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Benutzername: 
Emmmbeee
Wohnort: 
Feldkirch

Bewertungen

Insgesamt 108 Bewertungen
Bewertung vom 02.06.2023
Samuels Buch
Finzi, Samuel

Samuels Buch


gut

Ein turbulentes Leben

Beim autobiografischen Roman von Samuel Finzi, „Samuels Buch“, ist das Cover ein raffinierter Schachzug, um die Aufmerksamkeit von Interessierten auf das Buch zu lenken. Dass das historische Foto umgedreht wurde, kann unter anderem so interpretiert werden, dass das ganze Leben des Schauspielers und Autors im Lauf der Zeit total umgedreht worden ist. Kein Wunder, ist er doch im ehemaligen Ostblock, in Bulgarien, geboren und als junger Mann in den „freien Westen“ ausgewandert. Dort war auch sehr vieles ungewohnt und anders.
In farbigen, teils recht skurrilen Bildern erzählt er von seiner Kindheit, Jugend und den Anfängen seiner Schauspielerkarriere. Da tauchen Szenen auf, die teils unglaublich scheinen. Gleichzeitig führt Samuel Finzi dem Leser auch das gesellschaftliche Leben von damals vor Augen. Dabei ging es seiner Familie aufgrund ihrer künstlerischen Tätigkeit (Mutter Musikerin, Vater Schauspieler) vergleichsweise gut, denn sie durften mehrmals in den Westen ausreisen. Mir gefällt der Schreibstil, das Erzähltempo, die Unterteilung in 30 kurze Kapitel.
Es ist ein autobiografischer Roman, was bedeutet, dass nicht alles genauso sein muss, wie geschildert. Aber auch wenn nur die Hälfte stimmt, ist es in Finzis Leben drunter und drüber gegangen.
Ich empfehle das Buch vor allem jenen, die gern mehr über bekannte Personen erfahren, aber auch jenen, die wissen möchten, wie es vor der Öffnung des Eisernen Vorhangs in Osteuropa ausgesehen hat, vor allem in den privilegierten Kreisen. Denn dieser Aspekt wurde bisher nur selten beleuchtet.

Bewertung vom 26.04.2023
Die unglaubliche Grace Adams
Littlewood, Fran

Die unglaubliche Grace Adams


ausgezeichnet

Allen Widrigkeiten zum Trotz

Grace‘ Mann Ben will sich scheiden lassen, Tochter Lotte hat sich mit ihrer Mutter überworfen und ist zu ihm gezogen. Nun wird sie 16, und Grace ist nicht zur Geburtstagsfeier eingeladen. Dennoch kauft sie eine Torte, gerät mit dem Auto in einen Stau und macht sich zu Fuß auf den Weg. Noch dazu – nein, mehr sage ich nicht, ihr müsst es unbedingt selber lesen.
Es gibt in diesem Roman viel Dramatik, Unvorhergesehenes, jede Menge Turbulenzen, Verwicklungen, Stolpersteine. Zur gegenwärtigen Handlung kommen Rückblicke auf die Geschichte einer Liebe, Ehe und Mutterschaft. Eindrücklich geschildert sind zwei schwierige Zeiten im Leben, die dennoch in jeder Familie unter einen Hut zu bringen sind: Pubertät und Menopause.
Grace ist eine Frau mit allen nur möglichen Schwächen, aber optimistisch, herzerfrischend komisch, energiegeladen, stark. Mann und Tochter können ihr doch nicht einfach so den Rücken kehren, wo doch ihr Kind mit etlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat!
Fran Littlewood schreibt keinen alltäglichen Stil. Mir gefällt aber ihre Liebe zum Detail, die Anschaulichkeit, das sinnliche Leseerlebnis. Noch dazu steigt der Spannungsbogen im Lauf der Handlung zusehends.
Manchmal frage ich mich, ob es denn unter all den Milliarden von bisherigen Romanen und aktuellen Neuerscheinungen noch etwas Originelles gibt, mit dem der Autor sich auf dem Markt durchsetzen kann. Es ist schier unglaublich, aber dieses brandneue Buch wird explosionsartig auf dem Büchermarkt hochkochen, das wage ich zu behaupten.
Das Taschenbuch ist kompakt gestaltet, mit einer großen Klappe, welche die Seiten zusammenhält. Auf dem Cover eine aufgehende Sonne, von einer weiblichen Gestalt willkommen geheißen. Das ist der erste Eindruck, den man erhält. Eine der Schlüsselszenen ist in wenigen Worten im Inneren des Umschlags hingetupft. Nachdem ich die gelesen hatte, konnte mich nichts mehr vom Lesen abhalten.
Die Übersetzerin Katharina Naumann hat bereits anderen Romanen zum Bestseller in deutscher Sprache mit verholfen. „Die unglaubliche Grace Adams“ ist eines der Bücher, von denen ich mir eine Fortsetzung wünsche. Und ja, ich empfehle dieses Werk gerne weiter.

