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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

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Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 22.11.2023
Minihorror
Markovic, Barbi

Minihorror


ausgezeichnet

Mini und Miki in ihren alltäglichen und immer wieder ins Absurde reinschlitternden Dialogen machen Spaß. Sie haben Angst, Angst und Angst, und das ist verständlich. Sie treffen eine fleischfressende Cousine, haben Spaß wie ein Paar in der Werbung, denken an Roxette, eine deutsche Camperin aus der Kindheit, an Bettwanzen, Ikea, regen sich würdevoll auf, geben Kopfnuss, treffen einen flüchtigen Freund, der tot ist, sind sich des eigenen Todes nicht sicher, erleben Chaos und Würgereiz, begegnen Staub, sind im Haus nebenan, beschäftigen sich mit unerwünschten kriechenden Mitbewohner:innen, Gurkenfliegern, trennen sich, weinen im Shared-Office-Space, finden ein großes Plüscheinhorn, suchen Kitzelmonster, essen drei Snickers am Tag, schließen sich einer obstessenden Gruppe mit Sendebewußtsein an, werden von einer Frau in Barfußschuhen behelligt und sehen aus wie ein 13jähriger Hund... Also, nicht immer beide.

Wie Humor noch beschreiben? Minihorror von Barbi Marković trifft meinen. Ich zeranalysiere mal nicht, denn der Humor funktioniert so gut, da Marković genau an den richtigen Stellen ertappt und zuspitzt. Ich musste beim Lesen lächeln, laut auflachen und weiterlesen, fast an einem Stück und nun wünsche mir dringend eine Fortsetzung. Nein, ich brauche sie.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2023
Das Wetter Buch für Text und Musik

Das Wetter Buch für Text und Musik


ausgezeichnet

Das Wetter feiert mit »Das Wetter Buch« Das Wetter... Spannend ist dieses Magazin für Text & Musik, das den Anachronismus schafft. Musikjournalismus findet fast nicht mehr statt im Print, abgesehen von einigen Nischen im klassischen Feuilleton der großen Zeitungen, aber wer liest das nochmal? Klar, es gibt noch ein paar andere Magazine und vieles verlagert sich ins Netz, verbubbelt sich und verhindert damit einen geweiteten Blick auf die Gegenwart und Popkultur. Gibt es das eigentlich, 𝑑𝑖𝑒 Gegenwart, 𝑑𝑖𝑒 Popkultur? Wenn dich sowas interessiert, bei den vielfältigen mit Herz, Energie und Integrität verfassten Beiträgen in »Das Wetter« wirst du fündig und einiges für Literaturaffine ist auch zu finden.

»Das Wetter« gründete sich vor 10 Jahren, mitten in einer Zeit, in der das Gejammer groß schien, das Sterben des Prints in aller Munde war und es hat sich trotzdem etabliert. Jedem Trend wohnt ein Gegentrend inne, denn so ganz stimmt diese Erzählung auch nicht, gab es in der Gründungszeit nicht einen Boom der spezialisierten Zeitschriften? Egal, zehn Jahre sind trotzdem beachtlich, »Das Wetter« ist toll und das hat sich herumgesprochen, soweit sogar, dass das Feuilleton kommentiert und fischt, dass Kiwi zum Zehnjährigen »Das Wetter-Buch« herausgibt, das Sound und Vielfalt des Magazins in Form, Genres und Stimmen einfängt.

Gern hab ich die Stücke und Einblicke gelesen. Das zu einer Erzählung vearbeitete missglückte Interview mit Taktlo$$ ist mir besonders im Gedächtnis, das Interview mit Maxim Biller mir das liebste Stück. Es versöhnt mich mit ihm, ich nehm ihm Esra noch übel... Kracht und Sebastian Hotz, das ist eher gähn... Dafür mag ich Lin Hierse für den Satz »Ehrliche Arbeit ist eine Erfindung reicher Leute«, Jovana Reisinger für »Gespräche waren Unfälle«, Charlotte Kraft für »Hyperironie«. Korbinian, eh..., wahrgenommen hab ich den dem Magazin nahen Verlag natürlich schon, aber es wird Zeit, auch mal ein Korbinianbuch zu lesen. Meine Begeisterung für die Intensität eines Senthuran Varatharajahs muss ich nicht betonen. Beim Lesen beschleicht mich auch der Gedanke, ein Buch zu einem Magazin? Besiegelt das nicht sein Ende?
Oder ist es Teil einer Transformation? Ich bin gespannt, wie sich »Das Wetter« weiter entwickelt, ein Good Ager wird es, so mein Gefühl.

