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Benutzername: 
Luisabella
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 19.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

»Aber jetzt war ich auch dankbar, dankbar, dass sie mein Mutter ist. Dankbar ihr und allen Vorfahrinnen gegenüber, dass sie gekämpft haben. Dass sie mir gezeigt haben, dass ich ein Recht auf ein gutes Leben habe.« (S. 295)

»ISSA« von Mirrianne Mahn ist eine Hymne an Mütter, Solidarität, Zusammenhalt und weibliche Stärke. 💙 Für mich ist dieses Debüt ein absolutes Highlight 🩵 Einigen wir uns einfach darauf, dass wir es alle lesen und diskutieren 🫱🏼‍🫲🏾

Dieser Roman zelebriert die gesamte Range der Gefühlslagen und kann das alles gleichzeitig: Zum Lachen bringen, zum Nachdenken anregen, sich auf neue Perspektiven einlassen, wütend machen, mitfühlen lassen, das Herz brechen und wieder zusammenflicken. 💥 Chapeau an Mirrianne für dieses krasse Debüt! 😮‍💨

Es ist unglaublich, was für eine Bandbreite an Themen die Autorin in ihrem wunderbaren, immer wieder bildlichen und sehr schönen Schreib- & Erzählstil in ihrem Roman quasi ganz nebenbei thematisiert, jedoch ohne, dass man das Gefühl hätte, das Thema komme im Roman zu kurz: Mutterschaft, Oma-Mutter-Tochter-Beziehung, Generationskonflikte, Rassismus, Sklaverei, Kolonialismus, Mobbing, Freundschaft, Schwangerschaft, kulturelle Diversität, Mythen & Rituale, Zugehörigkeit, Identität, Kamerun & Deutschland, Familie, Patriarchat, Klassismus, Auswanderung, afrikanische Haarfrisuren und und und.



WHAT’S IT ABOUT? Issa wird ungewollt schwanger 🤰🏾und nach Streit mit ihrer Mutter fliegt sie in ihr Heimatland Kamerun, um dort traditionelle Rituale durchzuführen und ihre Familie wiederzusehen. Dort wird sie herzlich von ihren Omas empfangen und beginnt über ihre beiden Heimaten 🇨🇲&🇩🇪 , Mutterschaft, ihre Zugehörigkeit und Identität nachzudenken.

Parallel zu dieser Rahmenhandlung werden in aufeinanderfolgenden Kapitel die Leben und Perspektiven ihrer Vorfahrinnen (angefangen bei ihrer Ur-Ur-Oma bis zu ihrer Mutter, der Stammbaum am Ende des Buches hilft für den Überblick 🫱🏾‍🫲🏼) erzählt. Mehr und mehr wird das große Ganze deutlich: Mit wie viel Stärke, Solidarität zu anderen Frauen, Unabhängigkeit und Liebe die jeweilige Frau in ihrer eigenen Zeit und mit ihren jeweiligen Mitteln gekämpft hat. #empowerment

»»Ich will nicht, dass du zulässt, dass irgendein Mann jemals wieder etwas von dir nimmt, das du ihm nicht aus freien Stücken gibst.«« (S. 259)

Die wirkliche Magie, über die hier geschrieben wird, liegt im Zusammenhalt, der Liebe und der Solidarität unter Frauen — seit Generationen: »«In unseren eigenen Geschichten sind wir keine Opfer. Issa, du hast lesen und schreiben gelernt, aber das Denken kann dir niemand beibringen, das musst du selbst erlernen. Denn dann kannst du deine Geschichte selbst schreiben. Du musst in die Vergangenheit schauen, um die Gegenwart zu verstehen, damit du deine Zukunft gestalten kannst.»« Marijoh zu Issa (S. 260)

WAS FÜR EIN ROMAN 😮‍💨 Wirklich ein krasses Brett, das Autorin Mirrianne Mahn hier geschrieben hat und deren Buchbaby ich ALLEN empfehle. 🩷 HIGHLIGHT 🩵 Ich freue mich jetzt schon auf alles weitere literarische, das wir hoffentlich von Mirrianne lesen dürfen.