Bewertung vom 18.04.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


sehr gut

Leben und Tod in der Karibik

Im Erstlingsroman von Ayanna Lloyd Banwo geht es buchstäblich um Leben und Tod, wobei der Tod für viele Leser natürlich ungleich interessanter ist. Die Umstände rund um diese beiden Pole sind auf Trinidad, welches wir hauptsächlich aus dem Urlaub kenne, so ganz anders als bei uns in Mitteleuropa.
Und es geht natürlich auch um Mann und Frau, um eine spezielle Begegnung auf dem Friedhof Fidelis in Port Angeles. Da ist einmal Emmanuel Darwin, früher Rastafari, nun auf der Suche nach seinem Vater. Als Totengräber muss er ja fast Yejide begegnen, die ihre soeben verstorbene Mutter beerdigen soll.
Jeder Todesfall ist für die Familien auf Trinidad eine große Sache, die zahlreiche Umstände mit sich bringt. Viele Geheimnisse kommen hinzu, viel Mystik, viele außergewöhnliche Kräfte.
36 Kapitel hat der Roman, und die Erzählung einer Großmutter fungiert als roter Faden. Wie bei einer Speise wird er gewürzt von Humor und scharfen Zutaten. Die sehr bildhafte Sprache gefällt mir sehr. Banwo erzählt eindringlich. Manchmal wird sie allerdings weitschweifig, was den Spannungsbogen spürbar mindert. Doch der Einblick in eine völlig andere Kultur auf einem anderen Kontinent ist allemal äußerst interessant.
Die Vögel im Titel des Buches sind vielseitig deutbar, mehr möchte ich nicht verraten. Die bunte Gestaltung des Covers mit seinen kräftigen Farben harmoniert sehr gut mit dem Inhalt des Romans und mit den geheimnisvollen Hintergründen der Handlung.
Ein Buch, das ich gerne weiterempfehle.

