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leukam
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Baden-Baden

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Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2023
Bin das noch ich
Moster, Stefan

Bin das noch ich


ausgezeichnet

Ein Musiker in einer existenziellen Krise
Stefan Moster hat sich einen Namen gemacht als Übersetzer finnischer Literatur, aber auch als Schriftsteller. „ Bin das noch ich“ ist sein sechster Roman.
Simon Abrameit ist Berufsmusiker, Geiger. Er ist froh, nach der coronabedingten Zwangspause wieder auftreten zu können, obwohl er nur die zweite Geige spielen darf. Aber einen Soloauftritt hat er, mit dem möchte er sein Können unter Beweis stellen. „ Das Programm soll sein Phönixflug werden: das große Aufschwingen, das ihn über das Mittelmaß erhebt, zu dem er sich seit einer halben Ewigkeit verurteilt sieht.“ Die zwei Bach - Sonaten dürften keine Schwierigkeit darstellen, doch die Sonate von Bartok stellt höchste Anforderungen an den Geiger. Vor ihr fürchtet sich Simon, denn er hat seit einiger Zeit Probleme mit den Fingern seiner linken Hand. Das Befürchtete tritt ein, seine Finger versagen den Dienst, Simon muss das Konzert abbrechen.
Seine Musikerkollegin Mai hat Verständnis für seine Situation und bietet dem völlig Zerstörten ihr Ferienhäuschen auf einer kleinen Schäreninsel an. Dort kann er in Ruhe über seine Lage nachdenken.
Anfangs versucht Simon immer wieder Geige zu spielen. Zum einen, weil das Geigenspiel zu seiner täglichen Routine gehört, zum anderen in der Hoffnung, sein Problem mit der Hand möge sich gelegt haben. Aber: „ Die Wahrheit zu erkennen heißt nicht, sie anzunehmen.“
Simon steht vor einer existenziellen Frage. Bisher war die Musik sein Lebensinhalt. Von Kind an hat er täglich geübt, nun verweigert sich dem sein Körper. Womit füllt er diese Lücke? Was macht ein Musiker, der sein Instrument nicht mehr bespielen kann ? Und vor allem, wer ist er noch, wenn er nicht mehr Musiker ist? Bin das dann noch ich? Um diese Fragen kreisen unablässig seine Gedanken.
Simon hat keine engere Bindung zu anderen Menschen, seine Passion für die Musik ließ ihn einsam werden. Der Kontakt zu seiner Mutter ist nur sporadisch und beschränkt sich auf Floskeln.
Einzig Darja scheint ihm wichtig zu sein. Darja, das Wunderkind, die früh aus der Sowjetunion geflohen ist und im Westen eine beispielhafte Karriere als Violinistin hingelegt hat. Darja, die ihm in jungen Jahren, einzig durch ihr Spiel, gezeigt hat, dass er Mittelmaß ist und bleiben wird. An sie sind die nicht abgeschickten Briefe adressiert, in denen er versucht, sich über sich und seine Lage klarzuwerden.
Gleichzeitig ruft Simon sich die Biographien anderer Musiker mit ähnlichen Problemen ins Gedächtnis , denkt an Pianisten, die im Krieg eine Hand verloren haben. Oder an Bartok, der gezwungen war, ins Exil zu gehen und dort schwer krank starb. So erhält man als Leser gleichzeitig einen interessanten Einblick in Musikerleben, und Simons Biographie wirft einen kritischen Blick auf den unbarmherzigen Musibetrieb. Um das Ganze abzurunden, empfiehlt es sich, die im Text angesprochenen Musikstücke anzuhören.

Der Prozess der Verarbeitung braucht Zeit. Aus der geplanten einen Woche werden mehrere, die Simon auf der menschenleeren Insel zubringt. Er ist gezwungen, hier ganz elementare Dinge zu tun, Feuer zu machen, Holz zu spalten, ein Boot zu lenken. Es erfüllt ihn mit Stolz, solche handwerklichen Verrichtungen zu beherrschen.
Er beobachtet die Vögel und ist fasziniert von ihren Verhaltensweisen und vor allem von ihren unterschiedlich klingenden Stimmen. ( Dass Stefan Moster Hobby- Ornithologe ist, merkt man den detaillierten Schilderungen aus der Vogelwelt an.) Simon nimmt auf einmal die Klänge der Natur wahr.

Als Leser begleitet man den Protagonisten auf diesem schmerzhaften Weg vom Erkennen zur Akzeptanz. Es passiert äußerlich nicht viel, doch umso bewegender ist das, was im Inneren der Figur passiert. Denn Simon steckt nicht nur in einer existenziellen Lebenskrise, sondern sieht auch ganz konkret sein finanzielles Fundament weg brechen.
Moster beschreibt dies mit sehr viel Einfühlungsvermögen und mit einem genauen Blick für Details. Großartig sind aber nicht nur seine Beschreibungen der seelischen Nöte des Protagonisten, sondern die Art, wie er die Insel mit Flora und Fauna, den Wind und das Meer zum Klingen bringt.
Ein leiser, aber intensiver Roman, der mich von Anfang an in seinen Bann geschlagen hat.

