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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 832 Bewertungen
Bewertung vom 21.03.2019
Lempi, das heißt Liebe
Rytisalo, Minna

Lempi, das heißt Liebe


sehr gut

Eine Frau in drei Geschichten

Mit dem Zusatz «das heißt Liebe» im deutschen Titel des Romans «Lempi» von Minna Rytisalo werden viele Leser vermutlich auf eine falsche Fährte gelockt. Denn dieses Debüt der finnischen Autorin ist geradezu eine Dekonstruktion der Liebe, also alles andere als ein klassischer Liebesroman. Vor dem historischen Hintergrund des Lapplandkrieges wird dieses beliebte Sujet hier auf beklemmende Weise konterkariert, wird das allfällige Gefühlschaos als grausame Illusion entlarvt.

Die junge Sisko animiert ihre lebenslustige Zwillingsschwester zu einer makabren Wette: Lempi würde den ersten Mann heiraten, der Finnisch spricht und alleine den Laden betritt. Und Lempi schnappt sich denn auch prompt den großen blonden Mann, der morgens als Erster in den Krämerladen des Vaters kommt, ein einfacher Bauer, der sich Hals über Kopf in die übermütige Lempi verliebt, - bald schon wird das Aufgebot bestellt. Für sie eine Heirat «nach unten» zwar, aber das Paar verlebt einen kurzen, rauschhaften Sommer miteinander. Gleichzeitig jedoch trifft die verwöhnte junge Frau auf dem armseligen Hof auch auf eine ungewohnt raue Lebenswirklichkeit, die sich dann noch härter für sie erweist, als ihr Mann zum Kriegsdienst einberufen wird und sie als Schwangere die schwere Arbeit auf dem Hof nun mit der Magd Elli allein bewältigen muss. Dies ist das Handlungsgerüst, an dem sich die Geschichte von Minna Rytisalo aus drei Perspektiven empor rankt.

Zunächst aus der von Viljami, der als gebrochenen Mann aus dem Krieg zurückkehrt. Seine Frau sei mit einem deutschen Soldaten fortgefahren und habe ihr Neugeborenes und den Ziehsohn allein zurückgelassen, erklärt ihm die Magd. Im zweiten Teil wird aus ihrer Perspektive erzählt, wie sie Lempis Sohn und auch den Ziehsohn allein durchgebracht hat in den schweren Kriegszeiten. Sie ist voller Hass gegen Lempi, hat sie von Anfang an zutiefst verachtet, und als nun Viljami zurückkehrt, den sie immer schon für sich haben wollte, wirft sie sich ihm an den Hals und erobert den schwermütigen Mann mühelos. Der mit «Sisko» betitelte dritte Teil erzählt in der nun folgenden Hälfte des Romans die Geschichte von Lempis Zwillingsschwester. Diese dritte Ich-Erzählerin hat mit dem deutschen Soldaten Max angebandelt und ist mit ihm 1944 vor der Offensive der Roten Armee nach Norwegen geflüchtet, später in Hamburg gelandet, - und dort hat Max sie dann verlassen. In Rückblenden erzählt die desillusionierte alte Frau nun von ihrem tragischen Leben, das stark von ihrer verschwundenen Zwillingsschwester geprägt war, deren rätselhaftes Schicksal neben Siskos eigner Geschichte nun auch noch in einer dritten Version vor dem Leser ausgebreitet wird.

In einem kurzen Prolog aus der Jetztzeit wird vorweg über die Ankunft von Sisko, die inzwischen eine alte Frau ist, auf dem Hof von Viljami berichtet, gefolgt von drei kurzen Briefen Ellis vom Herbst 1944, in denen sie dem an der Front kämpfenden Viljami von Lempis Verschwinden und seinem neugeborenen Sohn berichtet. Der raffiniert konstruierte, mit einem elegischen Grundton überlagerte Roman ist in einer schlichten, fast kargen Sprache geschrieben, oft in Du-Form, so als wäre das Gesagte an Lempi gerichtet, wobei die drei Teile sprachlich auch noch jeweils ihre eigene Tönung haben. Minna Rytisalo erzählt nicht nur sehr sprunghaft und unvollständig, auch ein Zusammendenken der drei Geschichten und allerlei Querverweise ergeben kein schlüssiges Bild über Lempis Verschwinden. Es gibt nur dezente Hinweise, einmal wird zum Beispiel ein Grab unter der Tanne angedeutet, am Ende kommt der Sohn mit einem Kieferknochen aus dem Garten, - so beiläufig, dass man es fast überliest. Zu den Lesefrüchten gehören neben der historisch lehrreichen Seite dieses Romans die illusionslosen Reflexionen über das schwierige Verhältnis der Geschlechter zueinander, besonders genossen habe ich zudem das narrative Können dieser neuentdeckten Autorin.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.03.2019
Die folgende Geschichte
Nooteboom, Cees