BTW: Wie schön kann ein Cover sein? ISSA: YESSS 💥

Bewertung vom 19.03.2024
Xerox
Veldman, Fien

Xerox


sehr gut

»Das Büro funktioniert auch ohne dich. Das Büro macht weiter, egal welche Marionette auch immer welchen Hebel betätigt. Wenn du nicht mehr da bist, um die Arbeitsplatte abzuwischen, macht das eben jemand anders.« XEROX 🖨️ über das Ökosystem des Büros 💥 (S. 158)

Die namenlose Ich-Erzählerin hat es geschafft: Sie hat studiert, ihr Herkunftsdorf weit hinter sich gelassen und arbeitet in einem fancy Start-up in Amsterdam. Dabei ist ihr Job ist sehr eintönig und langweilig, sie teilt sich ein Büro mit einem Drucker (Marke: XEROX) und in ihrer Einsamkeit beginnt sie XEROX 🖨️ zu ihrem Partner zu machen, indem sie mit ihm Gespräche über ihr Leben, ihre Jugend und ihre Gedanken führt. XEROX hört ihr zu. Er gibt ihr das Gefühl, sie zu verstehen und vor allem einen Grund täglich zur Arbeit zu kommen. Eines Tages wird sie von der Arbeit freigestellt, angeblich, weil sie zu viel telefoniert (wir erinnern: Gespräche mit dem Drucker). Dies stürzt die Protagonistin in eine Leere, die sie zunächst nicht zu füllen weiß (Abschnitte I & II). In Abschnitt III (Intervision) wechselt die Erzählperspektive zu der des Druckers XEROX 🖨️. Er weiß alles, analysiert als Roboter 🤖 die Menschen und stellt sehr kritische und zutreffende Analysen über das menschliche Zusammenleben und die Arbeit im Office an. Und wirft indirekt die Frage auf: Wie bewerten, gehen wir um und interagieren wir mit unserer UmWelt, MitMenschen, Maschinen.

»XEROX« 🖨️ das Debüt von Fien Feldmann, übersetzt aus dem Niederländischen von Christina Brunnenkamp, ist ein sehr vielschichtiger Roman: Eine exzellente Darstellung und Kritik am Ökosystem Arbeit/Office; die Liebesgeschichte zwischen einer Frau und einer Maschine; ein Thriller am Rand unserer Gesellschaftsklassen (inkl. Klassismuskritik) und ein philosophischer Diskurs. Wunderbar, witzig und sarkastisch wird die Leere unserer ach so fancy modernen Arbeitswelt entlarvt und u. a. gut herausgestellt, dass wir alle letztlich auch nur ersetzbare (Arbeits-)Maschinen sind, die gerne glauben würden, dass sie etwas Besonderes sind und deswegen täglich unseren Job bestmöglich ausfüllen wollen.

Die Erzählweise ist sehr eigen und ich habe etwas gebraucht, um in die Story zu finden. Belohnt wurde ich mit einem vielschichtigen Leseerlebnis und 💥 Zitaten 💥. Ganz nebenbei bemerkt, finde ich den Zynismus und bissigen Ton der Protagonistin einfach herrlich! 🤌🏼

[3.5/5 ☆ ]

Bewertung vom 18.03.2024
Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht
Arnim, Gabriele von

Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht


ausgezeichnet

»Die Welt mit ihren Herausforderungen wahrnehmen und trotzdem gern und engagiert in ihr leben. Das ist die große Kunst. Die Kunst der Zuversicht.« (S. 14)

I have to admit: Ich verehre Gabriele von Arnim. 🥹 Ich finde sie einfach wahnsinnig intelligent, smart, humorvoll, wortgewandt, schlagfertig und ich lese ALLES von ihr. Die beiden letzten Jahre haben Anna und ich Gabriele von Arnim als Moderatorin sowie auf ihrer eigenen Lesung in Hamburg zugehört und wäre ich nicht schon Fan, spätestens dann wäre ich es gewesen. 💘

»Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht « ist das neue Buch der Journalistin & Autorin Gabriele von Arnim (ET 18.03.24) 💘 Es ist ein schmales Buch, das mit wenigen Seiten so viel zu sagen, auszudrücken und zum Denken anregen mag, wie viele andere auf hunderten Seiten nicht vermögen.

