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YukBook
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München

Bewertungen

Insgesamt 295 Bewertungen
Bewertung vom 08.06.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Den letzten Sommer in ihrem Ferienhaus am Lake Christopher in North Carolina hat sich die Familie Starling, um die sich dieser Roman dreht, sicher anders vorgestellt. Statt all die Dinge, die sie an diesem Ort geliebt haben, ein letztes Mal zu durchleben, werden sie von einem schrecklichen Unfall auf dem See überrascht, der nicht nur ihr gemeinsames Wochenende überschattet, sondern ihr Lebenskonstrukt ins Wanken bringt.

In jedem Kapitel steht ein anderes Familienmitglied im Fokus – zum Beispiel Sohn Michael, der keinen Tag ohne Alkohol übersteht, sein Bruder Thad, der um Liebe und Anerkennung ringt oder sein Partner Jake, ein erfolgreicher, egozentrischer Künstler. Anhand der komplexen Charaktere, ihren Geheimnissen und falschen Erwartungen macht der Autor deutlich, was Menschen in ihrem Leben anstreben und wie und woran sie scheitern.

Mit welch literarischem Talent und psychologischer Tiefe David James Poissant das Menschliche und Zwischenmenschliche analysiert und mal komisch, mal spannungsreich die Entwicklung der einzelnen Figuren schildert, hat mich verblüfft und sehr beeindruckt.

Bewertung vom 05.06.2024
Unter Wasser ist es still
Dibbern, Julia

Unter Wasser ist es still


ausgezeichnet

Geschichten dieser Art wurden schon oft erzählt: Eine Frau reist in ihre Heimat, um ihr Elternhaus aufzulösen und zu verkaufen und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Dieser Roman hat mich jedoch besonders berührt.

Eigentlich möchte die Hauptfigur Maira ihre Aufgabe in Soeterhoop so schnell wie möglich erledigen und wieder nach Frankfurt, wo sie als Restauratorin arbeitet, zurückkehren, doch so einfach ist es nicht. Erinnerungen an glückliche Tage mit ihren engsten Freunden, aber auch traumatische Erlebnisse mit ihrer kranken Mutter kommen wieder hoch. Welche Überwindung es sie kostet, nach 18 Jahren wieder ihr Haus zu betreten und sich der Ostseeküste, die ihr einst so viel bedeutet hat, zu nähern, beschreibt die Autorin sehr eindringlich und überzeugend.

Auch die Nebenfiguren sind vielschichtig angelegt und hauchen dem Schauplatz Leben ein. Mairas seelische Nöte und ihr Gefühl, andere hätten sich weiterentwickelt und ihr Leben weitergelebt, während sie selbst damit beschäftigt war, die Vergangenheit zu bewältigen, konnte ich gut nachfühlen. Sie wuchs mir immer mehr ans Herz. Die Geschichte hat für mich genau das richtige Tempo, ist trotz der emotionalen Achterbahn an keiner Stelle kitschig und bleibt durch eine ungeklärte Schuldfrage und schwierige Entscheidungsfindung bis zum Ende spannend.

Bewertung vom 01.06.2024
Marigold und Rose
Glück, Louise

Marigold und Rose


sehr gut

Wer sich fragt, was wohl in den Köpfen von Babies vorgeht, ist nach der Lektüre dieser Geschichte vielleicht etwas schlauer. Louise Glück lässt die titelgebenden Zwillingsmädchen abwechselnd aus ihrer jeweiligen Sicht erzählen, welche Erfahrungen sie in ihrem ersten Lebensjahr machen.

Marigold ähnelt eher ihrem Vater, ist nachdenklich, still und kann es kaum erwarten, Wörter zu lernen und ein Buch zu schreiben. Rose dagegen ist gesellig, extrovertiert und abenteuerlustig. Der Reiz liegt in dem Gegensatz zwischen ihren kindlichen Entwicklungsschritten und den existenziellen Fragen, die sie sich stellen. Während sie lernen zu krabbeln und zu sprechen, sinnieren sie über ihren gegensätzlichen Charakter, die mysteriöse Welt der Erwachsenen, die ihnen trotz ihres Alters noch sehr unwissend erscheinen, und ihre eigenen Gefühle.

