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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Tasha
Wohnort: 
Braunschweig

Bewertungen

Insgesamt 47 Bewertungen
Bewertung vom 27.01.2022
Zusammenkunft
Brown, Natasha

Zusammenkunft


sehr gut

Die Ich-Erzählerin in Natasha Browns „Zusammenkunft“ ist zwar Protagonistin des Romans, aber, wie es scheint, nicht mehr die ihres eigenen Lebens. Ihre Familie stammt aus Jamaica, sie ist in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Aber sie hat es geschafft: Der perfekte Abschluss an einer renommierten Uni, die Beförderung, ein reicher Freund. Sie ist Bankerin und sitzt in einem Büro mit Glasfront und drei Monitoren, besitzt eine teure Eigentumswohnung in London. Stets ist sie bemüht, sich anzupassen, die „richtige Art“ von Diversität zu verkörpern, wie ihr Chef es nennt.
„Der Druck ist immer da. Pass dich an, pass dich an … Lös dich auf im Schmelztiegel. Und dann fließ raus, gieß dich in die Form. Verbieg deine Knochen, bis sie splittern und knacken und die hineinpasst. Press dich in ihre Schablone. Pass dich an.“
Diese Anpassung geht bis zur Entmenschlichung. Die dissoziiert, hat kaum noch Zugang zu ihren eigenen Gefühlen. Als sie eine schreckliche Diagnose bekommt, sieht sie diese sogar als Ausweg aus einem Leben, mit dem sie sich nicht mehr identifizieren kann.
Ihrem weißen Freund und dessen Familie gegenüber spielt sie weiter die Rolle, die von ihr erwartet wird, hört sich von männlichen Kollegen an, dass sie ihre jetzige Position auf Grund ihres Schwarz seins und nicht wegen ihrer Qualifikationen bekommen hätte.
Trotz seiner Kürze hat der Roman eine unwahrscheinliche Kraft. Ein wenig hat er sich für mich angefühlt, wie ein Schlag in die Magengrube. Die pointierte, ausdrucksstarke Sprache braucht oft nur einen Satz, um ein Gefühl, eine Szene perfekt einzufangen. Sehr klar arbeitet Brown heraus, wie eine junge Schwarze Frau, in einem Umfeld, das sich mit der eigenen Toleranz brüstet, zugrunde geht. Und das, obwohl sie ihren Kollegen, ihrem Freund und dessen Familie überlegen ist. Die Anpassung, die von ihr gefordert wird, führt letzten Endes zur Selbstauslöschung. Eine große Empfehlung von mir.

