar kein Nestbeschmutzer, aber ein ziemlich bissiger Kommentator.

Bewertung vom 10.04.2022
Die Gemälde des Spätmittelalters im Germanischen Nationalmuseum, Franken, 2 Tle.

Die Gemälde des Spätmittelalters im Germanischen Nationalmuseum, Franken, 2 Tle.


ausgezeichnet

Seit fast 100 Jahren gab es keinen Bestandskatalog der mittelalterlichen Malerei des Germanischen Nationalmuseums mehr und das, obwohl gerade dieses Themengebiet zu den Kernbereichen der Sammlung gehört. Der Bestand an spätmittelalterlicher Tafelmalerei bis 1500 gehört zu den bedeutendsten weltweit.
Der jetzt vorgelegte Katalog ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Zum einen trägt er das über 150 Jahre erworbene kunsthistorische Wissen zusammen, ergänzt es aber durch die erst in der letzten Zeit hinzugewonnenen und bisher unveröffentlichten kunsttechnologischen Untersuchungsergebnisse. Das dem Museum angegliederte Institut für Kunsttechnik und Konservierung gehört zu den wissenschaftlichen Speerspitzen der Disziplin und besitzt Weltruf. Durch die fast 10 Jahre kontinuierlich realisierte Drittmittelförderung konnten sämtliche 70 im Katalog dokumentierten Werkkomplexe auf höchstem Niveau von einem internationalen Team „durchleuchtet“ werden. Auch wenn die Ergebnisse in diesem Band noch nicht systematisch nach kunsthistorischen Aspekten ausgewertet wurden (sieht man von den Werkstattzuschreibungen einmal ab), wird er zweifellos eine fundamentale Quelle zukünftiger Forschung werden. Besonders in den letzten zwei Jahrzehnten entwickelte sich die material- und kunsttechnologische Untersuchung zu einem der wichtigsten Elemente der kunsthistorischen Systematik, die aufgrund fehlender Quellen und Signaturen oft auf stilkritischen Überlegungen basierte. Diese, im Auktionshandel leider immer noch praktizierte „Übung“ ist in hohem Maße subjektiv, methodisch schwer begründbar und völlig zu Recht in Misskredit geraten. Die Naturwissenschaften liefern hier zerstörungsfrei oder zumindest materialschonend revolutionäre und gleichzeitig überzeugendere Erkenntnisse.

Die 70 dokumentierten Werkkomplexe stammen aus den Eigenbeständen des Museums (13) sowie von staatlichen, kirchlichen und privaten Dauerleihgebern (57). Einige wenige Werke sind bereits in anderem Zusammenhang publiziert und wurden leider nicht wieder aufgenommen. Der zeitliche Schwerpunkt liegt in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, vier Komplexe datieren vor 1400.
Neben der chronologischen bedient sich der Katalog einer Systematik auf Basis der Werkstätten bzw. deren Zuschreibungen. Einer sorgfältigen Beschreibung der Darstellungen, mit detaillierter Ikonografie, Transkription der Inschriften und Auflösung von Wappen folgt eine ausgesprochen umfangreiche kunsttechnologische Dokumentation. Untersuchungen zu Bildträger, Malgrund und -technik, Unterzeichnungen (mit zugehörigen IR Aufnahmen) und der handwerklichen Behandlung der Metallauflagen geben ein vollständiges Bild auf aktuellem Leistungsstand der Wissenschaft. Zahlreiche Detailaufnahmen unterstützen den Text. Ebenfalls sehr umfangreich ist die kunsthistorische Einordnung, die sämtliche Zuschreibungen, Datierungen und regionale Zuordnungen der Vergangenheit synoptisch diskutiert, aber auch eigene Schlüsse formuliert. Es ist das gesammelte Wissen aus über 150 Jahren, oder wie es Daniel Hess und Oliver Mack im Vorwort formulieren, man blickt heute viel weiter als die Vorgänger, weil man auf den Schultern von Riesen steht.