Bewertung vom 04.09.2023
Karnstedt verschwindet
Häusser, Alexander

Karnstedt verschwindet


ausgezeichnet

Was aus Liebe geschah
Dieser Roman erschien schon 2007 und wurde damals von der Kritik hoch gelobt. Nun hat der Pendragon Verlag eine überarbeitete Neuausgabe herausgebracht und zeigt damit, dass das Buch keineswegs Patina angelegt hat, sondern, im Gegenteil, auch heute noch seine volle Wirkung entwickelt.
Ja, Karnstedt ist verschwunden. Zuletzt hatte er einsam auf einem abgelegenen Bauernhof in Dänemark gelebt und dann anscheinend den Tod im Meer gesucht. Seine Leiche wurde nicht gefunden, allerdings gibt es einen Abschiedsbrief, in dem er Simon Welde zu seinem Nachlassverwalter erklärt. Dieser ist überrascht, denn schließlich hat er seit zwanzig Jahren keinen Kontakt mehr zum ehemaligen Jugendfreund. Trotzdem reist er an und macht sich eher widerwillig daran, das Chaos im Haus zu beseitigen und alles für den Hausverkauf in die Wege zu leiten. Dabei steigen Erinnerungen in ihm auf, Erinnerungen an ihre gemeinsame Jugend in der schwäbischen Provinz.
Karnstedt war aufgrund eines Gendefekts am ganzen Körper haarlos und wurde deswegen von den Mitschülern gehänselt und gequält. Auch Simon mit seinem „ Mädchenkörper“ war Zielscheibe des Spotts der anderen. Die beiden Außenseiter verbünden sich und aus dem Zweckbündnis wird eine tiefe Freundschaft. Beide begeistern sich für Paläontologie und träumen von einer Karriere als Forscher und Wissenschaftler, raus aus der provinziellen Enge, hinaus in die weite Welt.
Die Beziehung bekommt erste Risse, als Simon sich für eine wesentlich ältere Frau interessiert. Gleichzeitig will er nicht wahrhaben, dass Karnstedt sich weitaus mehr von der Beziehung zu ihm erhofft.
Doch was hat nun zum endgültigen Bruch zwischen den ehemaligen Freunden geführt? Diese Frage beschäftigt den Leser, bis er am Ende die Antwort erhält.
Doch das ist nicht das einzige Rätsel, das uns der Autor aufgibt. Was ist mit Tummer passiert, dem Anführer der Clique, die die Jungs tyrannisiert hat? Und was ist das für eine seltsame Frau aus dem Nachbarhaus in Dänemark, die Simon ständig aus dem Weg zu gehen scheint? Welche Rolle spielen die im Text eingestreuten Berichte der Henderson Expedition?
All das beschäftigt den Leser lange, doch am Ende führt der Autor gekonnt die Fäden zusammen.
Für Spannung sorgt auch der raffinierte Aufbau des Romans . Häusser legt seine Geschichte auf zwei Erzählebenen an, die sich abwechseln. Mal sind wir auf der Gegenwartsebene und begleiten den Ich- Erzähler Simon bei den Aufräumarbeiten im Haus und seinen Nachforschungen in Dänemark. Dann wieder berichtet ein auktorialer Erzähler von den Geschehnissen in den 1970er Jahren. So bildet sich langsam ein Gesamtbild, bei dem trotzdem Raum bleibt für eigene Interpretationen.
Dabei werden einem die Protagonisten zwar nicht sympathisch, doch man versteht die Gründe für ihre Handlungsweisen. Denn sie sind im Grunde ein Ruf nach Verständnis, Nähe und Liebe.
Karnstedt ist die dominierende Figur in der Beziehung, einer, der über den Tod hinaus noch Einfluss und Macht über Simon besitzt. Dabei geht er äußerst manipulativ vor. Doch zu seiner Entschuldigung muss man sagen, dass vieles von dem, was er tat, aus Liebe zu Simon geschah.
Im Grunde haben alle in die Geschichte verwickelten Figuren Fehler gemacht, sind schuldig geworden und der Preis, den sie dafür zu zahlen hatten, war immens. Das gibt dem Roman etwas von der Wucht einer klassischen Tragödie.
„ Karnstedt verschwindet“ ist ein schmaler Roman, der auf wenigen Seiten viele Themen verhandelt, ohne überfrachtet zu sein. Seine Faszination bezieht der Text auch aus der Sprache. Häusser schreibt ruhig, aber eindringlich, lässt Szenerien lebendig werden und arbeitet mit Symbolen und Bildern, die sich nicht immer auf Anhieb entschlüsseln lassen.
Auch wenn dieser frühere Werk noch nicht an Häussers großartigen Roman „ Noch alle Zeit“ heranreicht, so ist es doch äußerst lesenswert.