»Leben alles auf einmal, leben den Widerspruch und halten ihn kaum aus: Die Welt ist grausam, und das Leben ist schön.« (S. 63)

In diesem Buch geht um Zuversicht. Was Zuversicht in den heutigen Zeiten bedeutet, das Zusammenspiel (oder doch Gegensatz?) mit Hoffnung, um die Etymologie des Wortes und Kritik an dem Umgang mit unserer Welt und und und.

Wir können es kurz machen: Lest dieses wunderbare, zuversichtsschenkende, intelligente und inspirierendes Büchlein. 🩷 Und wenn Ihr danach noch mehr von Gabriele von Arnim lesen möchtet: GOOD NEWS: Es gibt da noch weitere großartige Bücher von ihr. 🤝🏼

»Ich glaube ja tatsächlich daran — findet Ihr das naiv? —, dass es unsere Bestimmung ist, zu versuchen, die Welt ein bisschen besser zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben.« (S. 33) ❤️‍🩹

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P.S.: Falls Ihr es nicht schon bei den ersten Sätzen gedacht habt: GANZ GANZ GROSSE HERZENSEMPFEHLUNG für dieses und alle anderen Bücher von Gabriele von Arnim. 🩷🩵

P.P.S.: Ich hab nachgeschaut, es sind weniger Seiten auf denen ich mir nicht gehighlighted habe, als diesen mit Markierungen.

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Bewertung vom 11.03.2024
Weiße Wolken
Seck, Yandé

Weiße Wolken


sehr gut

»Es sind die Welten, in denen ich mich bewege, die zu mir gehören. Es sind die Verletzungen und der Schmerz, die wie die kleinen weißen Punkte auf unseren Fingernägeln zu mir gehören.« (S. 267) ☁️

In ihrem Debütroman »WEISSE WOLKEN« ☁️ schreibt die Autorin Yandé Seck über die zwei Schwestern Dieynaba (Dieo, Mitdreißigerin) und die 8-Jahre jüngere Zazie, die in Frankfurt als Kind einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters großgeworden sind und unterschiedliche Weltanschauungen und Wünsche entwickelt haben — trotz ihrer vielen Gemeinsamkeiten und Beziehung zueinander. Während Dieo als Mutter von drei Söhnen in der Ehe mit Simon nicht nur das Familienleben managt, sondern sich zusätzlich zu ihrem Job als Psychotherapeutin weiterbildet; setzt sich Zazie intensiv mit Themen wie White Privilege, struktureller Ungerechtigkeit, Rassismus, Macht & Diskrimmierungen uvm., auseinander — nicht nur im Rahmen ihres Studiums und anschließender Promotion, sondern immer:

»Wenn sie ehrlich war, war er im Rahmen des Möglichen perfekt. Es war eher sie, die nicht so recht wusste, was dieses ganze Lieben sollte. Es gab doch so viel anderes, was sie beschäftigte. So viel, was sie noch sehen und durchdenken und bewegen wollte. Dieser ganze Rückzug ins Private ging ihr auf den Senkel […].« Zazie ☁️ (S. 57)

Der Roman ist sehr vielschichtig, einfühlsam, modern und facettenreich: Durch die verschiedenen Protagonist*innen, deren Denkweisen und Argumente verhandelt der Roman so verschiedenen Perspektiven auf Themen: Identität, Zugehörigkeit, Rassismus, Sexismus, Kapitalismus & Patrichariat, Mutterschaft, Sehnsüchte und die Frage, wie wir unser Leben gestalten wollen.