Bewertung vom 26.01.2022
Ich bin Özlem
Güngör, Dilek

Ich bin Özlem


sehr gut

Wenn Özlem, eine in Deutschland geborene Türkin, sich mit ihrem Namen vorstellt, geschieht das fast nie, ohne dass ihr Gegenüber Zuschreibungen vornimmt. Bestimmte Erwartungen und Vorstellungen scheinen unweigerlich mit ihrem Namen verknüpft zu sein. Özlem ist mit einem Deutschen verheiratet, ihre Kinder haben deutsche Namen und sie kennt das Herkunftsland ihrer Eltern nur von Besuchen. Dennoch wird sie immer wieder damit konfrontiert, dass sie andere Wurzeln hat. Äußerst nachvollziehbar ist dargestellt, wie diese Erwartungshaltungen und auch die Abwertungen der Türkei gegenüber, die Özlem immer wieder erleben muss, auch zu einem Wandel in ihrem eigenen Denken und in ihrer Gefühlswelt führen.
Man erlebt mit, wie Özlem innerlich immer angespannter und letztlich auch wütender wird, nicht nur auf Grund von offen zur Schau gestelltem Rassismus, sondern auch durch die Mikroaggressionen, die sie in ihrem Freundeskreis erleben muss. Wenn zum Beispiel darüber gesprochen wird, dass eine Schule, auf der viele türkische Kinder sind, die angeblich kaum Deutsch sprechen, keine gute Schule sei.Dilek Güngör lässt ihre Protagonistin verletzlich und zugleich stark erscheinen, wenn sie sich immer wieder einer Welt stellt, die ihr das Gefühl gibt, dass ihr etwas fehlt, um vollkommen dazuzugehören. Leser*innen sind ganz nah bei ihr, wenn sie ihren Alltag bestreitet, sich auch mit ihren türkischen Eltern auseinandersetzt, die bestimmte Erwartungen haben, wie zum Beispiel, dass eine schwangere Frau den Vater ihres Kindes auch heiraten sollte. Ihr Ehemann steht hinter ihr, versteht aber gleichzeitig nicht alle Hürden, die Özlem zu nehmen hat und kann ihre Verletzung im Angesicht von Diskriminierung nicht immer nachvollziehen.
Ich fand es unglaublich spannend und bereichernd, die Welt durch Özlems Augen wahrnehmen zu dürfen und es hat mich dazu gebracht, einige Verhaltensweisen meinserseits nochmal zu überdenken, denn selbst was als Kompliment gemeint ist kann, wenn dadurch othering betrieben wird wiederum verletzend wirken. Sehr deutlich wird hier, wie schwierig es ist, einer Mehrheitsgesellschaft, die sich dauerhaft in den eigenen Verhaltensweisen bestärkt, gegenüberzutreten. Immer wieder sehen sich Menschen, denen Özlem ihre eigenen Verletzungen offenbar, selbst als Opfer.
Für mich ein absolut wichtiger Roman, der mich trotz oder vielleicht gerade wegen der sachlichen Sprache oft sehr getroffen hat. Dilek Güngör wurde mit ihrem Roman „Vater und Ich“ für den Deutschen Buchpreis nominiert und auch auf diesen Roman freue ich mich sehr.

Bewertung vom 24.01.2022
Grenzgänge
Statovci, Pajtim

Grenzgänge


sehr gut

Die erzählende Instanz in „Grenzgänge“ durchbricht immer wieder ihre eigene Identität. Weder auf ein Geschlecht, noch auf eine Nationalität legt sie sich fest. Und genau dieses Spiel mit scheinbar festgelegten Grenzen war es, was mich an dem Roman am meisten fasziniert hat. Darum finde ich auch den Titel „Grenzgänge“ für die deutsche Übersetzung sehr gut gewählt.
Spannend fand ich es, dass das erzählende Ich auch während des Schreibens noch seine Identität und damit auch die eigene Sicht auf die Dinge zu wechseln scheint. Immer wieder werden Beziehungen und auch Erlebnisse neu interpretiert und es ist nie ganz klar, ob und inwieweit man sich auf sie/ihn verlassen kann, denn wie ein Chamäleon die Farben wechselt, so wechselt Bujar auch die Identität. Natürlich wird die Geschichte nicht linear erzählt, das wäre in diesem Fall vermutlich auch nicht möglich und zielführend. Dennoch erfahren wir recht früh, dass Bujar im albanischen Tirana aufgewachsen ist, in politischen Unruhen. Damals lebt er als Junge, verliert früh seinen Vater an den Krebs und auch seine Schwester, die verschwindet. Da die Mutter in Handlungsunfähigkeit erstarrt und die Familie auch auf Grund der Umbrüche im Land verarmt, flieht er mit Agim. Es zeigt sich früh, dass Agim, dem zunächst das männliche Geschlecht zugeschrieben wurde, eigentlich eine Frau ist, vielleicht ein Ausgangspunkt für Bujar, sich mit den gefühlten Geschlechtergrenzen auseinanderzusetzen. Mit Agim lebt Bujar lange auf der Straße und die beiden erleben Schreckliches, bis sie sich zur Flucht nach Italien entschließen. Sie habe eine extrem innige Bindung und Liebe, die Bujar später vergeblich wieder zu finden sucht.
Bujar lebt in Rom, New York und Helsinki, baut sich immer wieder neue Identitäten auf, die er sich zu eigen macht, verliebt sich, schafft es aber nicht, eine echte Bindung einzugehen. Später wirkt es sogar, als würde er/sie andere Identitäten, andere Träume zu eigen machen und durch diese existieren. Nach Enttäuschungen legt er/sie die angenommene Identität schnell wieder ab.
Ich fand es unglaublich spannend dem erzählenden Ich zu folgen, für das ich mal Mitgefühl, mal extreme Abneigung empfand, während die Geschichte mich vor allem gegen Ende immer mehr fesselte. Manche Passagen, besonders wenn es um trans Identitäten ging, waren für mich schwer zu lesen, da die Beschreibungen mitunter sehr abwertend und verletzend wirkten, auch wenn Bujar selbst zwischen den Geschlechtern wechselt. Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass es Schilderungen von extremer körperlicher und psychischer Gewalt gegen trans Menschen im Roman gibt und außerdem die Beschreibung einer Vergewaltigung.
Sicher keine leichte Lektüre, aber eine, die ich für mich äußerst faszinierend fand.