Bewertung vom 31.08.2023
Wilde Jagd
Freund, René

Wilde Jagd


sehr gut

Ein Professor auf Abwegen
Im Rückblick versucht der Ich-Erzähler, der 53jährige Philosophieprofessor Quintus Erlach, Klarheit über die Geschehnisse der letzten zwölf Tage zu gewinnen. Zu viel ist passiert in dieser Zeit, Dinge, die sein zuvor so gefestigtes Weltbild ins Wanken gebracht haben. Schreibend rekapituliert er die Ereignisse in insgesamt zwölf Kapiteln, eingeteilt in die jeweiligen Tage.
Zwangsweise hat er sich im etwas heruntergekommenen Haus seiner verstorbenen Eltern in einem österreichischen Bergdorf einquartiert. Seine Frau braucht nach einer Affäre seinerseits eine Auszeit von ihm und befindet sich nun auf Forschungsreise am Amazonas. Auch seine Tochter will deshalb gerade nichts von ihm wissen. Doch ihren Hund „ Machtnix“ darf er während ihres Auslandssemesters betreuen.
Quintus ist also nicht in bester Verfassung, als er auf Evelina trifft, die ihm auf den ersten Blick etwas sonderbar erscheint. Sie, eine 24jährige Frau aus der Slowakei, arbeitet als 24-Stunden Pflegekraft beim alten Zillner. Die Zillners sind eine alteingesessene Familie, denen das halbe Dorf gehört.
Bald stellt sich heraus, dass Evelina nur hier ist, weil ihre Schwester Angelika, die zuvor den alten Zillner gepflegt hat, verschwunden ist. Evelina vermutet ein Verbrechen und bittet nun Quintus um Hilfe.
Diese Aufgabe als unfreiwilliger Ermittler bringt den Professor in ungewohnte Schwierigkeiten, ja, er gerät sogar selbst in Gefahr. Es passieren rätselhafte Dinge, die Quintus aufgrund seines höheren Alkoholkonsums nicht immer richtig einordnen kann. Hat Evelina tatsächlich hellseherische Fähigkeiten? Und wohin ist die plötzlich aufgetauchte Leiche Angelikas wieder verschwunden? Kann das aktuelle Verbrechen etwas mit der unrühmlichen Vergangenheit der mächtigen Zillners während der NS-Zeit zu tun haben?
Fragen über Fragen, die sich Quintus stellen. Doch die Leute im Dorf reagieren mit Schweigen oder kryptischen Andeutungen.
Das liest sich spannend, macht aber vor allem viel Vergnügen . Denn Quintus stolpert von einer merkwürdigen Situation in die nächste. Seine z.T. naive Herangehensweise sorgt für viele komische Momente. Auch die Bewohner des Dorfes sind witzig und zugleich liebevoll gezeichnet, angefangen von einer geschwätzigen, esoterisch angehauchten Fußpflegerin bis zum Schlager singenden Dachdecker.
Und am Ende, nach falschen Fährten und einigen Wendungen, ist das Rätsel um die vermisste Frau gelöst und nicht nur das.
Quintus hat seine Probleme, die mit seiner Frau und die mit dem Alkohol, in Angriff genommen und seine Aufgabe als Ermittler mit Bravour erfüllt.
Der Ton ist leicht, trotzdem werden viele ernste Themen angesprochen. Dass Quintus promovierter Philosoph ist, ebenso wie der Autor, gibt jenem die Möglichkeit einige Bemerkungen zu Philosophen und deren Erkenntnisse im Roman unterzubringen. Allerdings nicht oberlehrerhaft dozierend, sondern ganz organisch in die Handlung eingebettet.
Für mich ergab das alles ein stimmiges Gesamtbild. Ein Mix aus Krimi, Gesellschaftsbild und Vergangenheitsbewältigung kombiniert mit der Entwicklungsgeschichte eines sympathischen Mittfünfzigers, voller Witz und Intelligenz. Ein Unterhaltungsroman auf hohem Niveau. Eine Verfilmung könnte ich mir gut vorstellen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.08.2023
Diese paar Minuten
Habringer, Rudolf