Die folgende Geschichte


ausgezeichnet

Literarisch eine Offenbarung

Der schon lange nobelpreisverdächtige niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom hat mit seiner Erzählung «Die folgende Geschichte» ein Auftragswerk geschrieben, das als werbewirksames «Buchwochengeschenk» vom 6. bis zum 16. März 1991 jeder holländische Buchkäufer als kostenlose Zugabe erhielt, die Auflage betrug stolze 540.000 Exemplare. Die exzellente deutsche Übersetzung erschien dann im September in einer hundert Mal kleineren, bescheidenen Auflage von 5.300 Exemplaren. Kurz danach, am 10. Oktober, sagte Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett des ZDF: «Ich habe das Buch nicht ganz verstanden. Ich muss es ein zweites Mal lesen. Doch was ich von dem Buch verstanden habe, hat mich tief beeindruckt», und er wünschte sich, «es sollte ein Bestseller werden». Nach diesem hymnischen Lob wurde es zumindest in Deutschland tatsächlich ein Bestseller und markierte endgültig auch den literarischen Durchbruch des im eigenen Lande kaum beachteten Autors, ein bis dato nur wenigen literarischen Gourmets bekannter Außenseiter. Weltweit folgten positive Rezensionen, nur Peter Handke schrieb in seiner Schmähkritik: «Das ist Kitsch der äußersten Papierklasse» und nannte das Buch verächtlich «das Beispiel eines plündernden Postmodernismus». Inzwischen liegt auch eine literaturwissenschaftlich brillant kommentierte Ausgabe von Helmut Nobis zu diesem Handkeschen «Kitsch» vor, samt detaillierter Strukturskizze und intelligenten Deutungsansätzen, - soviel zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte.

Der ehemalige Lehrer für alte Sprachen, unter dem Synonym Dr. Strabo nun widerwillig als Verfasser von Reiseberichten tätig, wacht in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, obwohl er sich doch am Vorabend in Amsterdam ins Bett gelegt hat. Herman Mussert kennt das Zimmer, hier hatte er vor zwanzig Jahren mal mit seiner Kollegin, der Frau des Turnlehrers, einige Tage verbracht. Sie wollte sich durch dieses Liebesabenteuer mit «Sokrates», wie der engagierte Altphilologe von seinen Schülern liebevoll genannt wurde, an ihrem untreuen Ehemann rächen. Denn der hat ein Verhältnis mit Lisa d’India, einer hochbegabten, charismatischen Schülerin. «Sie ist die Freude meiner alten Tage» sagt Mussert, der sie begeistert «Kriton» nennt nach dem Schüler des Sokrates. Aber wer ist er nun eigentlich, das «Ich» in Amsterdam oder das «Ich» in Lissabon? Ist das «Ich» in Amsterdam schon tot? Wer sich erinnert, lebt, soviel ist sicher! Er beginnt seine «Erinnerungsarbeit» und streift sinnierend durch Lissabon.

Im zweiten Teil der Erzählung befindet er sich plötzlich mit einer seltsamen Reisegruppe auf einem Schiff, das vom Stadtteil Belém zum brasilianischen Belém unterwegs ist und dann in den Amazonas hinein fährt, der hier jedoch der Acheron ist. Nach Art des Dekamerons erzählen die Passagiere nacheinander ihre Geschichten, es sind die Geschichten ihres Todes. Als Mussert dran ist zu erzählen, merkt er, «dass die Frau, die da sitzt und auf mich wartet, das Gesicht meiner allerliebsten Kriton hat, des Mädchens, das meine Schülerin war, so jung, dass man mit ihr über die Unsterblichkeit sprechen konnte. Und dann erzählte ich ihr, und dann erzählte ich dir ‹Die folgende Geschichte›.» Mit diesen Worten endet die Erzählung.

Der überwiegende Teil der 540.000 stolzen Buchbesitzer in Holland dürfte ihr Geschenk schon nach wenigen Seiten ratlos zur Seite gelegt und einer Endlagerung im Bücherregal zugeführt haben! Es handelt sich nämlich um ein narrativ hochkomplexes, anspielungsreiches, extrem anspruchsvolles, ergo schwierig zu lesendes Werk. Der Autor lässt seiner metaphysischen Intention freien Lauf, und herausgekommen ist ein modernes Glasperlenspiel, in einer intellektuellen Variante allerdings. Für den aufnahmebereiten, aufmerksamen, idealerweise auch hinreichend humanistisch vorgeprägten Leser ist diese Erzählung ohne Frage eine auf höchstem Niveau angesiedelte, literarische Offenbarung.

Bewertung vom 19.03.2019
Roman ohne Held
Kolb, Ulrike

Roman ohne Held


schlecht

Konzeptionell danebengelungen

Die Lektüre des Buches von Ulrike Kolb mit dem deskriptiven Titel «Roman ohne Held» verblüfft den Leser gleich zu Beginn. Denn da wird detailliert - aus der Perspektive eines Ertrinkenden - dessen Ertrinken geschildert, werden geradezu minutiös alle medizinischen Phasen des Sterbeprozesses aufgezählt bis zum endgültigen Exitus. Und ganz offensichtlich, so merkt der erstaunte Leser, soll es so weitergehen mit dem toten Ich-Erzähler, er berichtet wie in einem medizinischen Lehrbuch von den vergeblichen Versuchen zur Wiederbelebung ebenso wie von der nachfolgenden Obduktion seines Körpers in der Pathologie. Eine anatomische Lehrstunde geradezu, man fühlt sich wie ein junger Medizinstudent, - von denen der eine oder andere zartbesaitete genau da ja schon mal weiche Knie bekommt und dann doch lieber Jura studiert. Es ist diese irritierende narrative Sichtweise aus dem Jenseits, die sehr geschickt einen starken Sog zum Weiterlesen erzeugt.