Die Vorstellung, dass ein Baby, das noch keine Wörter beherrscht, bereits an die Schriftstellerei denkt, brachte mich zum Schmunzeln und machte mich auch nachdenklich. Der Versuch, die Welt zu verstehen, scheint bei Marigold den Drang auszulösen, sich schriftlich damit auseinanderzusetzen. Was vermutlich auf alle, aber besonders auf Säuglinge zutrifft, ist wohl die Tatsache, dass man erst etwas vermisst, wenn es nicht mehr da ist. Die stetige Erweiterung von Kenntnissen und Fähigkeiten geht einher mit Verlusterfahrungen – dies war für mich eine der vielen Weisheiten, die uns Louise Glück in dieser ungewöhnlichen Erzählung vermittelt.

Bewertung vom 24.05.2024
Das Geflüster
Audrain, Ashley

Das Geflüster


gut

Der Roman beginnt mit einer Gartenparty, auf der die Stimmung alles andere als fröhlich ist. Der Reihe nach werden die „befreundeten“ Protagonisten aus der Nachbarschaft eingeführt, die sich argwöhnisch mustern. Verschärft wird das Ganze, als die Gastgeberin ihren Sohn anbrüllt und die Gäste schockiert. Ob dieser Vorfall mit einem späteren tragischen Unfall zusammenhängt, bildet die Rahmenhandlung.

Anhand der sehr unterschiedlichen vier Frauentypen beleuchtet die Autorin das Thema Mutterschaft in allen Facetten – vom unerfüllten Kinderwunsch über Erziehungsprobleme bis hin zur Selbstaufgabe in der Mutterrolle – und dem Druck, den Erwartungen gerecht zu werden. Interessant dabei ist, wie unterschiedlich das Selbst- und Fremdbild ist.

Auf mich wirkten die Figuren ein wenig zu stereotyp. Sie sind allesamt sehr negativ eingestellt und geprägt durch Misstrauen, Wut und Hass. Vergeblich wartete ich auf einen Funken Hoffnung oder ein Quentchen Humor, was ihre Probleme und Krisen abgefedert hätte. Auch das Ende überzeugte mich nicht ganz. An den Vorgängerroman „Der Verdacht“, der mich sehr gefesselt hatte, kommt diese Geschichte leider nicht heran.

Bewertung vom 06.05.2024
Brüderchen
Dupont-Monod, Clara

Brüderchen


ausgezeichnet

Wenn von einem schwerbehinderten Kind die Rede ist, denkt man oft an die zusätzliche Belastung für die Eltern, doch selten fragt man sich, wie es dabei den Geschwistern geht. Eine vage Vorstellung davon bekam ich in diesem Roman.

Das titelgebende dritte Kind in der namenlosen Familie kann weder sehen, sprechen noch laufen. Im ersten Kapitel wird erzählt, wie der älteste Bruder damit umgeht. Der Draufgänger verwandelt sich immer mehr zu einem fürsorglichen Beschützer, der eine starke emotionale Bindung zu dem Brüderchen aufbaut und seinen ganzen Lebenssinn auf ihn fokussiert.

Seine jüngere Schwester, scheinbar fröhlicher Natur, wird auch hin und wieder erwähnt, doch wie sie die gleiche Situation tatsächlich erlebt, erfahren wir erst im zweiten Kapitel. Ihre Sicht ist eine völlig andere, und ihr Leid und ihre kämpferische Haltung haben mich schlichtweg umgehauen.

Die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen das unangepasste Kind auf diese Familie hat: für den einen verkörpert es Unschuld, eine reine Seele und ist eine Bereicherung, für den anderen raubt es die gesamte Energie der Familie und lässt andere Mitglieder vereinsamen. Was für eine originelle Idee, die Geschichte aus der Perspektive der Mauersteine im Hof erzählen zu lassen. Dieser Roman, der die raue Natur der Cevennen mit einbezieht und gekonnt zwischen zärtlichen, archaischen und tieftraurigen Gefühlen schwankt, zählt für mich zu den stärksten, die ich in letzter Zeit gelesen habe!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.04.2024
Der Meisterdieb
Finkel, Michael

Der Meisterdieb


ausgezeichnet

Die Geschichte klingt zu verrückt, um wahr zu sein, doch es gibt ihn wirklich: den Protagonisten Stéphane Breitwieser, der Kunstwerke in einem Wert von über einer Milliarde Euro erbeutete. Im Gegensatz zu anderen Kunstdieben, machte er seine Beute jedoch nicht zu Geld, sondern hortete sie im Dachboden des Hauses seiner Mutter und ergötzte sich an dem Anblick.