Im Sommer wird Band II erscheinen mit dem regionalen Fokus Köln, Niederlande, Westfalen, Mittel- und Oberrhein, womit die Dokumentation der spätmittelalterlichen Malerei abgeschlossen sein wird. Dieses monumentale, multinationale und von zahlreichen Drittmittelgebern ermöglichte Projekt erfüllt sämtliche Anforderungen, die an einen Bestandskatalog heutzutage gestellt werden können. Es ersetzt die persönliche Inaugenscheinnahme, soweit dies zwischen zwei Buchdeckeln nur möglich ist und wird sicher noch einige Forschergenerationen beschäftigen.

Bewertung vom 09.04.2022
Einfach genial entscheiden
Walz, Hartmut

Einfach genial entscheiden


ausgezeichnet

Hirnforscher haben festgestellt, dass wir täglich 20 000 Blitzentscheidungen treffen. Die meisten davon landen erst gar nicht in unserem Bewusstsein, aber eine Handvoll erreicht die Ebene, dass wir darüber nachdenken. Sich zwischen Erdbeer- und Vanilleeis zu entscheiden bringt einen normalerweise nicht in Bedrängnis, aber wie sieht es aus, wenn man ein Jobangebot in den USA bekommt? Oder eine Hyperinflation das eigene Vermögen aufzufressen droht? Da sollte man kühl entscheiden, aber genau das ist oft schwierig.

Hartmut Walz zeigt an 60 anschaulich gewählten und vor allem sehr realistischen Beispielen, wie man sich oft selbst in die Irre führt, indem einem die Psychologie einen Streich spielt.

Der Aufbau der Kapitel ist didaktisch immer gleich: Das Beispiel führt in das Thema ein, der Entscheidungsfehler wird kurz und prägnant erklärt, ggf. folgen weitere Beispiele und abschließend bekommt man Tipps, Tricks und Handlungsanweisungen, um solche Fehler zu vermeiden. Ein paar kluge Zitate, sowie Literaturempfehlungen und Querverweise auf andere Kapitel runden den Abschnitt ab.

Ein Beispiel hat mich wirklich beunruhigt und mir klargemacht, dass unsere Gesellschaft gerade auf einem sehr gefährlichen Weg ist. Hartmut Walz nennt dieses Phänomen „Renormierung“: Wenn die Mehrheit tolerant und flexibel ist, jedoch eine Minderheit hartnäckig und starr, so wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Minderheit der Mehrheit ihre Spielregeln vorschreiben. „Der Klügere gibt nach, bis er am Ende der Dümmere ist“, bringt es Hartmut Walz auf den Punkt. Aber das ist natürlich nicht die einzige Strategie, die unsere Entscheidungen manipuliert. Hartmut Walz erklärt z. B. auch, wie man bei unzureichender Datenlage trotzdem zu einer Entscheidung kommt oder auch der umgekehrte Fall, wenn Informationen einen überschwemmen und man die relevanten herausfiltern muss. Ein interessantes Phänomen ist der Moralverfall. Wenn ein bestimmter Anteil der Bevölkerung sich nicht mehr an die Regeln hält, kippt der Rest irgendwann hinterher („das machen doch alle so“). Kann man in den letzten Jahren immer häufiger auch im Straßenverkehr beobachten. Dass uns Übermoralisieren („Tugendterror“) ebenfalls in eine Sackgasse treibt, behandelt Hartmut Walz leider nicht, wahrscheinlich, weil er die Reaktion einer hartnäckigen und starren Minderheit fürchtet.