Nach dem Tod wird denn auch gleich die schwere Geburt des namenlos bleibenden Ich-Erzählers geschildert, genau so medizinisch detailliert, nur dass hier ein psychologisches Element hinzukommt, die Mutter wünscht dem hässlichen Säugling, der zunächst kein Lebenszeichen von sich gibt, den Tod, die Hebamme solle ihn einfach ans offene Fenster legen, damit seine kaum vorhandenen Lebensgeister sich wegen der Kälte nicht entfalten. Aber dann kommt doch noch der befreiende erste Schrei des Neugeborenen, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn was wir im Folgenden lesen ist die Geschichte eines von Geburt an unter seiner Zurückweisung leidenden Mannes, den die Welt geradezu anekelt, der in allem nur das Schlechte sieht. Immer wieder wird seine lebenslängliche, unheilvolle Getriebenheit auf dieses eine elementare Ereignis seiner frustrierenden Geburt zurückgeführt. Wobei sein fataler Urschmerz meist durch Gerüche ausgelöst wird, Schweiß, Eiter, Erbrochenes, Menstruationsblut, Kot und Urin bewirken zwanghaft Ekelgefühle bei ihm. Und sein eigener «Seelengestank» hindert ihn am Atmen, der «Pesthauch meines Selbst», sagt er.

Leider hat sich Ulrike Kolb mit ihrer kreativen Idee vom Erzählen aus dem Totenreich heraus gründlich verhoben, denn sie kann diese außergewöhnliche Perspektive nicht durchhalten und wechselt zunehmend in die Sicht der Tochter des Toten, die sich imaginativ die Lebenserinnerungen des Vaters aneignet: «Indem sie sich vorstellt, ich wäre derjenige, der schreibt», liest man da, «lässt sie Szenen des Lebens aufleuchten, die der Lebende vergessen hat, um sie in die Kellerverliese seiner Seele herabzupressen.» Und dieses Leben ist vom Chaos geprägt, familiär hinterlässt der - ja nun doch vorhandene - «Held» nur Trümmer, er ist geschieden, der Sohn und die Tochter haben sich von ihm abgewandt, seine Mätresse nimmt ihn finanziell aus nach Strich und Faden, er hat keine Freunde und vagabundiert einsam durch die Welt. Das ererbte Vermögen hat er durch obskure Geschäfte vervielfacht, dann aber auch wieder verloren oder so raffiniert versteckt, dass es sogar für ihn selbst am Ende großenteils nicht mehr auffindbar ist, zum Teil auf Nummernkonten schlummert, deren Nummern er vergessen hat. Zudem wird er auch noch von skrupellosen Vermögensberatern betrogen, es bleibt kaum etwas übrig vom einst so eifrig zusammengerafften Mammon, als schließlich der Sarg ins Grab gesenkt wird.

Schlüssig ist all das nicht, weder familiäres und finanzielles Chaos noch die traumatischen Kriegserlebnisse in Babyn Jar oder die sadomasochistischen Anwandlungen des fiesen Helden, für den Perversion, Gewalt und Sex untrennbar zusammengehören. Der erzählerische Schwerpunkt liegt schon fast penetrant auf der schieren Körperlichkeit, während die psychologischen Aspekte allzu klischeehaft und unmotiviert aneinander gereiht werden. Auch wenn manches dabei gut erzählt wird, so ist der Roman als Ganzes konzeptionell doch gründlich danebengelungen!

Bewertung vom 16.03.2019
Gilles' Frau
Bourdouxhe, Madeleine

Gilles' Frau


gut

Unwiederbringlich

Im Jahre 1937 erschien der Roman «Gilles´ Frau» als Debüt der belgischen Schriftstellerin Madeleine Bourdouxhe - und blieb weitgehend unbeachtet. Zwölf Jahre später ging Simone de Beauvoir dann in ihrem berühmten Buch «Das andere Geschlecht» ausführlich auf die Thematik in Bourdouxhes Roman ein, der die Diskrepanzen weiblicher und männlicher Sexualität in fiktionaler Form aufzeigt. Wiederentdeckt, und durch diverse Übersetzungen weithin bekannt, wurde er erst 1985, von der Kritik in Frankreich damals als makelloses Debüt gefeiert. Ein Klassiker also, der den heutigen Leser eventuell irritieren wird mit seiner feministischen Problematik, über die inzwischen zwar die Zeit hinweg gegangen ist, deren Grundbedingungen aber als genetische Prägung ja nach wie vor gelten dürften.