Bewertung vom 26.03.2023
Melody
Suter, Martin

Melody


ausgezeichnet

Ein flüchtiges Wesen
Sie taucht auf, verdreht den Männern durchs Band den Kopf und entzieht sich nach ein paar Monaten auch schon wieder. Ein geheimnisvolles, flüchtiges Wesen, die Titelheldin des neuen Romans von Martin Suter. Was an ihr ist es, das die Männer so fasziniert?
Darüber kann wohl am ehesten Dr. Peter Stotz Auskunft geben, denn Melody war mit ihm verlobt. Doch drei Tage vor der Hochzeit verschwand sie. 40 Jahre später befindet sich der Alt-Nationalrat dem Tod nahe, möchte seinen Nachlass geordnet wissen und stellt dafür den jungen Tom Elmer ein. An zahlreichen Abenden und unter dem Einfluss von erlesenen Tropfen erzählt er von seiner großen Liebe, eben Melody, und dabei zeigt sich, dass Autor Martin Suter ein Meister des Cliffhangers ist.
Dem Studenten öffnet sich eine luxuriöse Welt, aber auch viele Fragen. Nach dem Tod seines Arbeitgebers wird aus dem Ordnen ein Suchen nach der verschollenen Frau, gemeinsam mit der Nichte des Verstorbenen. Melody ist auf jeder der 329 Seiten gegenwärtig. Sie lächelt und hebt ein wenig die Schultern.
Ich habe so gut wie alle Bücher von Martin Suter gelesen und war hocherfreut, dass er uns mit einem neuen Werk beschenkt hat. Es ist gewohnt süffig und spannend geschrieben, voll farbiger Bilder, diesmal zusätzlich angereichert durch kulinarische Einblicke. Und wie so oft gibt es immer wieder überraschende Wendungen, besonders natürlich gegen Schluss.
Love and crime, bin ich versucht zu schreiben, aber das ist es nicht allein, was Suters Romane so beliebt macht. Es sind auch die genauen Recherchen, welche Authentizität mit sich bringen, und wenn es auch nur um den Rollator geht.
Ein Roman, den ich jedem nur empfehlen kann.

Bewertung vom 04.03.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


sehr gut

Nix mit Romantik

Es ist beinahe ein Klischee, dass Konflikte ausbrechen, sobald eine Idylle durch ein Unglück gestört wird. So auch bei der Segeltörn zur Schärenwelt Schwedens. Ein Ehepaar macht seinen gemeinsamen Wunsch wahr und lädt dazu einen Kollegen des Ehemannes Andreas und seine Freundin ein. Doch nicht jeder ist freiwillig mit an Bord.
Es beginnt traumhaft schön, doch schon bald machen sich Unstimmigkeiten zwischen den vier Menschen bemerkbar. Auch der Skipper Erik, zu Beginn eine undurchsichtige Gestalt, lässt allmählich seine Maske fallen. Nicht nur am Himmel ballen sich drohend die Wolken, auch zwischen den fünf Menschen brodelt es, ein gewaltiges Drama bahnt sich an. Auf einem Boot kann keiner dem anderen ausweichen. Jeder steht unter Beobachtung, steht unter Hochspannung. Nein, das ist kein harmloser Urlaub. Es gibt auch keine romantischen Szenen oder ferienhafte Gemütlichkeit.
Die Kapitel wechseln sich ab aus der Sicht der beiden Paare, sodass man sich als Leser mittendrin befindet und die Figuren besser versteht. Es geht um Machtspiele, Druck, Abhängigkeiten. Nicht nur das Boot gerät bei Sturm aus dem Gleichgewicht, auch die Konstellationen bleiben nicht dieselben.
In plastischer, sehr farbig lebendiger Sprache führt und Christina Hauff durch die Handlung. Die Spannung steigt zusehends. Es wurde beim Lesen so aufregend, dass ich den Roman kaum mehr aus der Hand legen wollte. Den Schluss habe ich so nicht erwartet, ihn nicht einmal geahnt. Doch so ganz stimmig kam er mir nicht vor.
Schon Hauffs Roman „Unter Wasser Nacht“ habe ich fasziniert gelesen. Neben dem Eintauchen in die Welt auf einem Boot gefiel mir bei diesem die Beschreibung der einzelnen Figuren und der Entwicklung zwischen ihnen. Der Stil ist flott und süffig, durch die wechselnde Sichtweise recht nahegehend. Immer wieder kommt es anders, als der Leser denkt, das trägt noch zur Spannung bei.
Das Cover scheint mir sehr passend, denn es vermittelt die drohende Atmosphäre auf dem Boot und die durch das Wetter verursachte auf dem Meer. Ich empfehle den Roman allen, die sich nicht nur für die Beschreibung von Spannungen zwischen den Menschen interessieren, sondern auch die das Meer, Boote, Schweden etc. mögen.

