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fraedherike

Bewertungen

Insgesamt 71 Bewertungen
Bewertung vom 15.04.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


ausgezeichnet

Erschreckend echt und mitreißend entwirft Jessamine Chan in ihrem Debütroman "Institut für gute Mütter", aus dem Englischen von Friederike Hofert, ein dystopisches Setting, das nachdenklich stimmen lässt. Im Mittelpunkt der Handlung steht Frida: Als Tochter chinesischer Immigranten wurde sie schon seit ihrer Kindheit mit Rassismus konfrontiert, wurde gemobbt, ausgegrenzt, und auch Jahre später noch, als Mutter eines anderthalbjährigen Kindes, erwachsene Frau, Akademikerin, wird sie aufgrund ihres Äußeren bewertet – und damit auch ihre Fähigkeiten als Mutter. Bewusst spielt Chan mit gängigen Klischees, überspitzt sie und verstärkt so noch die dystopische Atmosphäre. Alleine die Vorstellung, rund um die Uhr von Kameras gefilmt zu werden, ständig in Angst, etwas Falsches zu tun, zu sagen, das hat schon etwas von Affen im Zoo, oder einem kruden Forschungsexperiment. Oder einer geheimen Sekte: Es ist den Frauen verboten, jemals über das zu sprechen, was am Institut passierte, ansonsten werden sie niemals wieder Fuß fassen, ein normales Leben führen können. Und: kinderlos bleiben.
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"Nicht jede von ihnen kam als gewalttätige Frau in die Schule, aber jetzt, nach sieben Monaten, wären sie alle dazu fähig jemanden zu erstechen." (S. 289)

Die Geschichte um Frida und das Institut hat mich von der ersten Seite an gefesselt und die moralischen und ethischen Konflikte sowie die immer wieder anklingende Kritik an der patriarchal geprägten Gesellschaft, die Mutterschaft noch immer eindimensional und heterogen sieht, und die Rolle des Frau auf die der Mutter reduziert, nachhaltig beschäftigt. Teilweise zog sich die Handlung ein bisschen, fand dann am Ende für meinen Geschmack zu übereilt zum Ende, ein wenig unbefriedigend vielleicht auch, aber das hat meinen positiven Eindruck nur minimal beeinträchtigt. Das dystopische, gameshowartige Setting, die teilweise stark überzeichneten, simplen Dialoge und Handlungen und das Spiel mit verschiedensten Klischees verleihen der Thematik eine gewisse Lebendigkeit und Brisanz. Ein eindringliches, lange nachhallendes Buch. Große Empfehlung!
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Bewertung vom 05.04.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Ein Alptraum. Siegfried ist tot. Siegfried, ihr Stiefvater, der Mann, mit dem sie aufgewachsen, der immer da gewesen war. Es kann nicht sein, alles war nur ein Traum. Doch er lässt sie nicht los, der Gedanke, dass er nicht mehr da ist, wühlt sie auf. Und dann ist da diese Sirene. Durchdringend füllt sie ihren Kopf, den Raum, es kann nicht sein, dass nur sie dieses auf- und abschwellende Heulen hört. Alles ist zu viel, der Gedanke an Siegfrieds möglichen Tod, das Manuskript, die Deadline, die sie einzuhalten hat. Alex, den sie mit ihrem Lektor Benjamin betrogen hatte. Johnny, ihre Tochter. Sie musste noch Waschmittel kaufen gehen. Geld. Der Vorschuss war aufgebraucht. Sie brauchte Zeit, Zeit um zu schreiben; sie hatte keine Seite geschrieben. Heute würde sie nicht zur Arbeit fahren. In Trenchcoat, ohne Schuhe, den Laptop unter dem Arm fährt sie in die psychiatrische Ambulanz. Dort wird jemand sein, der ihr helfen kann, ihr Leben zu ordnen, das Problem zu finden, das alles aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Sie würde sich endlich ausruhen können.