Bewertung vom 19.11.2023
Mutter (Ein Gemurmel)
Zambreno, Kate

Mutter (Ein Gemurmel)


ausgezeichnet

»Meine Mutter ist der Text. Ich kann sie nicht betreten.« |34

»DIE GESCHICHTE MEINES LEBENS IST DIE GESCHICHTE DES LEBENS MEINER MUTTER. Eine zwanghafte Autobiographie, eine unmögliche Geschichte. Schachteln voller Schnipsel, Entwürfe, Versuche.« |39

»Mutter (ein Gemurmel)« ist das erste in Deutsch übersetzte Werk der in Amerika etablierten New Yorker Autorin Zambreno, die bereits neun Bücher davor veröffentlichte. Mit den entliehenen Texten und der Kunst Anderer, etwa Roland Barthes, Dickinson, Kafka, Woolf, Henry Derger oder Louise Bourgeouis, spinnt Zambrano essayistische Passagen. Hinzu dichtet, verdichtet und verliert sie ihre Repräsentanz von Mutter.
Zwanzig Jahre braucht das Schreiben an Zambrenos Muttertext, in dem sie sich einer verinnerlichten Frau annähert, die sie nicht mehr fragen kann, denn der »prägende Umstand meines Lebens ist es, dass meine Mutter tot ist.« |39. Früh ist Mutter gestorben, mit Veröffentlichung von »Mutter (ein Gemurmel)« befreit sich Zambreno von den Muttergeistern und der drängenden Sehnsucht nach inniger Verbundenheit mit dem Mutterlaib. Sie nabelt ihren Muttertext ab und legt ihn mit Lücken, Fragen und Offenheit vor. Stets bleibt beim Aufnehmen des Textes Luft für eigene Gefühle, Erfahrungen und Gedanken zu Mutter in Nähe und Trennung.
»Mutter (ein Gemurmel)« ist ein lyrischer, fragiler, sich überdenkender, essayistischer nichtlinearer Trauertext, der sucht, auffindet und auf Schranken stößt, die er zu akzeptieren lernt. Er könnte nicht besser zum AKI-Verlag passen mit seiner Liebe zu Sprache, Details und Grenzgängen zwischen den Genres und Disziplinen.

Bewertung vom 19.11.2023
Quallen haben keine Ohren
Rosenfeld, Adèle

Quallen haben keine Ohren


ausgezeichnet

»An der Kasse verstand ich "Bulgur" oder "Burur" . "Sie (𝑅𝑎𝑢𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛), oder?", 1x sagte ich "ja", ohne zu verstehen, 2x sagte ich "nein", ohne zu verstehen, 3x sagte ich "ich weiß nicht", ohne zu verstehen. Die Stimmung wurde angespannter, ich zahlte und wir gingen verärgert auseinander, der Kassierer und ich.« |29