Den Wunsch, sich von Schönheit zu umgeben, kann ich als Kunstliebhaber gut verstehen – allerdings teile ich nicht seine Vorliebe für die Renaissance. Außerdem ist Kunst für alle da, doch Breitwieser sah das anders. Was seine Leidenschaft und seine Sammelwut in seiner Kindheit entfachte und was ihn antrieb, mit seiner Lebensgefährtin quer durch Europa auf Beutejagd zu gehen, erzählt der Autor einfach mitreißend. Seine Sprache ist reduziert, präzise und elegant  – genauso wie Breitwiesers Methode auf seinen Raubzügen.

Ich war fasziniert und empört zugleich, mit welchem Geschick und welcher Dreistigkeit er Skulpturen, Pokale und Gemälde mitgehen ließ, teilweise mehrere auf einen Schlag. Die farbigen Abbildungen im Mittelteil des Buches ersparten mir erfreulicherweise die Suche im Internet. Wie Psychologen seine Obsession beurteilten, fand ich ebenso interessant wie den historischen Einblick in andere Kunstdiebstähle. Das Buch liest sich wie ein Thriller und ist nicht nur für Kunstinteressierte ein großer Lesegenuss!

Bewertung vom 13.04.2024
Butter
Yuzuki, Asako

Butter


ausgezeichnet

Eine Geschichte über eine „Beziehung“ zwischen einer Reporterin und einer Gefängnisinsassin liest man nicht alle Tage. Doch nicht nur in der Hinsicht ist dieser Roman ungewöhnlich und originell.

Hauptfigur Rika Machida bemüht sich um ein Exklusivinterview mit Manako Kajii. Letztere soll das Leben dreier Männer auf dem Gewissen haben, die auf mysteriöse Weise umkamen. Bei jedem Besuch im Gefängnis versucht Rika mehr Infos aus der Angeklagten herauszulocken und kann sich immer weniger ihrem Einfluss entziehen.

Die Geschichte ist deshalb so faszinierend, weil die Autorin verschiedenste Frauentypen vorstellt, ohne eine bestimmte Position zu vertreten, und auch die typischen Bedürfnisse japanischen Männer auf den Punkt bringt. Manako zum Beispiel hat paradoxerweise eine sehr konservative Haltung zur Frauenrolle und nimmt sich trotzdem die Freiheit, sich ihren kulinarischen Gelüsten hinzugeben. Mit großem Vergnügen und Appetit habe ich verfolgt, wie sie von ihrer Zelle aus die Reporterin auf zahlreiche Missionen schickt, damit diese üppige Gerichte mit reichlich Butter und viele andere Delikatessen zu kochen und zu schätzen lernt. Die sinnlichen Beschreibungen ihrer Geschmackserlebnisse waren auch für mich ein Genuss.

Mit lakonischem Humor und Tiefgang beleuchtet Asako Yuzuki Themen wie Freundschaft, Ehe, Kinderwunsch, die Pflege älterer Menschen, Karriere und Einsamkeit und erzählt, wie die Protagonistin allmählich einen neuen Lebensstil und Selbstwertgefühl entwickelt.

Bewertung vom 24.03.2024
Wellness
Hill, Nathan

Wellness


ausgezeichnet

Über eine Liebe und Ehe, die heftige Risse bekommt, ist schon viel geschrieben worden. Selten ging ein Autor aber so in die Tiefe wie Nathan Hill in diesem Roman.

Die Psychologiestudentin Elizabeth und der junge Fotograf Jack lernen sich 1993 in Chicago kennen und werden schnell ein unzertrennliches Paar. Der Kontrast zwischen der Phase, in der sie auf Wolke sieben schweben, und ihrer Ehe, in der Planung und Pragmatismus jegliche Romantik vertreibt, wird durch den dramaturgischen Aufbau verstärkt. Der Autor springt wild zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her und breitet die Herkunft und Familiengeschichte der beiden episch aus, so dass man begreift, warum sie so handeln wie sie handeln.