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Bewertung vom 24.02.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


gut

Zurück im Dorf

Die Bachmann-Preisträgerin Birgit Birnbacher legt ihren neuen Roman vor. In unprätentiöser, ruhiger Sprache erzählt sie von Julia, die in ihr Dorf zurückkehrt und noch nicht weiß, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Ist ihr Aufenthalt nur eine Zwischenstation? Oder ist sie gekommen, um zu bleiben?
Nach dem beruflichen Scheitern und aussichtslosen Liebesdingen in der Stadt spürt sie, dass sie im Heimatdorf nicht mehr richtig dazugehört. Sie lernt den „Städter“ kennen, einen Mann, der zur Reha hierhergekommen ist. Mit ihm kann sie sich auf gleicher Ebene unterhalten, während der Vater und die Dorfbewohner mit obskuren Erwartungen an sie herantreten.
Eigentlich geschieht nicht viel. Ein Spielstein ist die schreiende Ziege. Und was ist eigentlich mit der Mutter, die in Sizilien lebt?
Von Anfang an besteht ein Spannungsbogen und ein gewisser Sog. Aber mir war lange nicht klar, worauf das Ganze hinauswill. Bei so vielen anklingenden Aspekten (die Rolle der Arbeit, persönliches Versagen, Asthma, der kranke Bruder in der Heilanstalt) ist alles recht ungewiss.
Die Atmosphäre ist bedrückend, besonders wenn von Julias Bruder David die Rede ist. Mehrmals hat es mich gefröstelt beim Lesen, denn es ist ein sehr ungemütliches, winterlich kaltes Dorf. Eine pessimistische Grundstimmung durchzieht den Roman. Auch die Beschreibung von Julias Atemnot ist nicht gerade aufheiternd. Es gibt keinerlei Gefühlsregungen, sehr fern nimmt sich die Figur der Mutter aus, auch zum Vater besteht viel Distanz.
Der Schluss hat mich sehr überrascht, aber nicht überzeugt. Er scheint mir reichlich an den Haaren herbeigezogen.
Mir gefällt die pointillistische Covergestaltung, auch wenn ich mir beim Lesen lange nicht vorstellen konnte, wann es denn warm genug zum Schwimmen sein würde, spielt doch ein großer Teil der Handlung in der kälteren Jahreszeit.
Insgesamt konnte ich mich für den Roman nicht erwärmen. Er hat nicht vermocht, mich zu fesseln.

Bewertung vom 21.01.2023
Frankie
Köhlmeier, Michael

Frankie


ausgezeichnet

Erst angepasst, dann rebellisch

Der vierzehnjährige Frank lebt bei seiner Mutter. Er ist gern mit ihr zusammen, kocht für sie, lacht mit ihr, kommt auch mal mit zur Arbeit. Die beiden sind eine harmonierende Einheit. Als der Großvater aus dem Gefängnis entlassen wird, steht er ihm zunächst ablehnend gegenüber, wird er von ihm doch Frankie genannt, was der Junge gar nicht mag.
Doch dann kann er sich der Wirkung des Älteren nicht entziehen. Nach und nach tut er Dinge, die noch vor wenigen Tagen für ihn nicht in Frage gekommen wären. Als auch noch sein Vater auftaucht, wird es kompliziert. Schließlich wird Frankie im Lauf eines Roadtrips mit einem Schlag zum Rebell, der alles Bisherige hinter sich lassen will.
Gewohnt flüssig, plastisch, farbig führt uns Köhlmeier linear durch seinen neuesten Roman. Sehr vieles spielt sich unterwegs zwischen Wien und Niederösterreich ab, zu Fuß, mit dem Zug, der Straßenbahn, in Autos. Ebenso nimmt die Handlung laufend Fahrt auf, wird immer spannender. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, was der Junge denkt, empfindet, was ihn zum Handeln antreibt.
Doch so abenteuerlich der Fortgang sich auch entwickelt, immer bleibt der Erzählton ruhig, gelassen, wie außerhalb der Szene stehend und beobachtend. Da ich Köhlmeiers Hörbücher besonders schätze, habe ich während des Lesens die raunende Stimme des Autors stets im Hintergrund gehört.
Was mich an seinen Werken so fasziniert und was mich jeweils so gespannt auf sein nächstes Buch warten lässt, ist die Vielseitigkeit des Autors. Angefangen von antiken Sagen bis zu außergewöhnlichen Tiergeschichten sind Spektrum und Themenumfang enorm. Wie erwähnt, schreibt der Autor nicht nur, sondern bespricht seine Hörbücher selbst – ein ganz besonderes Erlebnis! So ist es auch kein Wunder, dass er seit seinem 25. Lebensjahr haufenweise Preise einfährt.
Ein Generationen- und Entwicklungsroman, Roadtrip, fast ein Krimi. Es gibt keinen Leser, dem ich den Roman nicht empfehlen würde.