Louise weiß noch nicht, was sie will, was sie kann, wie sie sich sieht und wo sie hingehört. Bisher schaffte sie es, mit ihrem schlechten Gehör unter dem Radar zu bleiben. Doch nun entsteht Handlungsdruck, ihr Gehör droht ganz zu verschwinden. Fürs Erste zieht es Louise in poetisch aufgeladene Zwischenwelten. Sie beschäftigt sich dort mit dem Hören, mit der Stille, mit dem Licht und mit der Dunkelheit. Zwanghaft versammelt sie die sich verlierenden Töne in einem Klangherbarium. Ein Hund erscheint ihr und begleitet sie treu. Ein Soldat, leidenschaftlich vereinnahmend, nüchtern, operativ planend und schlussfolgernd, kommt ihr immer wieder. Etwas entfernter gesellt sich eine Botanikerin dazu, sie blickt verdächtig begehlich auf den Soldaten und er blickt zurück.
Doch auch die Außenwelt dringt durch. Im Job wird Louise ins Untergeschoss beordert, ins Sterbeurkundenarchiv, das ist nicht die letzte Station ihrer Verdrängung. Ein Cochlea-Implantat steht im Raum. Es könnte ein neues Hören in anderer Qualität ermöglichen, doch ob es klappt oder nicht, ihr Restgehör müsste dafür sterben. Ihre Freundin lehnt das Implantat ab, denn sie braucht eine Komplizin in der Zwischenwelt. Louisas neuer Freund und ihre besitzergreifende Mutter möchten sie auf die Seite der Hörenden zerren, sie reden die Operation herbei. Begegnungen mit anderen Betroffenen wecken Hoffnungen, doch auch hier dockt sie nicht an, sie findet nur Differenzen um Differenzen.

Das Passing eines Menschen von kaum wahrnehmbaren Beeinträchtigungen zur sichtbaren Schwerhörigkeit mit drohender Taubheit vollzieht die Protagonistin naiv schwebend zwischen allem und für sich.

Wie die Welt mit ihr umgeht oder gerade dies versucht zu vermeiden, erschließt sich, ebenso die Möglichkeiten vom Verstecken, von Implantaten, Hilfsmitteln und Anpassungen, vom Eintreten in die Gebärdenwelt und dem Entgleiten in innere isolierte Traumwelten.
Sprachlich driftet Rosenfelds Debüt von Prosa in fragmentarisch, von fragmentarisch in einen Berichtstil, vom nüchtern betrachtenden Berichtstil in eine fließend-überbordende Traumwelt mit von Synästhesie gespickter Ästhetik, vom Bewussten, ins Vorbewusste und bereit für den Abstieg in unbewusste Sphären. »Quallen haben keine Ohren« ist ein starkes Debüt, das auch in der sicherlich herausfordernden Übersetzung von Nicola Denis hervorragend funktioniert. Es stand auf der Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde 2022 ausgezeichnet mit dem Prix Fénéon.

Bewertung vom 19.11.2023
Brief vom Vater
Kögl, Gabriele

Brief vom Vater


ausgezeichnet

»Er hat sich einen Plastiksack über den Kopf gezogen, sagte der Feuerwehrhauptmann. Rosa wollte ihn nicht sehen, und der Feuerwehrhauptmann sagte auch, es sei besser so. Ein schöner Anblick sei es nicht. Rosa blieb draußen stehen, vor der aufgebrochenen Tür. Ob es ein Unfall gewesen sei, fragte sie. Sie können besser damit leben, wenn es ein Unfall gewesen wäre.« |7

Mit einem Knall steigt der leise und melancholische Töne anschlagende Roman »Brief vom Vater« ein. Der Sohn der Protagonistin Rosa hat sich wahrscheinlich das Leben genommen, in der Hand einen Brief seines Vaters, der sich ebenfalls das Leben nahm. Dabei hatte Rosa immer gehofft auf das gute Leben. Sie hat sich bewegt innerhalb der Möglichkeiten, die ihre Kleinstadt einer Friseurin bietet und nun ist es so gekommen. Sie lebt allein in dem Haus, das heruntergekommen ist, wie ihr Leben, in einer Kleinstadt, die verwaist, wie sie.