Diese paar Minuten


sehr gut

In bester Erzähltradition

Der österreichische Autor Rudolf Habringer war bisher ein Unbekannter für mich, doch nach der Lektüre dieses Buches werde ich nach weiteren Veröffentlichungen von ihm Ausschau halten. Er versteht es sehr gekonnt, auf wenigen Seiten ganze Schicksale zu entwerfen. Viele der Geschichten hätten das Potential zu einem ganzen Roman.
In den insgesamt zwölf Erzählungen dieses Bandes stehen ganz gewöhnliche Menschen im Zentrum, bei denen oft ein einziger Moment ihre Lage verändern wird. Dabei greift der Autor meist nur ein kurzer Abschnitt aus dem Leben der Protagonisten auf.
Die Themenauswahl ist breit gefächert, der Grundton eher düster, die Figuren selten Sympathieträger . Es geht um Ehebruch und Affären, um Eifersucht und Rache, um Fahrerflucht mit Todesfolge, Erpressung und einen Banküberfall, ja sogar Mord kommt vor. Dabei treffen die Figuren oft fragwürdige Entscheidungen, haben Geheimnisse oder verschweigen etwas. Dem Zufall kommt mehrfach eine entscheidende Rolle zu.
Zwischen manchen Geschichten gibt es leichte Verbindungen, sei es, dass einzelne Figuren in anderen Zusammenhängen auftreten oder dass man auf ein Detail stößt, das man aus einer anderen Geschichte kennt. So entsorgt z.B. ein Protagonist eine Leiche ziemlich skrupellos in einer Grube, auf die ein anderer in einer früheren Geschichte schon gestoßen ist.
Das alles Verbindende aber ist der Schauplatz, jenes „ Hügelland“ an der Donau, auf den im Klappentext hingewiesen wird.
Der Autor verwendet überwiegend die personale Erzählhaltung oder schreibt aus der Ich-Perspektive. Das ermöglicht ihm einen sehr genauen Blick in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Charaktere. Diese erzählen ihre Geschichte Freunden oder Bekannten oder sprechen den Leser direkt an. So fühlte ich mich manchmal unfreiwillig zum Komplizen gemacht.
Wie in jedem Erzählband gibt es auch hier schwächere und stärkere Texte, Geschichten, die mich mehr oder weniger berührt haben. Das offene Ende lässt Raum für die eigene Phantasie; eine Geschichte hat mich schockiert und sprachlos werden lassen. Stoff zum Nachdenken bietet aber jede Erzählung.
Dabei schreibt der Autor in einer klaren und präzisen Sprache, beinahe sachlich. Der unvermittelte Einstieg und der stark verdichtete Text erfordern konzentriertes Lesen, um alle Details aufzunehmen.
„ Diese paar Minuten“ ist ein Band mit lesenswerten Stories in bester Erzähltradition. Sie zeigen Außergewöhnliches im Alltag und nehmen die Auswirkungen und die Reaktionen der Menschen darauf in den Blick .

Bewertung vom 26.08.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Zwei starke Frauen - damals und heute
Jarka Kubsova gelang mit ihrem Debut „ Bergland“ ein fulminanter Erfolg. Ich war von diesem Buch ebenfalls sehr begeistert, dementsprechend hoch waren meine Erwartungen und sie sind nicht enttäuscht worden.
Auch im neuen Roman stehen wieder zwei starke Frauen im Zentrum der Geschichte, doch dieses Mal trennen sie Jahrhunderte.
Britta, eine Frau Mitte Vierzig, ist gerade mit ihrem Mann Philipp und den beiden Kindern in die Marschlande vor den Toren Hamburgs gezogen. Obwohl mit dem eigenen Haus auf dem Land eigentlich ein Traum in Erfüllung gegangen ist, fühlt sich Britta nicht wohl hier. Sie hat Schwierigkeiten im Dorf anzukommen und ihre Arbeit als Teilzeitkraft füllt sie nicht aus. Ziellos beginnt sie die Umgebung zu erkunden. Dabei stößt sie auf das Schicksal von Abelke Bleken, die im selben Ort lebte und im Jahr 1583 als Hexe verurteilt und verbrannt wurde. Britta beginnt zu recherchieren und entdeckt dabei Parallelen zu ihrem eigenen Leben.
Kapitelweise wechselt Jarka Kubsova von der Gegenwart in die Vergangenheit. Schon die Eingangsszene, in der der Aufbau des Scheiterhaufens beschrieben wird, erschüttert und packt gleichermaßen.
Abelke war eine stolze und eigensinnige Frau, die ohne einen Mann ihren großen Hof bewirtschaftete. Neidisch und voller Misstrauen wird ihr Erfolg von der männlichen Nachbarschaft beäugt. Kann das mit rechten Dingen zugehen? Intrigen sorgen dafür, dass Abelke ihren Hof verliert, doch sie will sich davon nicht unterkriegen lassen. Aber ihre Gegner geben nicht auf und denunzieren sie als Hexe. Damit ist Abelkes Untergang besiegelt.
Die Autorin hat für diesen Roman intensiv recherchiert. So gelingen ihr nun eindrucksvolle Bilder und Szenen vom Alltagsleben und den dörflichen Strukturen zu jener Zeit. Die Bauern hier hatten es nicht leicht. Überschwemmungen, Hagel und Frost machten oft ihre ganze Arbeit wieder zunichte. Doch für eine Frau war es noch ungleich härter. Sie musste zwar genauso zupacken wie mancher Mann, doch dabei sollte sie brav und geduldig im Hintergrund bleiben. „ Die Sache ist die: Man kann Frauen viel wegnehmen, man kann ihnen sehr viel antun, aber solange sie das mit sich machen lassen, bleibt es dabei.“ heißt es im Roman. Und weiter: „ Der gefährliche Moment für Frauen ist oft erst der, wenn sie anfangen, sich zu wehren.“
Die Lebenssituation von damals kann man nicht mit der von heute vergleichen. Aber Britta stellt durch die „ Bekanntschaft“ mit Abelke ihr eigenes Leben zusehends in Frage. Hat sie nicht für die Familie ihre eigene Hochschulkarriere als Geographin geopfert? Und wird das überhaupt von ihrer Umgebung gewürdigt? Ungleichheit und Benachteiligungen erleben Frauen auch heute noch. Und sie stoßen oft auf Unverständnis, wenn sie aus ihrer Rolle fallen und Neues wagen möchten.
Mit diesem feministischen Ansatz verknüpft die Autorin die beiden Lebensläufe.
Die Geschehnisse in der Vergangenheit haben mich dabei stärker berührt. Es ist erschreckend zu lesen, was Abelke ertragen musste. Dabei spielen Neid und Missgunst der Nachbarn sowie der damalige Aberglaube eine große Rolle. Die tiefer liegende Motivation war aber die Gier der Oberen nach Landbesitz.
Die Figur der Abelke Bleken ist historisch verbürgt; mehr zum historischen Hintergrund erfährt der Leser im äußerst informativen Nachwort der Autorin.
Der Roman liest sich leicht, plastische Szenen und eindrucksvolle Landschaftsbeschreibungen sorgen für Atmosphäre.
„ Marschlande“ ist ein spannender und bewegender Roman über zwei selbstbewusste Frauen, dem ich viele Leser wünsche.