Neun Lettern, die von Macht sprechen, von altem Geld, von Regeln. Davon, nach dem Besten zu streben, keine Kompromisse: Siegfried. Alle Wege führen zu ihm, denn er war immer da gewesen im Leben der Protagonistin aus Antonia Baums neuem Roman „Siegfried“, körperlich wie geistig, in ihren Gedanken, in ihren Handlungen – Siegfried. Das personifizierte Patriarchat, der Macher.

Sie ist fahrig und aufgewühlt, die namenlose Protagonistin, ihr Leben am Rand einer Klippe, im Fallen begriffen, doch sie kann sich nicht halten. Seit einem Jahr hat sie eine Schreibblockade, ihr Buchprojekt ein ruheloses Blinken des Cursors auf dem Display, und sie hat Angst: dass das Geld ausgeht, vor der Reaktion ihrer Verlegerin, vor Alex. Geld war schon immer ein Streitpunkt ihrer Beziehung. Denn Geld bedeutet für sie Sicherheit. Das war etwas, das er – anders als sie – von seinen Eltern nicht mitbekommen hatte. Sie wuchsen in der DDR auf, die Wende hatte etwas mit ihnen gemacht. Alex schämte sich für sie, die Platte, den Nippes, ihre Kleingeistigkeit; dafür, dass sie kein Geld und keine Ambitionen zu haben schienen: „Sie kämen ihm vor die Kinder, die sich erschreckt hätten, als die Mauer fiel, und sich von dem Schreck nicht mehr erholten. Es ging bei uns nur um Angst. Die haben alles aus Angst gemacht. Das Höchste, was man erreichen konnte, war Sicherheit. Es gab nichts, was ich nachmachen konnte. Oder wollte.“ (S. 125)
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Angst, das war etwas, ihrer Familie auch nicht unbekannt war. Sie blickt zurück, in ihre Kindheit, die Wochen, die sie im Sommer bei Hilde, der Mutter ihres Stiefvaters Siegfried, verbrachte. Hilde ist eine Marke, anders kann man es nicht sagen. Sie vergöttert ihren Sohn, doch liebevoll ist sie nicht, in ihrem Haus wohnt Traurigkeit. Ein wenig kauzig, sonderbar, liebt raffinierte Dinge, eine Macht- und Respektsperson, die sich nach der Sicherheit und Stabilität der 80er Jahre sehnt, immer wieder ihre Erinnerungen an den Krieg nebenbei ins alltägliche Gespräch einfließen lässt. Das Mädchen bekommt jeden Tag die Enttäuschung darüber zu spüren, dass sie eben das ist: kein Junge. Sie wird gefordert, ihre Fortschritte gemessen, klein gehalten; der Blick in den Spiegel wird ihr verwehrt, der offenbaren würde, dass sie älter wird, als könne es den Lauf der Dinge aufhalten.
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Angst auch in ihrem Elternhaus: häusliche Gewalt, Berechnung, patriarchale Macht. Und Angst, als sie – ihr Elternhaus hatte sie lange verlassen – Alex kennenlernt. Sie sehnte sich nach jemandem, der anders ist, anders, als sie es kennengelernt, von Hilde gelehrt bekommen hatte, und fand all das in Alex: Er schien sorglos, was das Leben angeht, seine Zukunft, wollte sich lösen von alten Mustern, seinem Zuhause, doch sie wurde immer wieder befallen von den Zügen, die sie ihr Leben lang vorgelebt bekam. Neurotische Ordnungssucht, genug Waschpulver, Brot. Geld. Das große Streitthema. Und immer wieder scheint Alex sich wie Siegfried zu sein, ihre Beziehung wie die ihrer Eltern: „Ich zitterte, er sah mich lächelnd an, und ich war voller Glück. Ich sah ihn an und dachte, dass er überhaupt keine Ahnung hatte und vor allem keine Angst. Nicht davor, bei mir zu sein, auch nicht davor, allein zu sein. Als ich Jahre später in der Psychiatrie saß, fragte ich mich, was aus Alex und mir geworden war, wie es sein konnte, dass es dem so ähnelte, was meine Eltern miteinander veranstaltet hatten, die Lügen, die Kälte, die Brutalität. Ich konnte es nicht sagen, aber ich hatte eine Ahnung." (S. 113)