»Warum war Sysiphos eigentlich ein Mann, wenn doch die Erfahrung der sich ewig wiederholenden Überlastung eine typisch weibliche war?« Dieo (S. 104)

Im Gegensatz zum Klappentext finde ich nicht, dass der Tod des Vaters so im Vordergrund steht. Das gedroppte und nicht weiter ausgeführte Thema rund um das Verhalten der Mutter Ulrike wurde jedoch trotz der Ausmaße gar nicht weiter thematisiert. Bei dieser Fülle an Themen des Romans ist dies verständlich, aber wäre für die Storyline sicherlich auch logisch und passend gewesen. Die Darstellung der Beziehung zwischen den beiden Schwestern fand ich dafür umso stärker und mochte ich sehr. Es ist ein starker Familienroman, der viele aktuelle Themen aufgreift, durch die Sicht der drei Protagonist*innen gut verhandelt und dabei einige sympathische Figuren bereit hält (BTW Otis hat mein Herz geklaut ). Das Ende finde ich im Vergleich sehr kurz gehalten und hätte aus meiner Sicht gerade in Bezug auf Mutterschaft differenzierter geschrieben werden können. Es ging mir dann doch etwas zu schnell und zu glatt mit dem Happy End.


Herzensempfehlung für diesen modernen, vielschichtigen, humorvollen und liebevollen Roman.

BTW: Neben vielen wichtigen Perspektiven zu den oben genannten Themen, ist mein Lieblingslearning aus diesem Buch: Jede*r sollte sich regelmäßig ein Croissant für die Seele gönnen.

Bewertung vom 19.02.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


sehr gut

Es klingt so gut: Die seit Kindheitstagen besten Freund*innen Philipp und Faina entschließen sich nach dem Modell Co-Parenting gemeinsam ein Kind großzuziehen, als Faina ungewollt schwanger wird. Was nach einer aktuellen und feministischen Storyline klingt und genügend Stoff für einen Roman bieten würde, wird bei Lana Lux aus einer ganz anderen Richtung brisant. Es sind alles andere als geordnete Verhältnisse, die sich hier auftun und auch das Leben der beiden Protagonist*innen ist weit weniger geordnet, als beide sich wünschen. Dabei wird die Storyline aus der Rückschau von beiden — Philipp und Faina -- erzählt. Angefangen von ihren schwierigen Kindheit und Elternhaus über die Teenager-Zeit bis zum Jetzt als Erwachsene Mittdreißiger, werden in dieser Storyline wichtige, aktuelle wie Themen Philipp’s Asexualität als auch Fainas Bisexualität (was bis zur Hypersexualität ausgedehnt wird) und das Co-Parenting mitgezählt. Leider werden diese queren Themen zum einen sehr extrem dargestellt und zum anderen durch das Setting sehr negativ konnotiert. Da ich nichts vorwegnehmen möchte, stoppe ich an dieser Stelle und kann nur sagen: Es ist ein sehr gut geschriebener, sehr spannender und tiefschichtiger Roman, der eine krasse Sogwirkung entfaltet.

»Es ist verblüffend, wie aus Liebe Hass werden kann, […]. Ich glaube nicht, dass es wahr ist. Ich glaube, dass wir, die davon betroffen sind, bloß von Anfang an Kontrolle mit Liebe verwechselt haben. Ich jedenfalls habe schon von klein auf gelernt, dass Liebe und Schmerz zusammengehören.« Faina, S. 273

Wer Lana Lux Romane kennt, weiß, dass die Autorin mit ihrem fantastischen Schreibstil absolute Pageturner schreibt, die man nicht mehr aus der Hand legen kann. Auch dieser Roman besticht durch die Erzählweise, den Erzählten, den Zynismus und die fein-säuberlich ausgearbeitete Storyline und Protagonistinnen. Ihr neuer, dritter Roman »Geordnete Verhältnisse« ist ein unbequemer und verstörender Roman über fehlgedeutete Liebe, Sexualität, toxische Abhängigkeiten, dysfunktionale Familien, psychische und physische Gewalt, Kindheitstraumata, psychische Erkrankungen.