Der Arbeiter Gilles, ein äußerst stattlicher, kräftiger Mann, und seine attraktive, ebenso fleißige wie brave Ehefrau Elisa leben mit ihren kleinen Zwillingstöchtern glücklich und zufrieden in einer belgischen Industriestadt, - Lüttich vermutlich, der Name wird nicht genannt. Ihre auch sexuell beglückende Zweisamkeit in einer rundum harmonischen Ehe wird abrupt gestört, als es Elisas jüngerer Schwester Victorine gelingt, Gilles zu verführen. Schlagartig wird er ihr regelrecht hörig und gesteht nach einiger Zeit schließlich seiner bereits etwas Derartiges ahnenden Frau diese rauschartige, leidenschaftliche Affäre. Elisas Lebensglück, ihr Daseinszweck gar besteht darin, «Gilles´ Frau» zu sein, nicht nur juristisch, sondern auch sexuell, etwas anderes kann sie sich mit ihrem schlichten Gemüt beim besten Willen nicht vorstellen. Sie hofft nun inständig darauf, dass er sich irgendwann aus seiner fatalen, rein triebgesteuerten Abhängigkeit wird lösen können, und lebt fortan unfreiwillig in einer Ménage-à-trois, - eine Demütigung, die sie geduldig hinnimmt. Nach außen hin ändert sich nichts, sie erwartet ihr drittes Kind, der untreue Gilles bleibt bei ihr wohnen und kümmert sich nach wie vor um Frau und Kinder, trifft sich aber sehr oft zum Sex mit der lasziven Victorine. Als die jedoch plötzlich verkündet, einen anderen Mann heiraten zu wollen, rastet der eifersüchtige Gilles in seiner primitiven Männlichkeit total aus und schlägt sie grün und blau. Allmählich gelingt es ihm dann zwar doch, sich aus seiner sexuellen Obsession zu lösen, aber seine Liebe zu Elisa lebt nicht wieder auf. Er ist ziemlich lethargisch geworden und hat jegliches Interesse an ihr verloren. Elisa ist fassungslos, ihr Glück ist endgültig zerstört!

Dieser Roman trägt alle Züge einer antiken Tragödie, geradezu paradigmatisch wird hier der gescheiterte Versuch einer einfachen Frau ohne ausgeprägte eigene Identität geschildert, den aus ihrer schon beinahe symbiotischen Ehe ausgebrochenen Mann zurück zu gewinnen, egal wie. Beide Protagonisten dieser fast ausschließlich auf sie fokussierten, kammerspielartig aufgebauten Geschichte scheitern. Gilles scheitert an der Amour fou mit seiner leichtlebigen Schwägerin, Elisa an der nun endgültig erloschenen Liebe ihres Mannes, - Fontane hat seinen thematisch vergleichbaren Roman sehr treffend «Unwiederbringlich« betitelt, - mit einem ebenso katharsisähnlichen Ende übrigens.

Es ist die schicksalhafte Vorbestimmung, die das Geschehen in diesem Roman schon bei der Schilderung der ehelichen Idylle von Anfang an drohend überlagert, zu schön um wahr zu sein, quasi. Wobei Madeleine Bourdouxhe mit ihrer zurückgenommenen, schlichten Sprache komplexe, emotionale Vorgänge extrem komprimiert zu veranschaulichen versteht. Wozu ist die zerstörerische Kraft einer bedingungslosen Liebe fähig? «Die Auslöschung der eigenen Person im Namen der Liebe – das ist mehr oder weniger die Geschichte aller Frauen» hat die Autorin einst in einem Kommentar zu ihrem Roman kurz und bündig festgestellt. Und wenn man dieses Buch gelesen hat, dann ist man fast geneigt, ihr das tatsächlich auch zu glauben.

Bewertung vom 12.03.2019
Konzert ohne Dichter
Modick, Klaus

Konzert ohne Dichter


weniger gut

Vorsicht Bestseller

Von Feuilleton und Leserschaft gleichermaßen positiv aufgenommen wurde 2015 der Künstlerroman «Konzert ohne Dichter» von Klaus Modick, er war schnell zum Bestseller avanciert. Sein Thema ist die Entstehung eines Gemäldes im Dunstkreis der Künstlerkolonie in Worpswede Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts, wobei der «Dichter» im Buchtitel für Rainer Maria Rilke steht. Der gehörte als Poet ebenfalls zu diesem Künstlerkollektiv und fehlt geradezu demonstrativ auf dem berühmten Jugendstilgemälde «Sommerabend» von Heinrich Vogeler, - die ungleichen Freunde hatten sich entzweit. Und Rilke wurde kurzerhand übermalt, der freie Platz auf der Gartenbank zwischen Paula Becker und Clara Westhoff ist jedenfalls ein unübersehbares Indiz dafür.

Überhaupt kommt Rilke nicht gut weg in diesem Roman, in dem der «Barkenhoff», das prächtige Anwesen des erfolgreichen Malers, als Zentrum einer Gruppe von Künstlern fungiert, zu denen neben den beiden schon erwähnten jungen Malerinnen eben auch der Lyriker gehörte, der eine Monografie über die Worpsweder Künstler geschrieben hatte, er war quasi das Sprachrohr nach draußen. Den äußeren Rahmen der Geschichte bilden die drei Tage vom 7. Juni bis 9. Juni 1905, in den entsprechenden Kapiteln wird vom Leben in der Künstlerkolonie erzählt und von der Reise des Malers nach Oldenburg, wo ihm am 9. Juni auf der Kunstausstellung vom Großherzog eine Goldmedaille für sein monumentales Gemälde übergeben werden soll. In Rückblenden breitet der Autor, gestützt auf die Tagebücher und Briefe Rilkes sowie die Lebenserinnerungen Vogelers, die Geschichte der berühmten Künstlerkolonie vor uns aus.