Bewertung vom 20.03.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Leonard war schon immer ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch, der, nachdem sein Vater bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war, von seiner Mutter aufgezogen wurde. Sie lehrte ihn Güte und Sanftmut, beschützte ihn, ohne bevormundend zu sein, und brachte ihm stets Respekt und Wertschätzung entgegen – und darauf beruhte ihre besondere Mutter-Sohn-Beziehung. So lebten sie gemeinsamen in seinem Elternhaus – Leonard war inzwischen Anfang Dreißig –, bis seine Mutter eines Nachts plötzlich verstarb. In Leonard tut sich eine Leere auf, die er bis dahin nicht kannte, nicht einmal das Lesen konnte ihn mehr auffangen. Doch er stellte sich der Einsamkeit und dem drohenden Verdruss – und fand in Paul, seinem einzigen Freund, und nicht zuletzt auch dessen Familie den Fixpunkt, den die Nadel seines Kompasses zur Ruhe brachte. Schon immer waren sie beste Freunde, einander mit ihrer Neugier und Bescheidenheit Ying und Yang, schätzen die Beständigkeit und Gleichförmigkeit ihrer Freundschaft, diese sanfte Routine, die sich bald etablieren sollte: Scrabble-Abende mit Pauls Familie, die kurzen Nachrichten, die sie einander schickten, das Wissen, dass sie nicht alleine sind in der Schnelllebigkeit des Alltags. Auch Paul lebt mit Mitte Dreißig – anders als seine Schwester Grace, die mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit steckt – noch bei seinen Eltern Peter und Helen, nicht etwa, weil es ihm an Elan fehlte, nein, er schätze einfach die familiäre Nähe und die Sicherheit, die sie ihm gab. Während Leonard als Ghostwriter für Kinderenzyklopädien arbeitet, Tag für Tag Geschichten über die Römer verfasst, ist Paul Aushilfsbriefträger. Doch dann: ein Feueralarm, ein Blick – und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.

Es gibt diese Bücher, die einem genau zur rechten Zeit in die Hände fallen. Bücher, bei denen du bereits auf den ersten Seiten merkst, dass sie einen Ton treffen, den dein Herz gebraucht hat, eine Harmonie, die es auffängt. Und du beginnst, Sätze anzustreichen, die dich innehalten lassen, die dich etwas – dich! – erkennen, dich vor Geborgenheit übergehen lassen. Solch ein Buch ist „Leonard und Paul“, der Debütroman von Rónán Hession, aus dem Englischen übertragen von Andrea O’Brien.

Voller Wärme und Humor erzählt er von der besonderen Freundschaft zweier Männer Mitte Dreißig, die beide eher eine Nebenrolle auf der großen Bühne des Lebens spielen, zurückgezogen, aber nicht einsam leben – denn sie haben einander. Und Pauls Familie. Aus jedem Gespräch, jeder Interaktion sprechen Liebe und Wertschätzung des Gegenübers, Aufrichtigkeit. Sanften Wortes gibt Hession seinen Protagonisten Konturen, Ecken und Kanten, zeigt ihre Ängste und Bedürfnisse auf, ihre leicht verschroben sympathische Naivität und ihr warmes Herz, das in dem Kokon versteckt ist. Sie wachsen am Leben und den sich auftuenden Herausforderungen, erkennen, dass es noch so viel mehr zu bieten hat, wenn man sich nur traut, sich öffnet und auf Menschen zugeht, denn: „Menschen waren nämlich gar nicht so schlecht. Jedenfalls nicht alle. Vielleicht lag darin gerade die Kunst: die richtigen Menschen zu finden, sie zu erkennen und zu wissen, wie man ihnen Wertschätzung entgegenbrachte, sobald man sie gefunden hatte.“ (S. 168)