Nathan Hill geht nicht nur in die Tiefe, sondern auch in die Breite und entlarvt, was die Haupt- und Nebenfiguren mit ihren unterschiedlichen Überzeugungen und Illusionen für die Realität halten. Egal, ob es um Gentrifizierung, Beziehungspsychologie, Verschwörungstheorien, Algorithmen oder Spiritualität geht, über jedes Thema schreibt er so detailliert und kenntnisreich, als wäre es sein Fachgebiet. Immer wenn ich das Gefühl hatte, es wird zu ausufernd, wurde ich von einer neuen Offenbarung überrascht. Dieser großartige Roman über zwei Menschen, die lernen müssen, mit der Last ihrer Vergangenheit und den Unwägbarkeiten der Gegenwart umzugehen, ist mit viel Humor gespickt und bereitete mir trotz der über 700 Seiten ein kurzweiliges Lesevergnügen.

Bewertung vom 08.03.2024
Am Meer
Strout, Elizabeth

Am Meer


ausgezeichnet

Die innige und zugleich schwierige Beziehung zwischen den Protagonisten Lucy und William ist mir seit dem Vorgängerroman „Oh William“ vertraut. Diesmal wird ihr Verhältnis erneut auf die Probe gestellt. Das Coronavirus breitet sich in New York aus, und William bringt seine Ex-Frau in ein Haus in Maine, um sie zu schützen.

Auch für Leser, die das Paar noch nicht kennen, wird der Unterschied zwischen den Charakteren sofort sichtbar: Lucy fühlt sich überrumpelt und unterschätzt die Gefahr, während William vernunftgesteuert und tatkräftig alles Nötige in die Wege leitet. Ich konnte mich gut in Lucy hineinfühlen und erinnerte mich daran, dass auch mir der Lockdown damals so surreal vorkam. Ich war gespannt, ob die Ausnahmesituation die Verhaltensmuster, die sich nach 20 Jahren Ehe und 20 Jahre Trennung bei ihnen eingespielt haben, durchbrechen wird.

Das Talent der Autorin, subtil und mit wenigen Worten intensive Emotionen und eine existenzielle Erfahrungstiefe zum Ausdruck zu bringen, habe ich schon immer geschätzt, doch in diesem Roman erreicht dies noch eine höhere Stufe. Wie kein anderer schafft sie es, ihre aufmerksamen Beobachtungen, klugen Gedanken über zwischenmenschliche Beziehungen, Ängste und Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in eine wunderbare Sprache zu packen. Wie die Pandemie nicht nur das Leben von Lucy, William und ihren Kindern, sondern auch New York verändert hat, ist absolut lesenswert.

Bewertung vom 04.03.2024
Der Wald
Catton, Eleanor

Der Wald


ausgezeichnet

Der Kontrast zwischen den zwei Protagonisten könnte kaum größer sein. Mira Bunting engagiert sich in der Aktivistengruppe Birnam Wood, die Gärten auf vernachlässigten Grundstücken anpflanzt. Dem Milliardär Robert Lemoine kommt die Begegnung mit ihr sehr gelegen, denn die finanzielle Unterstützung dieses Kollektivs kann er zu seinem eigenen Vorteil nutzen.

Die beiden kommen aus völlig verschiedenen Welten, handeln aus unterschiedlichen Interessen und doch sind sie sich ebenbürtig, was ihre Willensstärke und ihr Talent für Lügen und Täuschungen betrifft. Wie sie miteinander in Tuchfühlung gehen, sich gegenseitig provozieren und einen verbalen Schlagabtausch liefern, zählte für mich zu den Höhepunkten des Romans. Diese Konstellation bringt allerdings eine neue Dynamik in das Kollektiv und hat ungeahnte Folgen. Weitere Protagonisten kommen ins Spiel, die Ereignisse überschlagen sich und ich flog nur so über die Seiten.

Eine temporeiche, raffinierte Story über hochbrisante Themen, die uns derzeit beschäftigen, gepaart mit charismatischen Figuren und psychologischer Tiefe machen den Roman zu einem Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Ich werde ganz sicher noch mehr von Eleanor Catton lesen.