Lakonisch-nüchtern setzt die Figur Rosa an, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, nach der im Ort, abgesehen von, "hast du schon gehört, die alte..." niemand genau fragt. Ihr erster Mann Sigi, attraktiver Schützenkönig, weckte alle Hoffnungen auf ein gutes aufregendes Leben und den Aufstieg. Doch ist er stumpf, um den gemeinsamen Sohn kümmert er sich weniger, als um den Fussball, im Fernsehen, während sie alle Arbeit macht. Im Friseursalon wird Rosa umworben von Männern von Welt. Und als der von seiner Frau verlassene Drogerist Klaus um sie wirbt, lässt sie sich ein. Endlich ist sie wer, darf Teil der Eliten der Kleinstadt sein, auch wenn ein Preis zu zahlen ist. Weit entfernt die anderen Frauen, besitzergreifend und einengend der Mann und seine Freunde begrapschen die im Vergleich viel jüngere Frau, als wäre sie Ware. Und ihr Sohn Severin muss nehmen, was ihm gelassen wird, geduldet von Klaus, von Klaus Kindern drangsaliert und vom Vater übersehen, vom Vater immer übersehen, der seiner neuen Familie und seinem neuen Sohn alle Liebe zu schenken scheint.

Kögl schafft es, dieser tragischen Konstellation Lockerheit, Witz und einen liebevollen Blick hinzuzufügen, wie es der österreichischen
⤵️⤵️⤵️⤵️⤵️
... Erzähltradition innewohnen zu scheint. Die Sprache wirkt einfach, der Blick ist direkt und nüchtern. Die Fäden der Themen sind locker gespannt, so dass sich in eigenen Gedanken der ganze Raum der Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Bezüge entfaltet.
Der Wandel der steierischen Kleinstadt dient als Spiegel des Werdegangs der Figur Rosa und die Figur Rosa dient als Spiegel für den Wandel der Kleinstadt. Lebhaft und hoffnungsvoll im Beginn, hat alles seinen Platz, es gibt unten und oben. Eine attraktive Frau von unten scheint diese Grenzen überwinden zu können, doch sie wird sich stoßen und Anstoß nehmen. Sie kann sich unterordnen oder gleich Schaden nehmen und auch in der Unterordnung wird der Schaden sie einholen. Die Grenzen und der Kern des Oben verändert sich, manche Eliten kommen mit dem Wandel mit, andere bleiben auf der Strecke, wie Klaus, dessen Drogerie in der Innenstadt der Konkurrenz des Einkaufszentrums nicht standhalten kann. Und schließlich ist es vorbei, der anspruchslose Siggi doppelt verlassen und tot, der Drogerist Klaus gefallen und tot, der Sohn Serverin, der seinen Platz nie fand, tot und Rosa bleibt, überlebend. Sie erscheint nicht mehr hoffnungsvoll, nicht mehr attraktiv, sondern leer, wie das heutige Zentrum vieler sterbender Innenstädte. Sehr lesenswert und mit Sicherheit nicht mein letzter Roman der Autorin.

Bewertung vom 19.11.2023
Reisehandbuch Europa mit dem Zug
Ruch, Cindy;Reisedepeschen

Reisehandbuch Europa mit dem Zug


ausgezeichnet

»Mit der Bahn kommt ihr klimafreundlich und entspannt durch Europa...Dieses Reisehandbuch zeigt euch die schönsten Zugfahrten und die Streckennetze von 43 Ländern in Europa und wie ihr von Deutschland, Österreich und der Schweiz dorthin gelangt.«

Dieses Jahr hab ich alles mit der Bahn gemacht. Gerade in Deutschland lief es selten wie geplant, was meist gelang, mit Gleichmut hinzunehmen. Zu schön war es, aus dem Fenster zu schauen, ins Buch, okay, ins Telefon auch und so einige Szenen und Versatzstücke anderer Menschen mitzubekommen. Und ich mag die Idee, einfach einzusteigen, ohne festen Plan. Ziele hatte ich oder meine Mitreisenden schon, doch solltet ihr so unorganisiert sein wie ich, geplante Routen sind schon hilfreich. Es empfiehlt sich zum Beispiel nicht in den Niederlanden in den Sprinter statt in den gebuchten IC zu steigen. Mit Zugbindung sind sie in den Niederlanden entspannt, nur ist der Sprinter der Bummelzug und hat meine Reise fast mit einer Übernachtung im verregneten Groningen enden lassen. Vor meiner Verpeiltheit hätte mich »Europa mit dem Zug« vielleicht retten können, ebenso vor Buchungschaos des Nachtzuges nach Bern; dass der Schlafwagen dann einfach ausfiel, ist eine andere Geschichte.