Hession spielt mit der Sprache, besticht durch eine unvergleichliche Leichtigkeit, eine Lebendigkeit, die ungemein fröhlich macht. Seine feinen, kluge Beobachtungen haben mich ein ums andere Mal innehalten, die Worte wie einen warmen Schauer aufnehmen lassen. Er vertauscht die Leonard und Paul von der Gesellschaft auferlegten Rollen, stellt ihre Freundschaft und jeweilige Entwicklung in den Vordergrund, wo sie sonst übersehen, unterschätzt und abgewertet werden, während die Geschichte von Pauls ältere Schwester Grace, die auf der Bühne des Lebens schon qua Geburt präsenter war, sie lauter, selbstbewusster, eher einen Nebenschauplatz darstellen soll, handlungsunterstützend statt -leitend. Und doch sind es gerade die Nebencharaktere, die Leonard und Paul voranbringen, ermutigen, über sich hinaus zu wachsen, aus Routinen auszubrechen und auf ihr Können zu vertrauen. Und nicht zuletzt: neue Menschen in ihr Leben zu lassen.

Bewertung vom 14.03.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


gut

So many feelings about this book, but where to start. Ich mochte den Schreibstil. Sehr! GROSSGESCHRIEBEN. Dieses unüberlegt leichte, schnelle Abfeuern von Gedanken, lange Satzketten, den zynisch-verdaddelten Ton, bei dem man nicht weiß, ob man das nun ernst nehmen soll oder welche Version der Protagonistin da nun aus ihr spricht, insbesondere weil Schlagwörter immer wieder in Versalien den Schriftsatz durchbrechen, quasi GÄNSEFÜSSCHEN schreien. Sie ist halt doch auch erst Anfang zwanzig, dagegen fühlte ich mich schon fast wieder alt. Aber nein, mochte ich, hatte regelrecht das Gefühl, in ihrem Kopf zu sitzen und die Karussellpferde durch die Gegend tanzen und auf die Nase fliegen zu sehen. Oder gegen die Wand rennen. Zwar schreibt sie ACHTSAMKEIT und ENTSCHLEUNIGUNG groß, REFLEXION jedoch scheint an ihr vorbeigegangen zu sein. Da kam ich mir dann nicht nur alt vor, sondern wie eine Kindergärtnerin: "Ach, das macht man doch nicht, lass das!" Zwar scheint sie in Bezug auf ihre Gefühle reflektiert zu sein, doch was den Alkohol, die Drogen und das Feiern angeht, naja. Klar, sie ist jung, sie will vergessen, aber so... Naja. Darüber hinaus finde ich, wird sehr flapsig mit dem Thema Depression und/oder Traumabewältigung umgegangen, es als nebensächlich und mit einem Seufzen und dem Kommentar der Mutter, dass sie sich Hilfe suchen solle, und einem Yoga-Retreat abgetan. Finde ich zu wenig. Eh fehlte es mir insgesamt an Tiefe, vieles blieb oberflächlich, und nur zwischen den Zeilen ließ sich Essenz vermuten - und manches Mal auch finden -, und irgendwo auch an Stringenz. Andererseits: She acts her age and her situation. Nur ohne Kopfschutzhelm. Das letzte Drittel flog dann eher an mir vorbei, ich war müde von der Protagonistin, ihrem Gedankenmikado, da konnte mich auch der Schreibstil leider nicht mehr bei der Stange halten.