Bewertung vom 30.12.2021
Den Hund überleben
Hornbach, Stefan

Den Hund überleben


ausgezeichnet

Der vierundzwanzigjährige Sebastian ist gerade von einem abenteuerlichen Besuch bei seiner Freundin Su aus Paris zurück, als er die Diagnose bekommt. Das Stechen in seiner Seite und auch sein Unwohlsein in der letzten Zeit rühren von einem Tumor her. Und er muss erfahren, dass sich noch zwei weitere in seinem Körper befinden. Non Hodgkin Lymphom nennt sich diese Art von Krebs und seine Ärzt*innen versichern, dass die Heilungschancen recht gut sind.
Dennoch verändert sich Sebastians Leben grundlegend. Er zieht zu seinen Eltern, beginnt die Chemotherapie in Heidelberg. Seine Kindheitsfreundin Jasna drängt sich ihm zunächst auf, wird später zu einer Freundin. Auch mit Su bleibt er in Kontakt und verliebt sich sogar am Anfang seiner Behandlung in Linus, den er an seinem Studienort kennenlernt. Zwischen ihnen bahnt sich eine für Sebastian überraschend innige Beziehung an. Diese Menschen werden neben seinen Eltern zu wichtigen Ankerpunkten während der Therapie.
Jetzt gilt es, den Krebs zu besiegen und den alten Hund der Eltern zu überleben.
Krankheit, vor allem auch Krebs, werden in Literatur noch immer wenig thematisiert. Und wenn, dann oft auf sehr düstere hoffnungslose Weise. Und das ist dieser Roman nicht. Natürlich hat auch Sebastian seine dunklen Momente, verliert mitunter fast den Lebensmut. Aber seine Geschichte ist trotzdem durchzogen von einem Willen, die guten Momente zu genießen oder diese erst zu erschaffen. Es wird nichts geschönt und man fühlt mit ihm in jedem Moment, bangt mit ihm, wenn es schlechte Nachrichten gibt und leidet mit, als sein Körper von der Chemo immer mehr in Mitleidenschaft gezogen wird. Man zählt mit ihm die Tage bis zum Ende der Chemotherapie. Kleine Dinge werden wichtig, während andere an Bedeutung verlieren .
Ein Buch, das einen teilhaben lässt an einer absolut prägenden Erfahrung, das äußerst klug erzählt ist und mich immer wieder überrascht hat, durch wunderbare kleine Momente, die mir in Erinnerung bleiben werden.
Insgesamt habe ich dieses Buch als große Bereicherung empfunden .

Bewertung vom 07.12.2021
Allein
Schreiber, Daniel

Allein


ausgezeichnet

Ich habe " Allein" in der letzten Zeit sehr oft auf bookstsgram gesehen und war gespannt auf das Buch. Vor allem, da ich mit meiner sechsköpfigen Familie in einer völlig anderen Situation bin als der Autor, und Alleinsein für mich während der Lockdowns in der Pandemie der pure Luxus war.
Dennoch gab es für mich sehr viele Berührungspunkte und die Einsamkeit, von der Schreiber spricht, ist mir absolut nicht unbekannt.
Es handelt sich hier um einen offenen, ehrlichen und für mich auch Augen öffnenden Text. Der Autor spricht über seine eigenen Erfahrungen mit Einsamkeit und wie er damit umgeht, aber auch über philosophische Diskurse zum Thema, die ich sehr aufschlussreich fand. Seine Abhandlungen zum Thema Freundschaft, in denen er sich gegen deren Idealisierung ausspricht haben mir unheimlich gut gefallen, weil gerade dadurch neue Möglichkeiten der Nähe zwischen Menschen entstehen.
Am besten fand ich jedoch die Passagen, in denen es darum geht, dass wir, um der Vereinsamung von Menschen, die ja in aller Munde ist, entgegenzuwirken zunächst Faktoren wie Homophobie, Rassismus, Mysogynie, Ableismus und andere -ismen bekämpfen müssen. Denn gerade diese sind es, die Menschen in die Einsamkeit treiben können. Für mich war die Lektüre eine absolute Bereicherung, für die ich sehr dankbar bin. Mir hat es gefallen, dass Schreiber keine einfachen Lösungen aufzeigen will, aber dennoch Hoffnung gibt. Ein Buch, das ich sicher mehrfach lesen werde.