Wobei die problematische Freundschaft mit Rilke den roten Faden bildet, an dem entlang sich diese Erzählung von den zwei ungleichen Künstlerseelen rankt. Vogeler ist überaus erfolgreich, lebt auf großem Fuße, wird sowohl als Maler wie auch als Kunsthandwerker, Designer, Grafiker und Architekt geradezu hymnisch verehrt, während der junge Rilke mit seiner Literatur kaum beachtet wird, er lebt in prekären Verhältnissen, zumeist auf Pump, sein Malerfreund muss ihm öfter mal finanziell unter die Arme greifen. Während Rilke wie besessen arbeitet, sich in Gesellschaft aufdringlich in den Vordergrund schiebt, Gelegenheiten also geradezu herbeizwingt, um seine Lyrik vorzutragen, ist Vogeler eher ein selbstkritischer Künstler, der seine Mittelmäßigkeit erkennt, - am Ende sogar in seinem prämierten Gemälde. Das möchte er deshalb auch unbedingt von dem Mäzen zurückkaufen, der es ihm seinerzeit, noch während der fünfjährigen Arbeit daran, unfertig auf der Staffelei abgekauft hatte. Er will es nun vernichten, so peinlich ist ihm seine eher plakative Kunst inzwischen! Während er an seiner unglücklichen Ehe leidet und sich als Handwerker in einem goldenen Käfig fühlt, hat der lebenslustige Frauenheld Rilke scheinbar eine Ménage-à-trois mit den Malerinnen Clara und Paula, die ihn beide umschwärmen, - später heiratet Clara den Poeten und Paula wird die Frau von Otto Modersohn.

Wo liegt denn nun der Lesegenuss bei diesem Künstlerroman? Ist es die Idylle von Worpswede mitten im Teufelsmoor, die Klaus Modick da ebenso betulich wie ornamental schildert? Oder die Malerei, über die er kundig zu schreiben versteht? Von jedem ein bisschen, würde ich sagen, aber mir war das ein bisschen zu wenig.

PS Der Rest meiner Rezension blieb im Uploadfilter hängen und ist auf meiner eigenen Website ortaia.de nachzulesen!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.03.2019
Die Judenbuche
Droste-Hülshoff, Annette von

Die Judenbuche


gut

Nicht nur morgens lesenswert

Deutschlands bedeutendste Schriftstellerin des 19ten Jahrhunderts, Annette von Droste-Hülshoff, hat mit ihrer 1842 im «Cotta’schen Morgenblatt für gebildete Leser» erstmals erschienen Novelle «Die Judenbuche» ein Prosawerk geschaffen, dessen Stoff viele zum Wiederlesen anregt und das als Klassiker auch heutige Leser zu begeistern vermag. Mit dem von der Autorin ursprünglich gewählten Titel «Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen», den der Verlag seinerzeit publikumswirksam abgeändert hat, ist das literarische Genre bereits genannt, es handelt sich um eine Milieustudie in einem abgelegenen Dorf Westfalens. Der große Erfolg dieses Büchleins liegt wohl nicht zuletzt darin begründet, dass es sich um eine Kriminalgeschichte handelt, es gibt einen Mord und noch zwei weitere tragische Todesfälle, genug Potential also, um wohligen Schauer beim «gebildeten Leser» zu erzeugen.

Protagonist dieser Novelle ist Friedrich Mergel, dessen Vater ein gewalttätiger Alkoholiker ist, der sturzbetrunken in einer Winternacht im Wald einschläft und erfriert. Der neunjährige Sohn hilft fortan seiner Mutter als Kuhhirte, bis ihn sein zwielichtiger Onkel quasi «adoptiert» und ihn bei sich beschäftigt. Dort lernt er Johannes Niemand kennen, dessen unehelichen Sohn, der ihm verblüffend ähnlich sieht und sich mit ihm anfreundet. Eine Blaukittel genannte brutale Bande von skrupellosen Holzdieben treibt in den dichten Wäldern ihr Unwesen und benutzt dabei auch Friedrich zum Schmierestehen. Als eines Nachts plötzlich der Oberförster auftaucht, warnt er die Bande und schickt den Forstmann in einen Hinterhalt, wo er später, mit einer Axt erschlagen, aufgefunden wird. Obwohl man Friedrich nichts beweisen kann, fühlt er sich mitschuldig. Auf einer Hochzeitsfeier bezichtigt ihn später der Jude Aaron vor allen Leuten des Betrugs, er habe seine teure Uhr nicht bezahlt. Kurz danach wird die Leiche des Juden im Wald unter einer Buche gefunden, der Verdacht fällt sofort auf Friedrich, zusammen mit Johannes gelingt ihm die Flucht. Der Baum wird fortan die «Judenbuche» genannt, die Juden schließen sich zusammen, kaufen dem Gutsherrn den Baum ab und ritzen auf Hebräisch den Satz «Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast». Achtundzwanzig Jahre später, der Mord ist längst vergessen, taucht an Heiligabend 1788 ein ausgezehrter Mann im Dorf auf, der verschollene Johannes Niemand. Er verdingt sich beim Gutsherrn und wird Monate später plötzlich vermisst, bis ihn der Sohn des ermordeten Oberförsters zufällig erhängt in der Judenbuche entdeckt. Bei der Untersuchung der Leiche kann der Gutsherr anhand einer Narbe den Toten als Friedrich Mergel identifizieren, der daraufhin ehrlos auf dem Schindanger verscharrt wird.