In »Europa mit dem Zug« werde ich nun immer als erstes schauen, ob ich ein Rad mitnehme, mit anderen reise, lange Strecken, kurze Strecken, ob es eine gute Idee ist, nach Dänemark oder Schweden mit den Zug zu fahren, oder wieder in die Schweiz, nach Italien weiter, nach Österreich, nach Belgien, nach Frankreich, in die Niederlande, alles erscheint durch »Europa mit dem Zug« übersichtlich und gut machbar. Ich bekomme Hinweise auch schöne Strecken, Buchungstipps und eine Vorstellung über Zeiten und Kosten. Auch was eher nicht gut erschlossen ist, erfahre ich. Russland, Belarus, Ukraine, sind auch aus bekannten Gründen derzeit keine gute Idee, aber auch Südosteuropa ist eher schwierig mit dem Zug. Nach Serbien hatte ich tatsächlich schon geschaut und beschlossen, nein das ist so gut wie nicht möglich. »Europa mit dem Zug« passt wunderbar als Coffeetablebook, oder als Toilettenbuch, den es macht einfach Lust auf das Reisen und inspiriert zu neuen Ideen.

Bewertung vom 19.11.2023
Unschärfen der Liebe
Overath, Angelika

Unschärfen der Liebe


gut

»Und während der Zug über eine hohe Trasse sauste...hatte er nur den einen Wunsch, diese Geschwindigkeit auf den Gleisen würde abnehmen, leiser werden. Er brauchte Langsamkeit, er wollte nicht fortfahren. Nicht so fortfahren in einem ganz elementaren Sinn.« | 129

Angelika Overath hat mit »Unschärfen der Liebe« einen Reiseroman geschrieben, präziser einen Zugreiseroman.
30 Stunden Zugfahrt, vom Schweizer Chur über Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bulgarien nach Istanbul fährt die aus ihrem vorherigen Roman »Ein Winter in Istanbul« bekannte Figur Baran. Der griechisch-türkisch-deutsche Baran meint den Schweizer Cla zu lieben. Cla gab alle Sicherheiten auf, verließ Alva und folgte ihm nach Istanbul, wo er das Leben ohne Verbindlichkeiten genießt. Baran meinte damit zurecht zu kommen, dass Cla nicht nur ihn begehrt, während sein eigenes Interesse an anderen Männern erlosch. Von Clas Exfreundin Alva mit ihrer Tochter Florentin, sagt Cla, da sei auch noch Liebe für sie. Nun haben Baran und Alva Grenzen überschritten, drei Tage und Nächte, die sich wie Liebe anfühlten. Liebt er sie jetzt auch? Ist es Rache, Ausdruck seiner Bindungsunfähigkeit?
Während seine Gedanken, Gefühle und Begegnungen versatzstückartig »Vor-bei, vor-bei, vorbei, vorbei, vorbei.« |60 ziehen, verhandelt »Unschärfen der Liebe« die ewige Frage, was Liebe aushalten kann, welche Grenzen sie findet, in welche Gefühle sie umschlagen kann und wie sie erlischt. Das Thema riecht nach Dramatik, Verzweiflung, Liebeskummer und Kitsch, besonders ob der vielen Variationen und Symbolik, die in die Landschaften Begegnungen, Gedanken und Geschichte eingewebt sind. Wäre da nicht da gleichmütige Rattern der Schienen, die den Sound herunterdimmen, alle Grenzen verwischen und die Bedeutung diffundieren mit allgemein menschlichen Dilemmata. Leise, melancholisch, hintergründig und nach vielen Enden offen hält sich »Unschärfen der Liebe«, lange, bis es bei der Ankunft Gewisstheiten gibt, die auch ins Wanken geraten werden.
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Nett zu lesen war »Unschärfen der Liebe«, ob mehr, ich bin mir mit mir selbst nicht einig. Das Konzept der Zugfahrt besticht, melancholisch-offen-fragmentarische Texte sagen mir zu. Doch sprachlich und emotional streifte mich »Unschärfen der Liebe«, nur. Ich befürchte, dass dieser Roman schnell in mir verblasst, außer ein paar wenige Klischees streifende Figuren und Dialoge aus Südosteuropa, die werden wohl länger im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 19.11.2023
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Mora, Terézia