Bewertung vom 07.12.2021
Mama
Lind, Jessica

Mama


ausgezeichnet

Schon immer war Mutterschaft in unserer Gesellschaft mit hohen Erwartungen verknüpft. Von Müttern wird nicht nur erwartet, dass sie es als Erfüllung empfinden, ein Kind zu bekommen, es wird im Grunde vorausgesetzt, dass Frauen ohne jedes Zögern bereit sind, dafür für eine Zeit ihr eigenes Leben in den Hintergrund zu stellen. Beruf, Hobbies, Zeit für Freunde. Und nicht nur das, sondern auch Befriedigung von Grundbedürfnissen, wie Schlaf, Ruhe, Intimität, Sex. All das bitte vor Glück strahlend, denn man hat ja ein Kind. Oft geht diese Rechnung sogar auf, aber eben nicht immer. Mütter, die Schwierigkeiten haben, diese Erwartungen zu erfüllen, fühlen sich ins Abseits gedrängt, sprechen nicht über ihre Schwierigkeiten und Befürchtungen, aus Angst man könne glauben sie seien einfach egoistisch, als Mütter eher ungeeignet.
Ich habe selbst vier Kinder und kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich das Gefühl hatte, zu versagen und im Grunde alles falsch zu machen. Viele Bereiche von Mutterschaft sind ein Tabuthema und darum bin ich dankbar für Bücher wie "Mama", in denen auch das abgründige und beängstigende dieser Veränderung im Leben behandelt werden.
Amira wünscht sich ein Kind, ist sich sicher, dass sie es anders machen wird als andere Eltern. Doch dann beginnen schon vor der Schwangerschaft seltsame Bilder sie zu verfolgen. In der Waldhütte, in der ihr Mann aufgewachsen ist, und in der sie Urlaub machen, wird sie von einem Wanderer beobachtet. Eine Hündin taucht immer wieder auf und ängstigt Amira. Und dann ist da auf einmal ihr Kind, Luise, drei Jahre alt. Als habe Amira einen Zeitverlust erlitten. Sie kämpft um Luise, droht immer wieder sie zu verlieren, wenn Luise im Wald verstecken spielt, giftige Blätter isst, der Hündin begegnet.
Und Amira scheint den Wald mit Luise nicht mehr verlassen zu können. Realität und Wahnvorstellungen vermischen sich, Zeit und Raum verlieren an Bedeutung.
Josef, der Vater, der erst seine Zweifel hatte, sich dann aber sehr auf das Kind gefreut hat, wird ihr fast fremd, erscheint sogar als Feind. Von Anfang an ist der Wald gleichzeitig Bedrohung und Schutz.
Zwar bleibt "Mama" auf einer metaphorischen Ebene, die Gefühle von Verzweiflung, Einsamkeit und Bedrohung, die Mutterschaft mit sich bringen kann, wenn auch nicht muss, werden deutlich. Ein Kapitel trägt den Titel " Du bist Schuld, wenn ihr etwas passiert". Ein Satz, der mich bei meinem ersten Kind verfolgt hat und starke Ängste ausgelöst hat. Für mich hat sich alles zum Guten gewandt, aber ich wünschte über diese Themen: Ängste, Überforderung, postnatale Depression, würde offener gesprochen und es gäbe mehr Hilfsangebote. Rosarote Schwangerschaftsratgeber, die Hyperemesis, und den "Baby Blues" belächeln, helfen jedenfalls ebensowenig weiter, wie die zahlreichen vermeintlichen Hochglanzfamilien, die man auf Social Media verfolgen kann.
Darum finde ich es äußerst gelungen, wie sich dieser Roman dem Thema nähert. Sprachlich und inhaltlich packend, zieht er Lesende in einen bedrückenden Alptraum von Mutterschaft. Hat mich bisher eine schlaflose Nacht gekostet. Große Empfehlung.
Ein wenig hat er mich an Charlotte Perkins Gilmans "The Yellow Wallpaper" und Ian Reids " The Ending" erinnert, die mich auf ähnliche Art verstört haben.