Die Autorin schreibt nach dem ergebnislosen Verhör von Friedrich, dass der Mord nie aufgeklärt wurde. «Es würde in einer erdichteten Geschichte Unrecht sein, die Neugier des Lesers so zu täuschen. Aber dies Alles hat sich wirklich zugetragen», beteuert sie. In der rückständigen, vom Gutsherrn ausgeübten, niederen Gerichtsbarkeit jener Zeit galt ein primitives Gewohnheitsrecht, die Judenfeindlichkeit war allgegenwärtig. Das Unrecht wird in dieser Erzählung durch die Dunkelheit symbolisiert, die bei all den Schandtaten herrscht, der undurchdringliche Wald dient als finsterer Tatort.

Ein Kennzeichen dieser Novelle ist die unzuverlässige Erzählweise, die für manche Rätsel sorgt beim Leser. Die handelnden Figuren erscheinen seltsam unbehaust, sie sind unsicher und schwer zu verstehen in ihrem Handeln, ihr Seelenleben bleibt im Dunkeln. Liebe scheint ein Fremdwort zu sein, Mann und Frau finden zueinander aus dumpfem Opportunismus, selbst über der geschilderten Hochzeitsfeier schwebt drohend das Unheil. Eine stilistisch gekonnte, bereichernde Lektüre ist «Die Judenbuche» erstaunlicherweise auch heute noch, nach fast zweihundert Jahren.

Bewertung vom 11.03.2019
Und Marx stand still in Darwins Garten
Jerger, Ilona

Und Marx stand still in Darwins Garten


weniger gut

Evolution und Revolution

Was Kehlmann mit seiner Doppelbiografie von Gauß und Humboldt recht war, kann Ilona Jerger mit Darwin und Marx nur billig sein, ihr Debütroman «Und Marx stand still in Darwins Garten» baut ebenfalls auf einer fiktiven Begegnung zweier berühmter Männer auf, die sich in Wahrheit nie begegnet sind. Wobei die Herren hier nicht nur zur gleichen Zeit gelebt haben, sondern auch noch dicht beieinander im Großraum London wohnten. Wie die Namen schon anzeigen, geht es hier thematisch also um Evolution und Revolution, stehen sich die Naturwissenschaft mit ihrer materialistischen Weltsicht und die Philosophie in Form einer ökonomisch determinierten, soziologischen Theorie von der nur revolutionär zu überwindenden Verelendung des Massen gegenüber. Während Darwins naturgesetzliche These heftig mit der Religion kollidiert, prallen bei Marx unversöhnlich politische Gegensätze aufeinander.

Was wäre gewesen, wenn diese beiden Wissenschaftler aufeinandergetroffen wären? Ilona Jerger beginnt mit einem Traum, in dem Charles Darwin als «Kaplan des Teufels» einen Überfall von klerikalen Eiferern erlebt, die sein Haus verwüsten und die Erstausgabe seines Werks «Über die Entstehung der Arten» verbrennen. Man schreibt das Jahr 1881, Darwin ist 72 Jahre alt und von Krankheit gezeichnet. Gleichwohl arbeitet er täglich an allerlei Studien, mit denen er der Natur experimentell ihre Geheimnisse zu entlocken sucht. Er lebt im Wohlstand, ist mit einer Erbin der Wedgwood-Dynastie verheiratet, seine Bücher werden auf der ganzen Welt gelesen. Nur in den Adelsstand wurde er nicht erhoben, erhielt dann aber immerhin ein Staatsbegräbnis mit Beisetzung in der Westminster Abbey. Anders Karl Marx, «der Jude aus Trier», wie das Kapitel betitelt ist, in dem er in den Blickpunkt rückt, er lebt zu dieser Zeit, bespitzelt von preußischen Spionen, als Exilant unter bedrückenden Verhältnissen in London und ist ständig auf die Unterstützung seines wohlhabenden Freundes und Mentors Friedrich Engels angewiesen. Als Autor ist er nicht sonderlich erfolgreich, von seinem Standardwerk «Das Kapital» ist bisher nur der erste Band erschienen, an den zwei Folgebänden arbeitet er seit Jahren, sie wurden schließlich posthum von Engels fertig gestellt.

Ilona Jerger baut als Bindeglied zwischen ihren Protagonisten einen erfolgreichen Arzt mit ein, der die beiden alten Männer behandelt und mit ihnen viel über ihre Forschungsarbeiten spricht. Seiner Absicht aber, sie irgendwann einmal zusammen zu bringen, kommt ein glühender Vertreter der Evolutionstheorie zuvor, ein Freidenker, der dringend um ein Treffen mit Darwin nachsucht und bittet, auch seinen Schwiegervater mitbringen zu dürfen. Unter dem Titel «Tischgebet mit Ungläubigen» kommt es am 8. Oktober 1881 zu dem fiktiven Dinner, bei dem sich der avisierte Schwiegervater als Karl Marx herausstellt. Darwins frömmelnde Frau Emma hat als Beistand für die zu erwartenden Dispute auch den Dorfpfarrer hinzugebeten.