Bewertung vom 11.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


gut

Die Rückseite unserer Lebensform

„Das gesellschaftliche Leben ändert sich immer … Derlei schlägt sich natürlich auch im Abfall nieder, der eine Rückseite unserer Lebensform darstellt.“ Das erklärte Arno Geiger in einem Interview. Und dieser Abfall, resp. sein Sammeln und Verkauf finanzierte dem damals noch angehenden Autor mehrere Jahre Aufenthalt in Wien. „Der Abfall zeigt uns eher so wie wir sind und nicht, wie wir sein wollen.“ Auch das stammt aus dem Mund des Autors.
Begonnen hat Geiger mit den Papiercontainern, wo er nach Büchern suchte und weitere Schätze fand. Erst zu Fuß, dann mit dem Fahrrad zog er seine Runden durch Wien. Alle paar Monate stellte er sich mit seiner Beute auf den Flohmarkt beim Naschmarkt am linken Wienufer.
Doch nicht nur von seiner Anfangszeit als Schriftsteller handelt Geigers neuer Roman, er erzählt auch von K., einem Glücksfall von Frau, wie er sich sinngemäß ausdrückt; ebenfalls von den Altersjahren seiner Eltern und seinen ersten literarischen Erfolgen.
Doch der Abfall spielt die zentrale Rolle, gibt er doch Auskunft über das, was Menschen unter „Leben“ verstehen. Und je mehr Arno Geiger fand, umso mehr wuchs seine Erkenntnis über die Menschen, umso mehr Stoff für weitere Bücher konnte er sammeln. Und natürlich muss dieses „Lumpensammeln“ ein Geheimnis bleiben, denn eine respektable Tätigkeit ist es nicht, seine Beine aus einem Abfallcontainer ragen zu lassen.
In gewohnt süffigem Stil lässt Geiger uns an seinem Fund-Glück teilhaben. Ich kann mir genau vorstellen, welche Straßen er seine Sackkarre hochgeschoben hat, dieser Teil Wiens erhebt sich plastisch aus den Seiten.
Auch über die Schwierigkeiten von Beziehungen ließ er uns nicht im Unklaren. Doch über mehrere Seiten hinweg zog sich der Text langatmig und zäh, sodass ich begann, querzulesen. Doch das Cover scheint mir passend: legere Kleidung, nach den „Tauchgängen“ gut zu reinigen, und der Hut könnte ein Fundstück sein.