Bewertung vom 05.12.2021
Die nicht sterben
Grigorcea, Dana

Die nicht sterben


sehr gut

Extrem neugierig war ich auf einen Vampirroman auf der longlist des deutschen Buchpreises. Ich war erstaunt darüber, wie schauerlich der Roman für mich mitunter war, trotz der ästhetisierten Sprache und des oft komplexen Aufbaus.
Vlad Dracula und die Geschichte Rumäniens sind Dreh- und Angelpunkt des Romans. Erzählt wird er von einer jungen Künstlerin, die im kommunistischen Rumänien aufwächst und immer wieder den alten Sitz ihrer Familie besucht. Nachdem sie in der Familiengruft einen übel zugerichteten Leichnam findet, stellt sich heraus, dass sie selbst eine Nachfahrin Draculas ist. Schlummern auch einige seiner Kräfte in ihr?
Sehr spannend fand ich das Spiel mit dem Mythos Dracula, eine Figur mit der ich mich auch selbst schon des Öfteren beschäftigt habe und der seine Faszination noch immer ausübt.
Auf der einen Seite hat der Roman eine starke politische Ebene, beschäftigt sich mit aktuellen Problemen des Landes, greift aber auch immer wieder auf die Landesgeschichte zurück.
Außerdem gibt es Verweise auf die modernen Adaptionen des Mythos, zum Beispiel auf "Twilight". Auch der historische Vlad Dracula wird immer wieder in den Blick genommen, inklusive der detaillierten Beschreibung seiner Angewohnheit, Feinde zu pfählen. ( Achtung: sehr explizit)
Eine weitere wichtige Figur im Roman ist der geldgierige Bürgermeister Sabin, der plant, in B., dem Ort in dem der Roman spielt, einen Draculapark zu errichten. Auch die Frage, wer Traian, einen alten Schwarm der Erzählerin getötet und in die Familiengruft gelegt hat, ist Element der Erzählung.
Ich habe den Roman gern gelesen, fand einige Passagen sehr stark und habe das Gefühl,dem Land näher gekommen zu sein. Auf der anderen Seite lässt er mich nicht ganz zufrieden zurück, einiges wirkte fragmentarisch, gute Ideen wurden nicht bis zum Ende durchgespielt. Manchmal hätte ich mir etwas mehr Klarheit und Struktur gewünscht.
Dennoch ein lohnenswertes Leseerlebnis.

Bewertung vom 14.11.2021
Bestiarium
Chang, K-Ming

Bestiarium


sehr gut

Was für ein Biest von einem Buch! Ein junges Mädchen, dessen Familie aus Taiwan in die USA eingewandert ist, erwacht eines Morgens mit einem Tigerschwanz. Sie ist überzeugt, dass er Hu Gu Po gehört, dem Tigergeist aus der Geschichte ihrer Mutter, der nach Kindern hungert, besonders nach ihren Zehen.

"Eines Nachts, als der Mond braun wie eine Brustwarze war, flocht sich der Tigergeist ein Tau aus Licht, stieg in den Mund einer Frau, seilte sich in ihrem Hals ab und nannte sich fortan Hu Go Po. Aber der Preis dafür, einen Körper zu besitzen, ist Hunger."