Muna oder Die Hälfte des Lebens


ausgezeichnet

»E̶r̶ h̶a̶t̶ m̶a̶n̶c̶h̶m̶a̶l̶ s̶o̶ e̶i̶n̶e̶ V̶e̶r̶a̶c̶h̶t̶u̶n̶g̶ i̶m̶ B̶l̶i̶c̶k̶...A̶l̶s̶ w̶ü̶r̶d̶e̶n̶ a̶l̶l̶e̶, u̶n̶d̶ b̶e̶s̶o̶n̶d̶e̶r̶s̶ i̶c̶h̶, s̶t̶ä̶n̶d̶i̶g̶ R̶e̶g̶e̶l̶n̶ v̶e̶r̶l̶e̶t̶z̶e̶n̶, d̶i̶e̶ i̶c̶h̶ n̶i̶c̶h̶t̶ e̶i̶n̶m̶a̶l̶ k̶e̶n̶n̶e̶.A̶b̶e̶r̶ i̶c̶h̶ k̶a̶n̶n̶ i̶h̶n̶ j̶a̶ w̶o̶h̶l̶ n̶i̶c̶h̶t̶ u̶m̶ e̶i̶n̶ R̶e̶g̶e̶l̶w̶e̶r̶k̶ b̶i̶t̶t̶e̶n̶. E̶r̶ w̶ü̶r̶d̶e̶ m̶i̶c̶h̶ f̶ü̶r̶ v̶e̶r̶r̶ü̶c̶k̶t̶ e̶r̶k̶l̶ä̶r̶e̶n̶.
Schließlich sagte ich es so, dass mir der Mensch in Berlin in der Tat sehr wichtig sei, und es läuft auch gut.« |271

»Muna« ist ein Konzentrat der verstrickten Erfahrungen, Gedanken und Gefühle einer Frau in dieser Zeit in dieser Welt, die selbst beteiligt ist an ihrer Isolation und Gewalt in einer Beziehung, die sie passiv und aktiv aufsucht. Mal ist es einfach, Muna von sich fernzuhalten. Es gelingt, sie als unerträglich, gefangen, selbstzerstörerisch, naiv, dumm, unsolidarisch, bindungsgestört und unnahbar zu sehen, als eine Figur, die es schwer macht, Sympathie und Empathie zu erregen. Doch sie kommt immer wieder unangenehm nahe. Denn die Umstände, die Muna zu Muna werden lassen, sind auch strukturell. Sie begegnen einer Frau in dieser Zeit in dieser Welt in der einen und der anderen Form. Da ist es manchmal leichter, Dinge nicht zu denken, Wut nicht zu fühlen, sie gegen sich selbst zu richten oder mit anderen Frauen nicht solidarisch zu sein. Wie sie beim Brennglas »Muna« doch an die Oberfläche kommen, setzt Mora stilistisch intelligent in Szene. Diese Sätze sind im Text durchgestrichen, in Klammern gesetzt und die Figur korrigiert sie immer wieder im Fluss ihrer Gedanken herunter. Muna ist auf den ersten Blick keinesfalls eine Frau, die das gebildete Lesepublikum als "armes Opfer" abtun kann, auch wenn sie die verstrickten Überlebensstrategien ihrer isolierten und Alkoholkranken Mutter reinszeniert. Muna ist in der Theaterszene aufgewachsen, intelligent, gebildet, gereist, in den Literaturwissenschaften und in der Literaturszene verortet.
Der Kontrast zwischen den verhandelten Themen in ihrer akademischen Laufbahn und ihrer Lebenswelt könnte größer nicht sein.
.
Erbaulich ist die Lektüre erst mit gewonnenem empathischem Abstand zu Muna und zum Roman, der es schafft, enorme Spannung beim Lesen aufzubauen und bis zum mehrdeutig interpretierbaren Ende zu halten. Mora gelingt es, mit »Muna« ein gesellschaftlich relevantes Thema in einer literarisch innovativen Form aufzugreifen und tabuisierte Ränder feministischer Auseinandersetzungen zu treffen. Denn immer noch ist die Ausweichbewegung leichter, als eigene Verstrickungen in männlich dominierte Gewaltausübung zu fokussieren.
Mich hat »Muna« überzeugt