Bewertung vom 21.08.2023
Sylter Welle
Leßmann, Max Richard

Sylter Welle


sehr gut

Liebeserklärung an die Großeltern und an Sylt
Max Richard Leßmann, 1991 geboren, ist Sänger und Songschreiber und hat bisher einen Gedichtband veröffentlicht „ Liebe in Zeiten der Follower“. Nun ist mit „ Sylter Welle“ sein erster Roman erschienen.
Der Ich-Erzähler Max, der sehr viele Ähnlichkeiten mit dem Autor aufweist, reist für drei Tage nach Sylt. Hier hat er mehr als zwanzig Jahre seine Ferien verbracht, gemeinsam mit den Großeltern Lore und Ludwig in deren Wohnwagen auf dem Campingplatz von Wenningstedt. Der Wohnwagen ist verschrottet, die Großeltern sind alt geworden. Nun soll der Enkel sie in ihrer Ferienwohnung besuchen, bei ihrem letzten Sylt- Urlaub.
Wehmut schwingt von Anfang an mit, wenn Max von seinem Besuch erzählt. Der beinahe 90jährige Opa Ludwig ist hinfällig geworden, auch wenn er dies hinter seinem trockenen Humor zu verbergen sucht. In der Wahrnehmung des Enkels haben sich die Großeltern jahrelang nicht verändert, doch nun kann er die Realität nicht mehr leugnen, auch wenn ihm das Angst macht.
Max nimmt das zum Anlass, sich zu erinnern. Unzählige Anekdoten aus dem Familienleben breitet er vor uns aus. Die meisten davon lesen sich sehr unterhaltsam und witzig.
Dabei läuft der Autor nicht Gefahr, alles kitschig zu verklären. Oma Lore, zu der er ein besonders inniges Verhältnis hat, ist eine sture Frau mit harten Regeln. Eine „ Feldherrin“, die die ganze Familie unter Kontrolle hat, einzig ihre Schwiegertochter, die Mutter des Erzählers, versucht sich als „ unbeugsames gallisches Dorf“ ihr zu widersetzen. Doch Oma Lore „ verteidigt …ihr Königreich aus Industriezucker und Maggi Fondor gegen meine gesundheitsbewusste Mutter.“
Essen ist wichtig bei dieser Großelterngeneration, die im Krieg und auf der Flucht, wie Opa Ludwig, gehungert hat. Reichhaltig bewirtet wird hier jeder, ob man ihn mag oder nicht. Und „ ein guter Esser“ ist eine der höchsten Auszeichnungen, die diese Generation zu vergeben hat. So kann der Autor stolz vermerken: „ Ich kann nicht mit akademischen Titeln glänzen, aber „ Esser“ bin ich summa cum laude, und das ist in der Welt meiner Großeltern mindestens genauso viel, wenn nicht gar mehr wert.“
Auch andere Familienmitglieder, die Eltern, zahlreiche Onkels und Cousins und Cousinen mit ihren Macken und Schwächen, tauchen in den Erinnerungen des Erzählers auf. Dabei stellt er sich die Frage, ob er diese Menschen auch mögen würde, wenn er nicht mit ihnen verwandt wäre. Bei einem ist er sich sicher, bei Onkel Jacob, der in ihm die Liebe zur Musik geweckt hat. Doch Onkel Jacob, der jüngere Bruder des Vaters, erkrankt und stirbt kurz darauf.
Es ist das ganz normale Familienleben, das Leßmann hier in verschiedenen Episoden lebendig werden lässt. Und das viele Leser aus eigenem Erleben kennen dürften.
Leßmann schreibt davon so kurzweilig, dass die Lektüre ein einziges Vergnügen darstellt. Er findet dafür einen eigenen Ton, witzig und anrührend zugleich. Sein Roman ist ein Familienportrait, aber vor allem eine Liebeserklärung an seine Großeltern, die ihm gezeigt haben, „ dass man nicht gleicher Meinung sein muss, um sich zu lieben.“
Nach drei Tagen reist der Erzähler nach Hause zurück, im Wissen, dass dies die letzten Ferientage mit den Großeltern gewesen sein dürften. Der Schlusssatz ist eine Reminiszenz an das Bilderbuch, das sein Vater geliebt hat und dessen Held zum Namensgeber für ihn wurde: „ Bis hin in mein Zimmer, wo es Nacht ist und das Essen auf mich wartet. Und es ist noch warm.“
Doch auch die Insel selbst spielt eine nicht unwesentliche Rolle. Das Meer, die Wellen und vor allem der Sand haben es dem kleinen und dem großen Max angetan. Obwohl er schmerzhafte Erfahrungen damit gemacht hat.
So ist „ Sylter Welle“ auch ein Roman für all diejenigen, die diese Nordseeinsel lieben. Zeigt er doch, dass auf dieser Insel der Schönen und Reichen ebenfalls Platz ist für ganz normale Leute.
Einstimmen auf die unterhaltsame Lektüre lässt es sich mit dem Song zum Buch, gesungen vom Autor selbst „ Bis Sylt im Meer versinkt“.