Diese vom Leser mit Spannung erwartete Schlüsselszene enthält zwar die verschiedenen Argumentationen, arbeitet aber weder den atheistischen Kernsatz «Religion ist Opium für das Volk» von Marx noch das «Gott ist tot» des Evolutionsbiologen stimmig heraus. Hier hatte ich funkelnde Wortgefechte erwartet statt eines zerfasernden, eher lauen Wortgeplänkels. Dafür thematisiert die Autorin in epischer Breite die Gebrechen der beiden alten Männer, lesen wir seitenlang von Flatulenz und anderem physischen Ungemach statt vom blühenden Unsinn der Genesis. Interessantestes Kapitel in diesem historischen Roman war stattdessen für mich die Rückblende auf die fünfjährige Weltreise des jungen Darwin mit dem Vermessungsschiff »Beagle», und zweifellos sind auch andere biografischen Schilderungen bereichernd. Aber das, was den Leser neugierig macht schon vom Titel her, das hat mich narrativ denn doch ziemlich enttäuscht. Die gute Idee allein macht noch keinen guten Roman!

Bewertung vom 03.03.2019
Die Überwindung der Schwerkraft
Helle, Heinz

Die Überwindung der Schwerkraft


sehr gut

Vertreibung aus dem Paradies

Über nicht weniger als über das Dasein an sich schreibt Heinz Helle in seinem dritten Roman, unter dem ironischen Titel «Die Überwindung der Schwerkraft» zudem. Es sind die ewigen Fragen der Menschheit, die hier literarisch aufbereitet werden in einer Geschichte zweier Brüder, wobei die Philosophie im Fokus steht, gekonnt verknüpft mit einer eher beiläufigen Handlung. Die fungiert hier quasi als Plattform, als Stichwortgeber für das Feuerwerk an Gedanken, das der Autor, der mit einer philosophischen Dissertation über Bewusstsein promoviert hat, da wagemutig abbrennt, unser Dasein in vielen Facetten kritisch hinterfragend. Ganz nebenbei demaskiert er auch die Seele seines tragischen Helden in dieser tiefschürfenden gedanklichen Exkursion.

«Bald bin ich so alt, wie mein Bruder war, als er starb» lautet der erste Satz des namenlos bleibenden Ich-Erzählers, er ist zehn Jahre jünger gewesen als sei Halbbruder. Weil der gemeinsame Vater einst die Mutter des älteren Sohnes wegen seiner eigenen Mutter verlassen hatte, quälen ihn Schuldgefühle seinem depressiven Halbbruder gegenüber, er verdanke seine Existenz dem Unglück des Älteren, glaubt er. Es war viel Alkohol im Spiel vor sieben Jahren, bei der bierseligen Odyssee der beiden ungleichen Halbbrüder durch das winterliche München. Eine nächtliche Sauftour von Kneipe zu Kneipe als ebenso widerwilliger wie vergeblicher Versuch des jüngeren, die Selbstzerstörung des haltlos gewordenen älteren Bruders aufzuhalten. In den dichten Rauchschwaden ihrer scheinbar archetypisch dazugehörenden Zigaretten versuchen sie, geistig den Durchblick zu behalten, trotz der Unschärfe der menschlichen Existenz alles möglichst kristallklar zu sehen. Bei den ausufernd langen Monologen des Älteren, die gut die Hälfte des Erzählstoffes ausmachen, geht es um die ewigen Menschheitsthemen. Gleichzeitig offenbart sein sich stetig verschlimmerndes Delirium während dieses ephemeren Alkoholexzesses auch überdeutlich sein menschliches Elend. Der Ziellosigkeit seines Studiums mit abgebrochener Promotion folgte eine unstete Berufstätigkeit als Konsequenz aus seinen permanenten Skrupeln und schließlich ein trostloses Ende in prekären Verhältnissen, auch privat. Er sieht sich als werdender Vater, wobei die werdende Mutter eine Prostituierte ist und seine Vaterschaft mehr als zweifelhaft erscheint, beides aber stört ihn überhaupt nicht in seiner inzwischen manifesten Lethargie. Nach ihrer Zechtour sehen sich die Brüder nie mehr wieder, sie telefonieren zwar noch einmal kurz, ehe der jüngere dann, sieben Monate später, die Nachricht vom Tode des älteren erhält, eine heimtückische Krankheit hat ihn dahingerafft.

Das Mirakel um die Gnadenlosigkeit der Existenz wird im Roman durch das stete Forschen des älteren Bruders befeuert, Nachrichten von Unglücken ziehen ihn geradezu magisch an. Immer wieder kommt er in seinen referierenden Monologen auf den Fall Marc Dutroux in Belgien zurück, über den er alles gelesen hat, oder auf die unsäglichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. In endlosen philosophischen Eruptionen ist da von kulturellen, politischen, soziologischen oder historischen Phänomenen die Rede. Er habe manchmal das Gefühl gehabt, formuliert der Bruder, als wäre «die Gesamtheit der menschlichen Kultur nur eine Reihe konzentrisch angelegter Schutzwälle um ein schreckliches Geheimnis, dessen Entdeckung einst den Beginn der Menschheit markierte, die Abspaltung des Menschen vom Affen und damit von der Natur, die Vertreibung aus dem Paradies, wenn man so will …»

Erzählt wird all dies retrospektiv in einem einzigen, monolithischen Textblock, in souverän formulierten, ellenlangen Schachtelsätzen zudem, denen man gleichwohl stets mühelos folgen kann. Der anregend kontemplative Erzählstoff wird präzise und wunderbar stimmig größtenteils in indirekter Rede wiedergeben, man kann sich dem imaginativen Zauber dieser Geschichte kaum entziehen als Leser.