Bewertung vom 19.11.2023
Unsereins
Mahlke, Inger-Maria

Unsereins


gut

»"Erinnerst du dich an den mittleren Sohn von Senator Mann, den Dunkelhaarigen? Von dem es eine Zeitlang hieß, dass er das Geschäft übernehmen werde?"
Marie nickt. "Vage."
"Nun. Er hat ein Buch veröffentlicht."
"Wie schön."
"Wir kommen darin vor." Sie blickt erstaunt auf. "Du kannst dich freuen, dich nennt er 𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑆𝑐ℎ𝑜̈𝑛ℎ𝑒𝑖𝑡."« |396

Fast 400 Seiten braucht es, bis von jenem Roman die Rede ist, der »Unsereins« Relevanz verleiht. Denn »Unsereins« dreht sich um Lübeck, um Thomas Mann und um die Buddenbrooks. Präziser formuliert dreht es sich 𝑝𝑎𝑟𝑎𝑙𝑙𝑒𝑙 𝑧𝑢 den Manns und 𝑝𝑎𝑟𝑎𝑙𝑙𝑒𝑙 𝑧𝑢 den Buddenbrooks, denn allzu direkt verhandelt der neue Roman von Mahlke das Mannsche Material nicht. Lübeck ist wie im Original nie benannt, beschrieben wird eine Freie Hansestadt im Norden, "der eigentlich zweitkleinste Staat des Deutschen Kaiserreichs". Die mutmaßlichen Vorbilder der Figuren der Buddenbrooks dienen »Unsereins« als Ausgangspunkt. Mahlke reichert sie mit recherchierten Informationen an, arbeitet ambivalente jüdische und nationaldeutsche Identitäten heraus und dichtet insbesondere die Welten der niederen Schichten sowie Innenwelten der Frauenfiguren hinzu.
Auch wenn der Text angenehm fließt, er den Buddenbrookschen Ton gut trifft, ihn mit subtilen modernen Formulierungen und Perspektiven bricht, gelang es leider nicht, mein Intesse an den Figuren und Geschichten zu halten, trotz der einnehmenden Idee, sich den Buddenbrooks, den Manns und dem Gesellschaftsgefüge auf dieser Weise zu nähern. Dafür bleibt »Unsereins« in der Spannung auf einem zu gleichschwingenden, wenn auch harmonischen Niveau. Für meinen Geschmack hat »Unsereins« zu viel verästeltes Personal und Geschichten, die zu wenig Raum bereiten für die Entfaltung der und die Bindung an die Erzählung.
Ich bedaure das sehr, denn meine Erwartungen an den neuen Roman der Buchpreisgewinnerin von 2018 waren sehr hoch.
Ich kann mir aber vorstellen, dass sich »Unsereins« für Buddenbrook-Kenner:innen, Lübeck-Kenner:innen oder an historischen Romanen mehr Interessierte anders liest, denn der Text ist intensiv recherchiert und gespickt mit Bezügen und Variationen.