[CN: Psychische & physische Gewalt, Femizid, psychischer Missbrauch, Drogen, Alkohol]

Bewertung vom 15.02.2024
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


sehr gut

»Wie oft muss ich es dir noch sagen? Du weißt, was ich will. Ich habe es dir hundertmal gesagt. Ich liebe dich. Ich liebe dich, aber ich kann so nicht mehr weitermachen. Wann immer wir jetzt miteinander sprechen, streiten wir. Es bringt mich um. Du sagst, ich würde dir nicht zuhören, aber du bist es, die nicht zuhört. Bitte, entscheide dich einfach, verdammt noch mal. Tu, was du willst, aber hör bitte, bitte auf,
mich zu verarschen.

Man muss aus eigener Erfahrung lernen, was eine Figur in einer Erzählung von Edna O'Brien feststellt, nämlich dass Liebe deshalb so schmerzhaft ist, weil zwei Menschen mehr wollen, als zwei Menschen geben können.« (S. 123) ❤️‍🩹

In ihrem neuen Roman »Die Verletzlichen« schreibt die Autorin Sigrid Nunez (übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube) über eine namenlose Ich-Erzählerin, die Autorin ist, und während des 1. Lockdowns der Corona Pandemie auf den Papageien Eureka 🦜 ihrer Freundin Iris aufpasst und sich gemeinsam mit einem jungen Familienfreund dieser — Giersch — das luxuriöse Appartement teilen muss. Der Roman ist eine Mischung zwischen der Schilderung dieser Situation einhergehend mit der Reflexion des Erlebten durch die Protagonistin selbst sowie deren Philosophieren und Sinnieren über das Schreiben und Schriftsteller*innen-Sein. Die eingestreuten Anspielungen und Zitate auf andere Autor*innen und Werke empfand ich als sehr gelungen und bereichernd:

»Jetzt kenne ich die Wahrheit: Wichtig ist, was man während des Lesens erlebt, die Gefühlszustände, die eine Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem dazu einfallen, und nicht die fiktionalen Ereignisse, die geschildert werden.« (S.9)

Eine sehr schöne, inspirierende, humorvolle und philosophische Lektüre 🩷 Fans von Büchern über das schriftstellerische Schreiben und Gedanken dazu 📖💭 und alle Sigrid Nunez-Fans — you’ll love this lovely novel. 🦜💚

Bewertung vom 15.02.2024
Mutter ohne Kind
Lindner, Eva

Mutter ohne Kind


ausgezeichnet

»Weltweit kommt es jährlich zu 23 Millionen Fehlgeburten. In jeder Minute, die verstreicht, verlieren 44 Frauen auf dieser Welt ihre Schwangerschaft.« (S. 15)

In ihrem Sachbuch »Mutter ohne Kind — Das Tabu Fehlgeburt und was sich daran ändern muss« schreibt die Autorin Eva Lindner über das Tabu zu Fehl- & Totgeburten. In insgesamt 11 Kapiteln, gerandet von Einleitung und Ausblick schreibt die Autorin über verschiedene Aspekte rund um diese Themen. Jede Kapitelüberschrift enthält einen Frauennamen einer Frau, die ihre persönliche Geschichte dazu geteilt hat und die begleitende Unterüberschrift, die das Thema framt. Über die Problematik von fehlender Gender-Medizin, über mangelnde Forschung, Weiterbildung und Schulungen sowie die Zulassung von Medikamenten und Problematik im Umgang mit den Gesetzen (wie bspw. §218 Abtreibung, aber auch dem Mutterschutz) werden hier zahlreiche Aspekte aufgegriffen, an persönlichen Beispielen verdeutlicht und anschließend wissenschaftlich und sachlich erläutert und mit Statistiken belegt.