Bewertung vom 20.02.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


ausgezeichnet

Flirrend wechselt die Erzählperspektive zwischen ihnen hin und her, gibt Aufschluss über ihre Geheimnisse und Gedanken, voreilig gefällte Urteile - nur der Skipper Eric bleibt stumm, seine Gefühle ein Geheimnis. Zaghaft öffnen sie sich einander, doch je leiser die Stimme, desto stärker ihre Wirkung. Die beide Frauen verbindet mehr als sie dachten, trotz des Altersunterschieds: Während Tanja, gelernte medizinische Bademeisterin und Krankenpflegerin, sich noch immer nach einem Kind sehnt, ihrem Freund immer den Rücken freihielt, zurücksteckte, lebt Caroline in ständiger Angst um ihre Tochter Isabella, ihre psychische Instabilität. Ein Kind, das passte nicht in ihren Lebensplan, die sie nach Erfolg und Unabhängigkeit strebte, und doch war die Geburt ihrer Tochter das Beste, was ihr passieren konnte. Doch mit ihrem Nestflucht nahm Isabella der kriselnde Beziehung ihrer Eltern das zusammenhaltende Fundament, aber auch ein "zweites Kind hätte sie nicht glücklicher gemacht". Denn Andreas strahlt, er übertrumpft, er liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Und lässt nichts unversucht, Carolines Nähe wiederzuerlangen. Sein Mittel der Wahl: Eifersucht. Sie spielen einander aus, Nähe und Distanz, fremde Hände, kühle Blicke. Provokation.
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Kristina Hauff schreibt mitreißend und lebendig, fast meint man, das sanfte Schlagen der Wellen gegen den Bug, das Kreischen der Möwen zu hören. Losgelöst vom Rest der Welt konzentriert sie die Handlung auf das Schiff und die Menschen, die auf ihm um sich und einander kämpfen, ein geschlossener Raum mitten auf den blauen Weiten der Schären. Die Atmosphäre wird mit jeder Seemeile gespannter, die Luft dünner, das Herz schlägt schneller. Die kurzen Kapitel, die schnellen Wechsel zwischen Innen- und Außenwelt unterstützen eben diese Tempo noch, und lassen dennoch viel Raum, die Gedanken ihrer Wege ziehen zu lassen, was mir sehr gefallen hat. Die Charaktere sind facettenreich gezeichnet, sie sind nahbar, echt. Fehlbar und gebrochen, suchend nach ihrem Platz in der Welt. Besonders Tanja ist mir sehr ans Herz gewachsen - aus ganz eigenen Gründen. Das Ende, hm, es ließ mich ein wenig unbefriedigt zurück, blieb manches doch sehr offen. Andererseits... Genau deswegen muss ich immer wieder daran zurückdenken, es lässt mich einfach nicht los. Eine Alltagsflucht - Buch auf, Anker los. Die Welt vergessen. Eine große Empfehlung!

Bewertung vom 19.02.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


ausgezeichnet

Seit Annie vor einigen Jahren gestorben ist, repariert Ellis in der Nachtschicht Autos, bessert Lackschäden und Dellen aus; keine schlaflosen Nächte mehr, und dennoch sieht er überall ihren Geist. Doch seine Erinnerungen an sie werden blasser, ihre Stimme, die, wenn sie wieder eine Frank Sinatra-Imitation zum Besten gab, Tote wecken könnte, ein weißes Rauschen. Er ist einsam ohne sie. Ohne Michael. Seine erste große Liebe. Wie in einem Fiebertraum lässt Winman Ellis in Erinnerungen taumeln, zeigt auf, woher seine Vulnerabilität, seine Traurigkeit rühren. Kurze Szenen in Sepia, Momente des Glücks und der Leere, Michaels plötzliches Verschwinden, Liebe und Freundschaft, die die graue Gegenwart in helles Licht tauchen, die auch mich für einen Moment alles um mich vergessen ließen. Und dann findet Ellis auf dem Dachboden seines Vaters, diesem Mann, der nach dem Tod seiner Mutter Dora über sein Leben bestimmte, ihm seiner Freiheit nahm, Künstler zu werden, wie er es immer wollte, der nun vom Alter gezeichnet von der Fürsorge Carols, seiner Lebensgefährtin, abhängig ist: eine Kiste. Michael steht darauf. Carol hatte sie für ihn aufbewahrt, für den Moment, wenn er bereit ist. Er findet ein Postkarten, Bilder. Ein Notizbuch.