Bewertung vom 17.08.2023
Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2
Storm, Andreas

Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2


sehr gut

Verhängnisvolle Allianz zwischen Deutschland und Spanien
Andreas Storm hat mit „ Das Neunte Gemälde“ eine neue Krimireihe eröffnet rund um den Kunstexperten Lennard Lomberg. Wie schon in seinem Debut geht es auch im neuen Roman „ Die Akte Madrid“ um ein verschwundenes Gemälde.
Kein Geringerer als der deutsche Verteidigungsminister Franziskus Ritter tritt an Lomberg heran und erbittet seine Hilfe. Ritter wird erpresst mit einem Gemälde, das im Besitz seines Vaters war. Da er aber kurz vor seiner Ernennung zum NATO - Generalsekretär steht, möchte er die Erpressung diskret behandeln.
Die Ermittlungen führen Lomberg nach Granada, wo besagtes Gemälde aus dem Nebengebäude eines Luxushotels verschwunden ist. Es handelt sich hier um das Werk einer spanischen Malerin, die den Surrealisten nahestand. Sie hat die drei damaligen Freunde Salvador Dali, Luis Bunuel und Federico Garcia Lorca im Jahr 1928 gemalt. Dieses Gemälde wurde 1943 beschlagnahmt und galt seitdem als verschollen.
Das Bild und die Malerin sind fiktiv ( wenngleich letztere ein reales Vorbild hat ), die drei Männer bis heute weltberühmt.
Andreas Storm verbindet auch hier wieder Kunstgeschichte und Zeitgeschichte miteinander.
Der Roman spielt auf verschiedenen Zeitebenen. Auf der Gegenwartsebene, im Jahr 2016, laufen die Ermittlungen, doch die führen weit in die Vergangenheit zurück. Dabei zeigt sich die unheilvolle Verstrickung zwischen Nazi- Deutschland und der Franco - Diktatur. Aber diese Verflechtungen endeten nicht mit dem Tod Hitlers, sondern gingen weit bis in die 1960er Jahre. Und immer wieder spielt Ritters Vater eine entscheidende Rolle.

Es ist nicht notwendig, den Vorgängerroman zu kennen, da es sich bei beiden Büchern um abgeschlossene Fälle handelt. Allerdings ist der Leser im Vorteil, der den Ermittler und sein Umfeld schon kennt. Lomberg ist etwas speziell. Er pflegt einen sehr exquisiten Lebensstil, verkehrt in den besten Kreisen, liebt gutes Essen und guten Wein. Obwohl er kein „ gelernter Ermittler“ ist, sondern studierter Jurist und promovierter Kunsthistoriker, betreibt er sehr professionell seine Nachforschungen. Unterstützung erhält er dabei von Kriminalrätin Sina Röhm, die ihm auch privat näher kommt.
Die Geschichte ist sehr komplex aufgebaut, mit vielen Zeit- und Perspektivenwechseln. Wie Puzzleteile fügen sich die einzelnen Elemente zusammen, ohne dass gleich zu viel verraten wird. So bleibt die Spannung hoch. Andreas Storm fügt gekonnt die vielen Erzählfäden zu einem schlüssigen Ende zusammen und als " Appetizer" bekommt man einen Ausblick auf den nächsten Fall.
Der Roman erfordert aber konzentriertes Lesen, nicht nur aufgrund der verschiedenen Zeitebenen, sondern auch wegen des großen Figurenarsenals. Hilfreich ist dabei die Personalliste im Anhang, die sowohl die fiktiven als auch die historischen Personen aufführt. ( Eine lobenswerte Verbesserung zum Vorgängerroman.)
Die Sprache ist dialoglastig, der Stil geschmeidiger als beim ersten Buch. Etwas Straffung hätte dem Roman allerdings gut getan. Man spürt, dass der Autor das ganze Ergebnis seiner intensiven Recherche unbedingt in die Geschichte einfließen lassen wollte. Das möchte ich auch keineswegs bemängeln. Aber gerade deshalb hätte er auf ein paar Nebensächlichkeiten verzichten sollen.
Im Hinblick auf das Gesamtergebnis verzeihe ich dem Autor auch die etwas kkischeehaften Frauenfiguren.
Trotz der Kritikpunkte habe ich den Roman gerne gelesen. Mit Hilfe einer spannenden Krimihandlung zeigt Andreas Storm die verhängnisvolle Allianz zwischen Deutschland und Spanien. „ Ohne die militärische Unterstützung Nazi- Deutschlands wäre Franco nie an die Macht gekommen.“ schreibt der Autor in seinen kurzen Anmerkungen zum historischen Hintergrund. Wir wissen von der unrühmlichen Rolle der „ Legion Condor“. Dass aber deutsche Politiker der Bonner Republik und die deutsche Wirtschaft gerne Geschäfte mit dem Franco- Regime gemacht haben, dürfte nicht jedem bekannt sein. So bekommt man mit „ Die Akte Madrid“ nicht nur einen interessanten Einblick in die Kunstgeschichte und das Thema „ Beutekunst“, sondern auch in politische und historische Zusammenhänge.