Der Schwanz führt ein Eigenleben und sie hat nur bedingt Kontrolle über ihn. Er beschützt sie, verletzt aber mitunter Menschen, die sie liebt. So auch Ben, das chinesische Mädchen aus der Nachbarschaft, das tiefe Gefühle und Lust in ihr weckt und mit dem gemeinsam, sie die Löcher in ihrem Garten erforscht. Einst gegraben auf der Suche nach Gold, das ihr Großvater dort versteckt hat. Füttert man die Löcher auf die richtige Weise, speien sie auf Hautfetzen geschriebene Briefe ihrer Großmutter aus.
Die Ich-Erzählerin bahnt sich ihren eigenen Weg durch die Mythen und Geschichten, die ihre Familie fest im Griff haben, hört von den Schlangen, die in ihrer Tante leben, setzt sich mit Hilfe ihres Tigerschwanzes gegen ihren gewalttätigen Vater zur Wehr und liest die Geschichte von ihrem Urgroßvater, der der Geliebte eines Piratenkapitäns war.
Ausscheidungen und Körperflüssigkeiten spielen eine große Rolle in der Auseinandersetzung der Ich-Erzählerin mit ihrer Identität und der Genese ihrer Familie, ebenso wie der Akt des Zeugens und Gebärens. Queere Liebe zieht sich dabei genauso durch die Generationen, wie ein starker Hang zu Mystik und Symbolik. Anfangs habe ich versucht, mir die gewaltige Bildsprache des Romans zu erschließen, aber dann habe ich mich einfach von seiner Kraft tragen lassen und das war eine gute Entscheidung. Manchmal habe ich mich verloren gefühlt, weil die Geschichte nicht stringent aufgebaut ist, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Geschichten und Realität mühelos wechselt. Auch viele mythologische Bezüge haben mir sicherlich gefehlt, aber dem ganz besonderen Sog dieser Geschichte konnte ich mich nicht entziehen. Letztlich geht es darum, die eigene Stimme zu finden, den eigenen Weg in einer Welt, die bereits von Erwartungen wimmelt. "Bestiarium" hat mir mal wieder gezeigt, warum es wichtig ist, own voices zu lesen.

Bewertung vom 03.11.2021
Raubtieraugen
Quast, Tobias

Raubtieraugen


ausgezeichnet

„Raubtieraugen“ hat mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt und ich hatte es innerhalb von zwei Tagen durch.
Ganz langsam nimmt das Grauen Einzug in den Alltag von Julius, dessen Leben in London eigentlich gerade wieder ganz gut läuft. Doch am gleichen Tag verliert er seinen Job und seine Freundin trennt sich von ihm. Zu allem Überfluss muss er auch noch eine grauenvolle Entdeckung in seinem Kühlschrank machen, die seinen Vermieter gegen ihn aufbringt. Langsam nimmt das Grauen Einzug in seinen Alltag und Julius gerät in einen Strudel, aus dem er sich nicht mehr befreien kann. Sein Lichtblick ist der Besuch seiner sechsjährigen Tochter Emilia und der Gedanke daran ist es, der ihn aufrecht hält.
In einer Bar begegnet er Philipp, der sich seine Geschichte anhört. Er und seine etwas egozentrische Mutter Agatha laden Julius über Weihnachten auf ihr Schloss ein. Julius lehnt dankend ab, aber als er direkt nach Emilias Ankunft ohne Dach über dem Kopf dasteht, bleibt ihm nichts anderes übrig, als doch noch auf das Angebot einzugehen.
Bereits auf der Autofahrt kommt es zu einem Zwischenfall, der Julius daran zweifeln lässt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Dann scheint zunächst alles eine gute Wendung zu nehmen. Emilia ist begeistert von Wargrave Castle und wird von Agatha umschwärmt. Doch Julius verliert immer mehr den Boden unter den Füßen und die Kontrolle über die Situation. Ist Agatha nur freundlich oder versucht sie ihm Emilia wegzunehmen? Und zeigt Philipp wirklich sein wahres Gesicht?
Und dann beginnt ein Alptraum für Julius, der ihn in dunklere Gefilde führt, als er sich je hätte vorstellen können.
Parallel wird die Geschichte einer jungen Frau in Nachkriegsdeutschland erzählt, die immer wieder mit den grauenvollen und brutalen Taten eines Serienkillers konfrontiert wird. Gerade diese Passagen haben eine außerordentliche erzählerische Kraft und man fühlt tief mit der jungen Frau, die sich der Spirale aus Gewalt und Wahnsinn, in die sie geraten ist, nicht mehr entziehen kann.
Erst später kommt die grausame Erkenntnis, wie die beiden Erzählstränge miteinander verbunden sind.
Die Geschichte entfaltet einen unheimlichen Sog und man kann sich den immer neuen Wendungen nicht entziehen. Für mich ein gleichzeitig unheimliches wie faszinierendes Leseerlebnis, ähnlich wie ich es oft bei Stephen King oder den frühen Geschichten von Fitzek erlebt habe. Auch Anklänge von Edgar Allan Poe habe ich gemeint zu entdecken. So erinnert mich das schauderhafte abgelegene Schloss mitunter an mein geliebtes und gefürchtetes „House of Usher“.
Es sei noch einmal erwähnt, dass einige Szenen wirklich brutale Schilderungen haben, die zwar zum Werk passen, aber für Menschen, die so etwas ungern lesen vermutlich zu heftig sind. Manchmal geht es schon eher in Richtung Horror.
Ich muss sagen, dass ich so ein fesselndes Leseerlebnis, das einen einfach nicht mehr freigibt, schon seit einer ganzen Weile gesucht habe. Bei Harlan Coben und Lucy Foley wurde ich persönlich nicht fündig, aber „Raubtieraugen“ hat mich komplett überzeugt. Große Empfehlung für Thriller Fans!