Bewertung vom 03.10.2022
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


ausgezeichnet

Mut und selbstlose Liebe

Angst und heimliches Weitergeben von verschlüsselten Nachrichten, Kontrolle und Verrat, Misstrauen und Verlust durchziehen den neuen Roman von Celeste Ng. Wieder legt sie ihren Finger auf eine problematische Stelle unserer Gesellschaft, diesmal fiktional. Big brother wird hier PACT genannt.
Seine Mutter nannte den kleinen Jungen Bird, doch dann war sie spurlos verschwunden. Fortan muss er sich mit seinem korrekten Namen Noah nennen lassen. Sein Vater löscht alle ihre Spuren aus, für die Öffentlich gut sichtbar. Denn sie hat ein Gedicht geschrieben, von dem eine Zeile angeblich die rebellischen Bürger zum Widerstand aufrufe. Bird möchte herausfinden, wo seine Mutter ist und warum sie ihn verlassen hat.
Da ist auch die rebellische Sadie, die ihren Eltern weggenommen wurde, um bei linientreuen Menschen aufzuwachsen. Mit ihr verbindet Bird eine feste Freundschaft. Auch sie will ihre Eltern finden und verstehen, warum sie nicht bei ihnen sein darf.
Von einer überaus korrekten, ärmlichen Welt über einen kurzen Ausflug in den Luxus bis zum äußerst kargen Dasein führt Birds Weg zu seiner Mutter, die immer noch für die Rückführung von Kindern kämpft, und zwar mit einem unerwarteten Mittel. Schon glaubt der Leser, dass es ein Happy End gibt, als sich ein weiterer Abgrund öffnet.
In diesem Roman geht es um Kontrolle und Ausgrenzung, Rassenhass und selbstlose Liebe, um Mut und Freundschaft. Celeste Ng errichtet vor uns eine Welt, wie sie durchaus sein könnte, gut vorstellbar im republikanischen Amerika oder diktatorisch regierten Ländern. Aus wechselndem Standpunkt schildert sie die Sichtweise von Bird, die Hintergründe für die Entscheidung seiner Mutter und die Verflechtung gegen Ende des Buches.
Dass mit dem Coverbild Vorhänge gemeint sind, hinter denen die Nachbarn spionieren, ist schon ziemlich unklar. Für mich wirken diese hellblauen Säulen eher wie die Schneiden von Messern oder die Gitterstäbe einer Absperrung.
Ich empfehle den Roman allen Lesern, denn er ist nicht nur hervorragend geschrieben, sondern öffnet uns auch die Augen vor den Gefahren, die einer Gesellschaft drohen, wenn die Obrigkeit das eigenständige Denken einschränkt.

Bewertung vom 21.09.2022
Ein Kind namens Hoffnung
Sand, Marie

Ein Kind namens Hoffnung


sehr gut

Hoffnung als Triebfeder einer tapferen Frau

Elly ist als Köchin in einer wohlhabenden jüdischen Familie angestellt. Als die Nazischergen das Ehepaar Sternberg abholen, kann sie deren kleinen Sohn Leon als ihr eigenes Kind ausgeben und damit retten. Sie verspricht, Leon und seine Mutter wieder zu vereinen, obwohl das nach Kriegsende mit den Jahren immer unwahrscheinlicher wird.
Doch fürs Erste beginnt für sie eine mühevolle Zeit. Flucht, Not, Hunger durchsetzen ihr Leben, die Heimatlosigkeit kommt noch dazu. Schließlich rettet ein Bauer sie durch Heirat, wenn sie auch von einem anderen Mann schwanger ist. Immer wieder keimt neue Hoffnung auf, immer wieder kann sie Leon und ihre eigene kleine Tochter schützen. Doch werden Frau Sternberg und ihr Sohn Leon sich jemals wiedersehen?
Marie Sand erzählt die Geschichte einer tapferen Frau, die nie den Mut verliert, sich durch alle schwierigen Lebenslagen kämpft und das schmale Fähnlein der Hoffnung unbeirrt hochhält. Der Roman gibt Einblick in eine der dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte, liest sich aber dennoch unterhaltsam und spannend. Die Sprache ist flüssig, farbig, plastisch. Zwischendurch stieß ich beim Lesen auch auf Besonderheiten, etwa wenn von einem Nu die Rede ist. Außer bei der Wendung „im Nu“ wird das Wort ja selten gebraucht. Zeitlich in vier Abschnitte aufgeteilt, vermittelt das Werk ein Bild der Zeit und der Umstände, wie sie wohl gewesen sein werden.
Innerhalb kürzester Zeit habe ich das Buch verschlungen und empfehle es jedem weiter, der sich einerseits für die damalige Zeit, andrerseits für Menschen interessiert, die zu allem bereit waren, wenn sie helfen und gar ein Leben retten konnten.