Klick, Pausentaste. Das Band spult sieben Jahre vor, es ist 1989. Verloren geglaubte Puzzleteile schließen eine Lücke. Aus der Sicht von Michael beschreibt Winman, in denen er aus Ellis' und Annies Leben verschwand, Jahre, in denen er nach sich selbst suchte, dem Menschen, der er sein mag. Einfühlsam und nuanciert zeigt sie auf, welchen Einfluss die Verluste, die er aufgrund der AIDS-Epidemie der 1980er Jahre machen musste, die Menschen, denen er begegnete, auf seine Persönlichkeitsentwicklung hatten. Wie er immer wieder an Ellis denken muss. An das, was sie hätten sein können. An Allie, an Dora und an Marbel. Und daran, wie seine Mutter ihn einst verließ, alleine ließ. Aber nun ist das Bild komplett.

Immer langsamer schweifte mein Blick über die Zeilen, wollte ich weder Michael noch Ellis hinter mir lassen, noch länger im Licht der goldenen Tage stehen und von Liebe und Zauber erfüllt werden. Doch jeder Tag neigt sich dem Ende, ein Lächeln auf den Lippen, das von Glückseligkeit spricht: ob der warmen Bilder, die Sarah Winman mit ihrer Sprache zeichnet, der Protagonisten, die zu Freunden geworden sind. Und auch der Leerstellen, denn nicht alles muss Worte finden, um verstanden zu werden. Sie bleiben, die Erinnerungen an die guten, an die lichten Tage. Eine große Empfehlung!

Bewertung vom 15.02.2023
Rote Sirenen
Belim, Victoria

Rote Sirenen


ausgezeichnet

Warmherzig und sehnsuchtsvoll erzählt Victoria Belim in ihrem autobiographischen Debüt „Rote Sirenen“ von der Spurensuche um die Geschichte ihrer ukrainischen Familie, ihrer eigenen Wurzeln. Während ihrer Zeit in der Ukraine wohnt sie bei ihrer Großmutter Valentina, die sich in Schweigen hüllt. Sie möchte nicht über das reden, was ihren Eltern geschah, was sie selbst erlebte, zu schmerzhaft sind die Erinnerungen an den Hunger, die Zeit des Holodomors, die Angst. Noch immer beobachtet Victoria, wie das Erlebte den Alltag ihrer Großmutter prägt, wie sie ihren Obstgarten, die Kirschbäume pflegt, sich um die Aussaht und Ernte der Kartoffeln sorgt. Sie kennt es nicht anders. Und sie ist nicht die Einzige: Victoria reist in die Dörfer, wo ihre Verwandten einst lebten, stößt immer wieder auf Statuen und Straßen zu Ehren sowjetischer Machthaber, lernt ukrainisches Kunsthandwerk kennen, läuft durch Museen und ihr vertraute Waldstreifen. Doch ihre Suche scheint wenig ergiebig, bis sie sich entschließt, das Haus der Roten Sirenen aufzusuchen, das frühere Hauptquartier des sowjetischen Geheimdienstes, um Einsicht in alte KGB-Akten zu erbeten. Und überall lauert der Schmerz des Vergangenen, wabert wie ein Schleier über den Köpfen der Menschen, die sie auf ihrer Reise trifft, und sie in Schweigen hüllt. Es sei einfacher.
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Gleichermaßen emotional wie sachlich verbindet Belim die Erfahrungen und Fragmente, die sie auf ihrer Reise sammelt, mit historischen Bildern, Aspekten der ukrainischen Kultur- und Landesgeschichte sowie politischen Entwicklungen, die ihre Familiengeschichte beeinflussten, das Leben und Lieben ihrer Urgroßeltern prägten und deren Auswirkungen sie noch heute, zurück in ihrer Heimat, auf der Datscha spürt. Sie schreibt lebendig, macht mit detaillierten Beschreibungen ihre Umwelt erfahrbar, spürbar: den Geruch frischen Gebäcks und feuchter Erde, den kalten Wind auf dem Land, die Feinheit gewebten Stoffes. Ich mochte diese Passagen sehr, das Erfahren und "Sehen" mir unbekannter Traditionen und Landschaften, eine Ahnung des Lebensgefühls zu erhalten, doch teilweise uferte es ein wenig aus, überwog der eher deskriptiven, journalistisch geprägten Stil, und fehlte es an dem gewissen Etwas, das ich noch immer mit Worten greifbar zu machen versuche. Dennoch habe ich eine Menge gelernt, gefühlt, gedacht: über die aktuelle Situation in der Ukraine, meine eigenen Wurzeln und wie sie mich prägen, über das Schweigen und wie es von Generation zu Generation weitergegeben wird, um gebrochen zu werden. Für das Leben im Heute.