Wenn jeder dieses Buch lesen und verinnerlichen würde, wäre mir um die weitere Existenz unserer bisher noch friedlichen Gesellschaft nicht bange. Da aber die Lesekompetenz mit jeder Generation weiter sinkt, befürchte ich, dass politische Entscheidungen zunehmend von lautem Aktivismus und Gefühl dominieret werden und nicht mehr durch rationales Handeln. Putin, Islamisten oder Woke-Aktivisten haben die Chance erkannt, die sich daraus ergibt. Sie führen ihr Publikum an unsichtbaren Leinen durch die Manege und verhindern, dass wir über den Irrsinn kühl nachdenken.

Wer noch lesen kann, sollte das Buch also lesen. Unbedingt. Es wird höchste Zeit.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.04.2022
Das Inflationsgespenst
Mayer, Thomas

Das Inflationsgespenst


ausgezeichnet

Inflation gibt es, seit es Währungen gibt, deren innerer Wert nicht mehr ihrem Nominal entspricht. Gold- und Silbermünzen besaßen früher den Materialwert, der durch Strecken des Edelmetallgehalts oder Verringerung des Münzgewichts inflationiert wurde. Mit Aufkommen des Papiergelds, und vielleicht noch schlimmer, der digitalen Geldschöpfung auf "Knopfdruck" hat sich das Problem in einigen Phasen der Geschichte so weit vergrößert, dass auch große Währungssysteme zusammenbrachen. Häufig wurde dadurch auch der Zerfall von Staaten beschleunigt.

Thomas Mayer verknüpft in seinem Buch die Geschichte des Geldes mit der Geschichte der Inflation. Anhand zahlreicher Beispiele, die er höchst unterhaltsam und mit viel Informationsgewinn für den Leser aufbereitet, zeigt er, wie die immer gleichen Mechanismen zunächst zur Inflation und dann zum Kollaps führen. Einen besonderen Fokus legt er verständlicherweise auf den Euroraum, dessen durch den Ukrainekrieg noch einmal beschleunigte Inflation er noch gar nicht berücksichtigen konnte. Insgesamt ist er allerdings sehr skeptisch, ob die EZB die Inflation noch einfangen kann (oder überhaupt will). Im Gegenteil, er sieht Deutschlands Zurückhaltung beim Schuldenmachen als einen Fehler an. Denn während die Bevölkerung in Deutschland durch die Sparmaßnahmen großflächig verarmt und der Lebensstandard immer weiter sinken wird, kompensieren die Südstaaten den Wohlstandsverlust zum großen Teil durch verstärktes Schuldenmachen. Am Ende werden die Schulden gestrichen und Deutschland hat als einziges Land die Zeche dafür gezahlt. Typisch für einen zusammenbrechenden Staat ist übrigens, dass er alle Lebensrisiken abzusichern beginnt, um das Wahlvolk bei Laune zu halten. Genau das kann man derzeit sehr gut beobachten, angefangen von Coronahilfen bis zur Flutopferhilfe. Wo früher unternehmerisches Risiko und private Versicherungen notwendig waren, genügt heute oft schon ein Shitstorm in der Presse und das Geld fließt. Das sind insgesamt sehr bedenkliche Entwicklungen.

Geld hat seine Funktion als Mittel zur Wertaufbewahrung verloren. Doch was tun? Auch hier hat Thomas Mayer einige diskussionswürdige Vorschläge, die er aus den Erfahrungen von Inflationsblasen in der Vergangenheit ableitet. Dazu gehört die Inflationsphase der Siebzigerjahre, die japanische Bubble-Ökonomie der Neunziger, aber auch historische Währungsreformen.

„Das Inflationsgespenst“ ist hervorragend geschrieben, es schürt weder Panik, noch verharmlost es die Tatsachen. Es gibt zwar eindeutige Warnsignale, die den Euro existenziell bedrohen, aber andererseits ist Inflation nicht automatisch ein Todesurteil. Wäre nicht Thomas Mayers zuweilen nervtötende Selbstbeweihräucherung, es wäre für mich ein noch größerer Gewinn gewesen, dieses spannende, informative und sogar lehrreiche Buch zu lesen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.