Bei diesem Thema zeigt sich wieder einmal, wie sehr das Patrichariat Frauen abwertet und schlechter stellt und wie dringend sich Missstände und Tabus ändern müssen in Bezug auf Fehlgeburten.

Als Mutter, die ebenfalls ein Kind in der Schwangerschaft verloren hat, hat die Autorin eine sehr persönlichen Perspektive zu diesem Thema. Es gelingt Ihr hervorragend, dies in den Kontext einzubetten und ein sowohl sachliches als auch sehr einfühlsames Sachbuch zu schreiben. Ich habe großen Respekt vor dieser Leistung! Das Sachbuch finde ich sehr gut formuliert, belegt und ausgearbeitet. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Autorin am Ende 11 Forderungen passend aus jedem Kapitel eine ableitet und damit ganz konkret aufzeigt, wie sich dies verbessern ließe. Das macht Hoffnung — noch mehr, wenn dieses Buch und die Forderungen ganz viele Menschen lesen würden!

Große Leseempfehlung 🩷

Bewertung vom 05.02.2024
Spur und Abweg
Tallert, Kurt

Spur und Abweg


gut

»In den Spuren und Abwegen kann ich nur vage betrachten, was von der Vernichtung blieb, und das ist eben einerseits ein ganzes Menschenleben und andererseits nicht viel.« Kurt über seinen Vater (169)

Mit 17 Jahren war Kurt’s Vater als Halbjude im Lager Lenne (Niedersachsen) interniert und hat das Zwangsarbeitslager der Nazis überlebt, während andere Familienangehörige durch die Nazis ermordet werden. Mit 58 Jahren wird der Journalist und Politiker Harry Tallert (1927-1997) ein letztes Mal Vater — von Kurt als Jüngstem von vier Kindern — und verstirbt 12 Jahre später. Kurt Tallert hatte also nicht viele gemeinsame Lebensjahre mit seinem Vater und nähert sich diesem mit seinem autobiografische Werk mittels einer literarischen Analyse. Welche Auswirkungen kann das erlittene Leid durch die Nazis auf nachfolgende Generationen haben? Inwiefern prägt dies die Folgegenerationen? Genau diese Fragen greift Kurt Tallert einfühlsam, eindringlich und äußert akribisch in seiner literarischen und gegenwärtigen Spurensuche auf.

»Mein immer gut gekleideter Vater sitzt in einem Büro an einem unscheinbaren Schreibtisch, während sich zu seiner Linken ein Zirkuskrokodil an der Tischkante abstützt. […] Auf dem Foto blickt er dennoch gelassen zu dem mittels Kühlung ruhiggestellten Raubtier, als wäre dieses archaische Reptil ein Stück gezähmter Vergangenheit. Diese Bedeutung konnte das Bild wohl nur für mich haben.« 55f 🐊

In seinem Sachbuch »SPUR UND ABWEG« setzt sich der Autor Kurt Tallert intensiv mit seinem Vater und damit schlussendlich auch sich selbst auseinander. Die Leerstellen, die sein Vater hinterlassen hat, untersucht Kurt in diesem Buch intensiv, indem er Unterlagen, Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe und Karten des Vaters studiert, analysiert und in historische Kontexte setzt. Zudem berichtet er von seinen eigenen Kindheitserinnerungen und setzt diese in den Kontext des Lebens seines Vaters. Mit 6 Jahren betritt Kurt zum ersten Mal gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald:

»Heute sehe ich das Bild des sechsjährigen Jungen, der auf dem ehemaligen Appellplatz steht, sich umblickt, in sich kehrt und nicht wieder ganz aus sich herauskommt. Oder zumindest nicht als derselbe. Ich glaube, an diesem Tag wurde mir die Skepsis als eine Art Urvertrauen in die Enttäuschung eingepflanzt. Ich lernte, dass es möglich war, jederzeit möglich, dass die Umwelt sich gegen einen kehrte, dass sie mit einem brechen konnte, dass sie einen brechen würde, dass es Situationen gab, in denen ein Mensch aus allen Situationen gerissen werden konnte, und dass er nichts dazu tun musste und nichts dagegen tun konnte, außer - und das ist recht erbärmlich - Glück zu haben.« 37