Bewertung vom 14.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

Jeden Tag sieht Liv die Scherben auf dem Boden liegen. Die Scherben von dem Tag, als sich ein Körper auf sie legte, sie zerbrach. Es sind ihre Scherben, die Heidi Furre in dem Roman „Macht“ aufliest, zusammensetzt, um sie zu heilen. Eine jede Scherbe enthält Gedanken, die Liv gegenwärtig umtreiben: von Sie erzählt sachlich, lakonisch und kalt, wie betäubt fast. Jeden Satz wählt sie mit Bedacht, beschreibt ihren Alltag als Mutter, als Ehefrau, als Pflegerin. Als Betroffene – die sie nicht sein will. Wachen Auges beobachtet sie ihre Umwelt, beruft sich einem Mantra gleich immer wieder auf die Dinge, die ihr helfen, Abstand zu gewinnen, die Unmittelbarkeit und Ernsthaftigkeit zu relativieren, ihre Fassade aufrechtzuerhalten. Bis sie unmittelbar einstürzt. In ihrem Job als Pflegerin fühlte sie sich sicher, sie hatte Abstand zum Leben, sie hatte Macht: Ihre Patient*innen waren von ihr, ihrer Hilfe abhängig. Doch als eine neue Patientin in die Einrichtung zieht, löst sich etwas: Ihr Bruder ist Schauspieler – und wurde vor Jahren bekannt dafür, eine Frau vergewaltigt zu haben. Er wurde nie verurteilt, aber die Erinnerung bleibt. Wann immer er in der Nähe ist, hat sie Angst, seine Augen lösen die Fassade langsam auf. Und gleichzeitig ist es ein Befreiungsschlag, der sie zwingt, sich zu öffnen. Das Mittel: Konfrontation. Reden. Freimachen.
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Die lakonisch schneidende, harte Sprache, derer sich Heidi Furre bedient, um Livs Gefühlsleben darzustellen, unterstützt den Inhalt ihrer Worte, die Botschaft, die sie zu vermitteln versucht, unglaublich gut. Dass es nämlich keine Bagatelle ist, dass es Gegenwärtig ist. Sie stellt Liv, die Frau, die Leidtragende, wie sie sich bezeichnet, in den Vordergrund, ihre Ängste, die Anstrengung, die es sie kostet, ein normales Leben zu führen, nicht jeden Tag, bei jeder Berührung, jedem noch so kleinen Ding „daran“, an „den Vorfall“ erinnert zu werden. Ihren Körper als eben das zu betrachten: als Mutterkörper, der liebt, der lebt und atmet, der sich kümmert. Nicht als Objekt, das es zu benutzen gilt. Dennoch lässt sie kontroverse Gedanken, ein Nebeneinander von Bitternis und Empathie zu, lässt Liv darüber fantasieren, wie weit ihre moralischen Grenzen gesteckt sind, Rache zu üben, ihrerseits die Macht zurückzugewinnen und auszunutzen.
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Das Buch hat mich mitgenommen, wütend gemacht, weich werden lassen. Und immer wieder diese Sätze, die innehalten lassen, die ich unterstreichen musste, bald waren ganze Seiten schraffiert von grauem Graphit. Schlagende Zeilen, die schmerzen und Augen öffnen. Das waren die ersten zwei Drittel. Doch gen Ende verlor die Geschichte an Biss, was in gewisser Weise auch für die Entwicklung Livs stehen kann, klar. Doch für mein Empfinden war es zu überhastet, gewollt. Davon abgesehen: WOW. Eine große Empfehlung (respektive TW)!