Bewertung vom 28.10.2021
Heaven
Kawakami, Mieko

Heaven


sehr gut

Lesende werden mitten hineingeworfen, in die Welt des Ich- Erzählers, die von Angst und Gewalt dominiert wird. Er wird in seiner Schulklasse gemobbt und die Täter schrecken auch vor körperlichen Angriffen nicht zurück. Vollkommen hilflos und ausgeliefert fühlt er sich, kann sich nicht erklären, warum die Aggressionen der Anderen sich gegen ihn richten.
Dann bekommt er einen Brief von Kojima, seiner Klassenkameradin, die ebenfalls drangsaliert wird. Die beiden treffen sich, verstehen und stützen einander und das gibt ihm zunächst Hoffnung. Als das Mobbing jedoch immer brutaler wird zeigt sich, dass der Weg, den Kojima wählt damit umzugehen für den Ich- Erzähler nicht annehmbar ist.
Der Roman zeigt viele Facetten des Mobbings auf. In der Figur des Momose haben wir den Täter, der nicht begreift warum das, was er tut überhaupt falsch sein soll. Eine Haltung, die bei Mobbern tatsächlich vorkommt, weswegen oft nur ganz klare und unverrückbare Grenzen, die ihnen von außen gesetzt werden, das Mobbing stoppen können. In Kojima zeigt sich ein gefährliches Verschmelzen mit der Opferrolle, das fatal enden kann und zu psychischen Problemen führt. Und durch den Ich- Erzähler werden die Traumatisierungen deutlich, das Gefühl der völligen Hilflosigkeit, das sogar zu einem Decken der Täter führt. All das habe ich als Lehrerin an verschiedenen Schulen bereits beobachtet und musste Wege finden angemessen zu helfen, auch wenn mir eine solche Brutalität wie in "Heaven" noch nicht begegnet ist. Unglaublich wichtig finde ich es, über das Thema zu sprechen und zu schreiben, die Mechanismen, die dahinterstecken zu betrachten. Vieles davon geschieht in "Heaven". Ich fand es allerdings nicht nachvollziehbar, wieso am Ende das "Schielen" des Ich-Erzählers so in den Mittelpunkt rückt, denn es gibt keine Gründe für Mobbing. Die Täter finden einfach welche.
Gewünscht hätte ich mir, dass Wege aus dem Teufelskreis gezeigt werden, aber Literatur kann natürlich Probleme benennen, ohne Lösungen aufzuzeigen. Am Ende gibt es meiner Meinung nach einen Hoffnungsschimmer, zumindest für den Erzähler.
Wichtig ist es für Opfer von Mobbing immer zu begreifen, dass es Menschen gibt, die Andere tatsächlich grundlos quälen, denn häufig suchen sie die Gründe bei sich, obwohl es gar keine gibt, bzw. alles als Grund herhalten kann. Diese Erkenntnis hat der Ich- Erzähler meiner Meinung nach nur zum Teil.

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