Dieses sehr persönliche, intensive Zeugnis und Auseinandersetzung mit dem Leben des eigenen Vaters sowie den eigenen Anteilen an der Erinnerung ist sehr interessant und umfangreich. Stellenweise empfand ich die Lektüre so, dass der der Autor abschweift und der roten Faden etwas verloren geht. Nichtsdesto trotz ist es ein sehr wichtiges Zeitzeugnis, das vergegenwärtigt, wie sehr die deutsche Geschichte Generationen nach wie vor prägt; wie wichtig es ist, uns immer wieder zu erinnern: NIE WIEDER IST JETZT.

Ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen!

Bewertung vom 31.01.2024
Klarkommen
Hartmann, Ilona

Klarkommen


sehr gut

»Ich war besessen von coolen Leuten. Es war nicht genug, in ihrer Nähe zu stehen, es war nicht genug, sie zu beobachten, Ich wollte sie verzehren, sie in mich aufnehmen, mich von innen nach außen stülpen und dann endlich so sein wie sie.« (83)

In ihrem neuen Roman »klarkommen« schreibt die Autorin Ilona Hartmann über das Erwachsen werden und, was das eigentlich bedeutet — also mal so ganz konkret. Sie schreibt von den Freuden der neugewonnen Freiheiten, aber auch den Schattenseiten dieser Freiheiten: Geld verdienen, WG-Leben, Studium, Parties, Freund*innen und dabei sich selbst zu finden.

„Ich war gleichzeitig schon erwachsen und trotzdem noch sehr jung, das Leben schien mir zu kurz und zu lang gleichzeitig und jede Entscheidung gleichermaßen lebensverändernd wichtig und vollkommen egal."

Mounia, Leon und die namenlose Ich-Erzählerin sind seit ihrer Schulzeit ein eingeschworenes Trio. Gemeinsam ziehen sie nach dem Abi zusammen in eine WG, beginnen ihr jeweiliges Studium, suchen sich ihre ersten Jobs und vor allem auch sich selbst.

Der Roman ist in (sehr) kurzen Kapiteln geschrieben, die mir kombiniert mit dem zeitweise ironischen, ernsten und auch verbittertem, aber immer sehr ehrlichem Schreibstil, Tagebuch-Vibes gegeben haben. In Momentaufnahmen begleiten wir die Ich-Erzählerin, wie sie ihre erste Liebe verliert, wie sie sich neu verliebt, wie sie ihre beste Freundin ganz neu kennenlernt, wie sie eben ihr Leben lebt. Ilona Hartmann gelingt es mit ihren knackigen Sätzen und Kapiteln den Übergang von Jugend ins Erwachsensein so zu skizzieren, dass Lesende sich in ihre eigenen Anfänge des Erwachsen-Seins rekapituliert werden, und die Angst, die beste Zeit des Lebens nicht richtig auszufüllen, wird spürbar. Die Message wird schnell klar: Wir müssen nicht nach den absurden und nie definierbaren Maßstäben von COOL gerecht werden, um ein unser Leben zu leben und »klar[zu]kommen«.

Ein kurzweiliger, amüsanter, authentischer und toller Roman über eine Zeit im Leben, die ich gern mit mehr Lebenserfahrung viel entspannter gelebt hätte. Aber wer hätte das eben nicht?! Meine einzige Kritik ist, dass ich mir an der ein oder anderen Stelle noch etwas mehr Tiefe gewünscht hätte und manche Dinge für mich zu vage gelassen bzw. nicht auserzählt worden sind.

Leseempfehlung von mir 🖤

[3.5 / 5 ★ ]