Bewertung vom 01.03.2019
Der blaue Siphon
Widmer, Urs

Der blaue Siphon


ausgezeichnet

Biografie in zwei konträren Zeitreisen

Im vielseitigen Œuvre des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer ist die 1992 erschienene Erzählung «Der blaue Siphon» seine poetologisch bedeutendste Prosa, als Märchen für Erwachsene ist in ihr seine Lust am Fabulieren besonders gekonnt ausgeprägt. Denn eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit wird hier an einer Zeitreise aus eben dieser Vergangenheit in die Zukunft gespiegelt, dem 53jährigen Ich-Erzähler steht also in persona der 3jährige gegenüber, - gewisse autobiografische Bezüge sind dabei unverkennbar.

Die Geschichte wird in zwei Kapiteln erzählt, die den beiden, fünfzig Jahre auseinander liegenden Zeitebenen entsprechen. Auslöser für die Zeitreisen ist jeweils ein Kinobesuch, der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist fünfzig Jahre in seine Kindheit zurück versetzt, als er aus dem Kino kommt. Als 3jähriger Knirps besucht er nun sein Elternhaus in Basel, direkt an der deutschen Grenze gelegen und seiner exponierten Lage wegen von im Dachgeschoss einquartierten Soldaten als Beobachtungsposten genutzt, man traut den Nazis nämlich nicht während des Zweiten Weltkriegs. Außer seiner Familie trifft er sein Kindermädchen wieder und den geliebten Hund. Im Wohnzimmer steht der blaue Siphon, der ihn immer fasziniert hat, der ihn wegen der unter Druck stehenden Kohlensäure-Ampullen aber auch an explodierende Bomben erinnert, an Little Boy zum Beispiel, die Hiroshima-Atombombe. Nur er selbst fehlt, der 3Jährige ist nach einem Kinobesuch spurlos verschwunden, die Polizei sucht nach ihm, zwei Polizisten sitzen im Wohnzimmer der verzweifelten Eltern. Ebenfalls nach einem Kinobesuch steht gleichzeitig der dreijährige Ich-Erzähler staunend vor dem modernen Haus in Zürich, in dem er in fünfzig Jahren wohnen wird. Dort trifft er seine Frau, der er schon als Dreijähriger versprochen hatte, dass er sie heiraten würde, und seine spätere Tochter, - und sogar sein Hund Jimmy begrüßt ihn schwanzwedelnd.

In dem kunstvoll konstruierten, wegen der ineinander verschränkten Zeitebenen recht komplizierten Plot bildet das Kino ein wichtiges Leitmotiv. Handlungsort der Spielfilme, die der kindliche und der 53jährige Erzähler jeweils zu Beginn ihrer parallelen Zeitreisen sehen, ist vermutlich Indien, - so genau weiß er das nicht mehr. Und auch in diesen Filmen geht es um Krieg und Tod, wird ein Unabhängigkeitskampf thematisiert, auch hier gibt es eine Zeitreise des Filmhelden, der einen Mord auf dem Gewissen hat und im zweiten Film schließlich in England eine grandiose Karriere als Schriftsteller macht. Als ständig wiederkehrendes Motiv wird der Krieg, der immer wieder mal in kurzen Sequenzen thematisiert wird, der hinreißend beschriebenen Idylle der Schweizer Heimat des Erzählers gegenüber gestellt und damit brutal konterkariert.

Geschrieben sind die gerade mal hundert Seiten dieser märchenhaften Geschichte in einer stimmig dem Geschehen angepassten, leicht lesbaren Sprache. Verblüffend dabei ist der Zauber, den Urs Widmer durch den narrativen Kniff mit den Zeitreisen zu erzeugen vermag, mit deren trickreicher imaginärer Spiegelung vor allem. Seine ausgefallene Erzählung mit ihren phantastischen Elementen strahlt bei allem thematisch gebotenen Ernst eine wunderbare Leichtigkeit aus. Die Fülle der kuriosen Einfälle des Autors, seine originellen Motivverkettungen, die Verzahnung von Realität und filmischer Fiktion sind in aller Kürze geradezu protokollartig erzählt. Ausschweifende Reflexionen vermeidend werden seine vielfältigen Themen also ohne emotionalen Ballast nur leicht angetippt, - für den Leser entsteht dadurch reichlich Gelegenheit zu eigenen Interpretationen. Diese Erzählung ist rational nicht zu fassen, es ist einfach nur eine schöne, poetische Lektüre für diejenigen Leser, die sich sinnlich darauf einzulassen vermögen. Als Biografie in Form zweier konträrer Zeitreisen stellt sie literarisch eine kreative Rarität dar im deutschen Sprachraum!