Bewertung vom 07.08.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


sehr gut

Bilanz und Ausblick
„ Ich habe beschlossen, über mein Leben zu schreiben, mein Aufwachsen und mein Fortgehen,…“
Das ist der Plan, der namenlosen Ich- Erzählerin, doch so ganz einfach scheint es nicht zu sein.
Anlass für dieses schriftliche Resümee ist der bevorstehende Auszug der beiden erwachsenen Kinder. Die Zwillinge Max und Mila wollen nach der Matura aus der mütterlichen Wohnung ausziehen und das bedeutet für die alleinerziehende Mutter, dass sie sich die bisherige große Wohnung nicht mehr leisten kann. Sie muss sich verkleinern, d.h. sie muss aussortieren, sich von alten Gegenständen trennen. Dabei kommen Erinnerungen an Vergangenes hoch, wobei man der Erzählerin nicht immer trauen kann. Sie selbst ist sich ihrer Unzuverlässigkeit bewusst. „ Die Frau, über die ich schreibe, gibt es nicht. Sie ist ein Konstrukt, …“
Aber nicht nur die aussortierten Relikte sind Anstoß für einen Rückblick, sondern auch Vorkommnisse aus der aktuellen Gegenwart. Der Auszug der Kinder lässt die Ich - Erzählerin an ihr eigenes Aufbrechen aus dem Elternhaus denken, an erste Wohnungen, WG-Erfahrungen, an Mitbewohner, an Affären und Liebschaften usw.
Dabei ist sie mal sehr geschwätzig, dann wieder lässt sie manches im Ungefähren.
Eine neue Bleibe zu finden ist nicht so leicht, v.a. wenn man bestimmte Erwartungen an Lage und Ausstattung hat. Allerdings ist die Situation der Ich- Erzählern, trotz Jammern, nicht so prekär wie bei manchen Alleinerziehenden. Es findet sich für ihr Problem eine befriedigende Lösung.
So eine Zäsur ist aber auch Anlass, eine Bestandsaufnahme zu machen und Bilanz zu ziehen. Wo stehe ich? Wie bin ich dahin gekommen? Wie wird es weitergehen ?
Für Doris Knecht ist dies eine Möglichkeit, Frauenbilder zu hinterfragen. Schon als Jugendliche weiß die Ich- Erzählerin , dass das in ihrem Dorf vorgelebte Modell für Frauen nicht das Richtige für sie ist. Deshalb zieht es sie gleich nach der Schule in die weit entfernte Großstadt. Sie vergleicht ihr Leben mit dem ihrer Mutter und stellt fest, dass zwar wenig ( zwanzig ) Jahre zwischen ihr und ihrer Mutter liegen, aber die Gemeinsamkeiten sind geringer als mit ihren Kindern, von denen sie mehr ( fünfunddreißig ) Jahre trennt.
Die Autorin beleuchtet das Thema Mutterschaft von vielen Seiten, zeigt auch auf, was es bedeutet, alleinerziehend zu sein. Es liegt nicht nur die ganze Arbeit auf ihr, sondern auch die „ ungeheure Last der Verantwortung“.
Sie will jedoch als Single- Frau nicht als Mängelwesen betrachtet werden. Und sie wehrt sich gegen die Vorstellung, dass eine Mutter nichts mehr wert ist, wenn die Kinder aus dem Haus ist. Sicher schwingt Wehmut mit, wenn man zurückdenkt, wie es war, als die Kinder noch klein waren. Doch diese Zeiten sind eh unwiederbringlich vorbei. „ An jedem Tag, an dem sie älter werden, verliert man die, die man am Tag davor hatte. Manchmal vermisse ich sie.“
Der Auszug der Zwillinge ist für die Ich- Erzählerin kein Grund zu Depressionen, sondern die Chance auf einen Neubeginn. Sie freut sich und sieht die positiven Aspekte des Alleinseins. Nicht umsonst hat Doris Knecht ein Zitat aus Virginia Woolfs Essay „ Ein Zimmer für sich allein“ dem Buch vorangestellt.
Das Buch ist eingeteilt in sehr viele, oft sehr kurze Kapitel ; dabei springt die Autorin zwischen den Zeiten. Assoziativ werden Episoden mit Reflexionen verknüpft. Auch wenn sich dabei manche Belanglosigkeiten dazwischen schieben, sind es doch immer wieder Überlegungen, die den Leser innehalten lassen und selbst zum Nachdenken anregen. So z.B. wenn die Ich- Erzählerin auf den Unterschied zwischen Solitude und dem deutschen „ Einsamkeit“ eingeht. Oder wenn von veränderten Rollenbildern die Rede ist.
So sperrig wie der paradoxe Titel daherkommen mag, so leicht liest sich der gesamte Text. Doris Knecht kann mit Sprache umgehen. Sie schreibt ehrlich und selbstironisch, mit Witz und Gefühl.
Auch wenn die namenlose Ich- Erzählerin viele Parallelen zur Autorin Doris Knecht aufweist, so ist doch viel Fiktion in den Text eingeflossen. Der Leser mag sich deshalb öfter fragen, ob das Geschriebene der Realität entspricht oder ob hier maßlos übertrieben wird. Doris Knecht spielt auch ganz bewusst mit der Erzählperspektive. So z.B. wenn sich die eine Tochter dagegen verwahrt, zu einer literarischen Figur zu werden. Da wird dann einfach aus Luzi Max.
Nicht alles, was die Ich- Erzählerin sagt und tut, konnte ich nachempfinden. Manches war befremdlich, bei anderen Dingen fühlte ich mich bewusst auf Distanz gehalten.
Trotzdem ist „ Die vollständige Liste…“ eine unterhaltsame Geschichte über eine Frau in der Lebensmitte, ein Plädoyer fürs Loslassen und von den Chancen, die eine Veränderung eröffnen. Das Buch spricht wohl vor allem Frauen an in einer vergleichbaren Position. Sie werden sich in vielem wiederfinden können.