Bewertung vom 19.11.2023
Judenfetisch
Feldman, Deborah

Judenfetisch


ausgezeichnet

»Mach dir nicht so viele Gedanken dazu, sonst wirst du wahnsinnig.« |227

Wer mit »Judenfetisch« eine stringente und soziologisch objektivierbare Abhandlung davon erwartet, was "Jüdischsein" heute bedeutet, ist mit dem aus dem Subjektiven und Emotionalen schöpfenden, suchenden, streitbaren und immer wieder auf Grenzen stoßenden politischen Essay von Feldman falsch gewickelt. Wer eine sich immer wieder wundernde, humorvolle, darunterliegend mit Ernsthaftigkeit, Wut, Trauer und Liebe gespickte Selbstverortung von Deborah Feldman lesen und davon ausgehend über diese Gesellschaft, das Verhältnis zu-, die Vereinnahmung von Juden|tum und die eigene Verortung nachdenken möchte, greife zu diesem Essay. Ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist oder es gut täte, ihn in anderen gesellschaftlichen Stimmungen zu lesen, frage ich mich aber zunehmend.

In Israel steigt die durch ihren autobiographischen Roman »Unorthodox« breit bekannte Autorin mit Gedanken zu ihrer Positionierung als Jüdin und als sich selbst bestimmender Mensch ein, der die direkten Verbindungen zur orthodoxen jüdischen Religion abgelegt wissen wollte.
Mit Blick für Kuriositäten, Widersprüche und in Sorge beschreibt Feldman ihre Sicht auf die erstarkte Rechte und Orthodoxie in Israel und ihren zu der Zeit der Roman Entstehung wahrscheinlich noch ambivalenten Bezug zur israelischen Politik. Doch das Hauptaugenmerk von »Judenfetisch« liegt auf Jüdischsein in Deutschland aus Sicht einer Expat aus Amerika, den vielen Schichten, Ambivalenzen, unausgesprochenen Zuweisungen, Vereinnahmungen, Projektionen und Tabus, dem Anti- und Philosemitismus, dem Phänomen von Konvertiten, der Förderung von Judentum in Deutschland, den Ambivalenzen eines öffentlichen Jüdischseins, der gegenseitigen Härte bei unterschiedlichen Verortungen zum Jüdischsein und dem Gelingen einer sicheren familiären Verbundenheit mit Gleichgesinnten.
Assoziativ verbinden sich vielfältige Blickwinkel, Beobachtungen, Orientierungsversuche und beengende Zuschreibungen zum Jüdischsein, die oft viel über die Zuschreibenden erzählen.

Feldman verhält sich zu den Vereinnahmungen, Projektionen und ihrer eigenen Geschichte, reflektiert sie und möchte dabei nicht gefallen. Sie sticht in Ambivalenzen, vielschichtige Motivlagen und wie in der aktuellen Situation unmittelbar zu spüren ist, nicht nur ihre eigenen heißen Emotionen und Verletzlichkeiten. Die von Feldman aufgeworfen Fragen halten sich streitbar offen. Doch so sehr der Autorin ein Austeilen vorgeworfen werden kann und sich »Judenfetisch« heute kontroverser liest, bleibt sie auf Verständigung aus. Die Verteidigung von Subjektivität, Humanismus und der Universalität der Menschenrechte zieht sich durch den Text. Ob und wie sie darin verstanden wird, ihre Haltung gefällt oder sie der im Text immer wieder umkreisten Vereinnahmbarkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft entgehen kann, ist eine andere Frage.
Angesichts der aktuellen Situation und auch der Rolle, in die Feldman aktuell gekommen ist und damit mitten drin ist in emotional aufgehitzten Debatten, Diskussionen, Verletzungen und Vorwürfen, frage ich mich immer mehr. Geht es, diesen persönlichen von mir als wertvoll empfundenen Text, der zwei Jahre vor dem 07. Oktober entstanden ist, unabhängig davon zu lesen? Die Wahrscheinlichkeit halte ich für größer, dass er sich zerreibt insb. hier in Social Media in aktuellen Fragen zu Subjektivität, Repräsentation und Binarität "auf welcher Seite" Text und Autorin stehen oder vereinnahmt werden. Auch wenn unter anderem genau diese Vereinnahmung Thema des Essays ist, kann er aktuell wahrscheinlich kaum noch mit entschleunigtem und nüchternem Abstand betrachtet und diskutiert werden. Aber Texte bleiben, diesen möchte ich mit zeitlichem Abstand noch einmal zur Hand nehmen, fürs erste haben wir nur diese Zeit.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.