Bewertung vom 27.01.2023
Liebewesen
Schmitt, Caroline

Liebewesen


ausgezeichnet

Dieses Buch tut weh. Und man kann einfach nicht aufhören. Immer fester drückt es zu, dass einem die Luft wegbleibt. Ungemein authentisch, ohne sich gängiger Klischees zu bedienen oder Dinge schönzureden, erzählt Caroline Schmitt in ihrem Debütroman „Liebewesen“ von transgenerationalen Traumata und Gewalt, von Liebe und Leere, von Vorwürfen und Geheimnissen, Freundschaft - und einer ungewollten Schwangerschaft. Kurz: vom Leben. Zärtlich beschreibt sie, wie Lio und Max sich kennenlernen, die Welt rosarot, doch je intensiver ihre Beziehung wird, desto deutlicher zeigen sich ihre jeweiligen Narben: Max‘ Depressionen und Verlustängste eine Mutter, die bereut, Mutter geworden zu sein, und Lio das mit jeder Faser spüren lässt; ein Vater, der dem Alkohol verfallen ist; ein Körper, der Angst vor Berührung und Intimität hat, traumatisiert ist. Der nicht mehr der ihre ist: weil er von ungewollter Hand berührt worden ist – und sie ihn sich nun plötzlich teilen muss. Wohl eines der ehrlichsten, schmerzhaftesten und zugleich schönsten Debüts in diesem Jahr!

Bewertung vom 05.12.2022
Die Kriegerin
Bukowski, Helene

Die Kriegerin


ausgezeichnet

Selten hat mich ein Buch dermaßen gefangen genommen, die Welt um mich herum, einfach alles vergessen lassen wie „Die Kriegerin“ von Helene Bukowski. Eindringlich und roh erzählt sie die Geschichte zweier Frauen, die sich nach Stärke sehnten, nach einem Panzer, der ihnen nichts anhaben kann und im Gegenzug von Traumata gebrochen wurden, ihr Innerstes derbe offengelegt. Und doch unterscheiden sie sich von Grund auf, prallen sie wie Wasser und Feuer aufeinander und lernen sich, Jahre nach ihrer ersten Begegnung, neu kennen. Jede Narbe, jeden Atemzug. Atemlose Träume, schlaflose Nächte, Angst. Jede Nacht, jeden Tag wird die Kriegerin von PTBS heimgesucht, verschließt sich Lisbeth gegenüber immer mehr. Und sucht die Rettung in der Distanz, ihre Rollen verkehren sich. Was bleibt, sind ihre Briefe. In der Einsamkeit der Sprache kann sie sich öffnen und ihre Geschichte erzählen. Von den Steinen, ihrer Großmutter, ihrem Standing als Frau an der Front zwischen Männern. Vom Schießen, dem Krieg und dem, was bleibt.

Flimmernd wechselt die Erzählperspektive zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den Briefen, der fernen Stimme der Kriegerin, und Lisbeths Wirklichkeit, ihrer Geschichte: physischem und psychischem Schmerz, Einsamkeit, Flucht. Schicht um Schicht wird das Bild klarer, werden Fragen beantwortet, die sich auf den ersten Seiten aufdrängten und ein Gefühl der Unsicherheit und Beklemmung in meiner Brust erzeugten, eine labil flirrende Atmosphäre. Helene Bukowski verwandelt vermeintliche Schwächen in Stärken, gibt ihren Protagonistinnen unvorhergesehene Tiefen, macht sie nahbar trotz ihrer Suche um Distanz. Noch immer spüre ich den Sand zwischen den Zehen, das Salz im Haar. Noch immer ist mein Herz irgendwo zwischen Ostsee und dem Ort, wo die Kriegerin nun ist. Ein Jahreshighlight.