Bewertung vom 06.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Sprachlich und inhaltlich überzeugend
Valery Tscheplanowa, 1980 in der Sowjetunion geboren und im Alter von acht Jahren nach Deutschland übergesiedelt, hat sich als Schauspielerin auf deutschen Bühnen einen Namen gemacht. In Literaturkreisen kennt man sie noch nicht, doch das dürfte sich nach ihrem Debutroman nun ändern.
Stark angelehnt an ihre eigene Familiengeschichte erzählt sie von vier Generationen von Frauen im Russland des 20. und 21. Jahrhunderts und damit gleichzeitig vom Alltag im Land.
Die Ich- Erzählerin Walja begibt sich nach dem Tod von Großmutter Nina auf Spurensuche nach ihrer „ in Stücke geschlagenen Familie, verstreut auf Europa und Russland“.
Es beginnt mit Urgroßmutter Tanja, die, wie alle Frauen der Familie, früh ihre Kinder bekommt. Ein Sohn stirbt, der Mann fällt im ersten Weltkrieg.
Die Tochter Nina muss deshalb schon als kleines Kind mithelfen. Eine Kindheit ohne Vater und voller Plackerei lässt diese hart werden gegen sich und ihre Nächsten. Für die Tochter Lena und Sohn Mischa bleibt wenig Liebe und Zärtlichkeit. Ehemann Jura wird sie zwar lieben, aber ständige Streitereien und Schuldzuweisungen treiben ihn aus dem Haus.
Auch die nächste Frauengeneration wird nicht glücklich. Bei ihrer Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff lernt Lena einen älteren Alleinunterhalter kennen und folgt diesem nach Deutschland. Ein paar Jahre wird sie mit ihrer kleinen Tochter Walja bei ihm in einem Haus an der B77 wohnen, bevor sie sich von ihm trennt.
Es sind kurze Kapitel, die Momentaufnahmen aus dem Leben der Figuren beleuchten. Dabei geht die Autorin keineswegs chronologisch vor. Erst nach und nach erschließen sich dem Leser so die Charaktere der Figuren und man kann Verständnis für ihr Verhalten entwickeln.
Tanja ist noch stark in bäuerlichen Strukturen verwurzelt. Sie verbringt die meiste Zeit ihres Lebens in ihrem Häuschen auf dem Land, wühlt und gräbt in der Erde, füttert ihre Hühner und füllt mit ihren eigenen Haaren ihr Totenkissen. Sie betet vor der Ikone an der Wand und lässt ihre Urenkelin heimlich taufen, was zu dieser Zeit in der Sowjetunion verboten ist.
Nina träumt von einem Studium der Medizin. Stattdessen wird sie ihr Geld als Krankenschwester in der Psychiatrie, im Prothesenwerk und als Kindergärtnerin verdienen.
Beide , Großmutter und Urgroßmutter, sind starke, beeindruckende Frauen. Stark müssen sie auch sein, ihr Alltag verlangt alles von ihnen. Ein Leben voller Arbeit und Entbehrungen und begrabener Träume. Männer spielen oft nur eine kurze Rolle.
Dabei erfährt der Leser auch viel von der Realität im Sozialismus. Beengte Wohnverhältnisse, Schlangestehen für das Notwendigste gehören dazu.
Unterschiede zwischen Deutschland und der Sowjetunion erfahren Lena und Mischa, der ihr nach Deutschland nachfolgt. Der Bruder wird Jahre später frustriert in die Heimat zurückkehren.
Und als 1991 Gorbatschow entmachtet wird, zerbricht die alte Sowjetunion. „ Für die Menschen aber ist der Wandel in den Neunzigerjahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbständigkeit gefragt. Woher aber Selbständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat? Eine kleine, freche Gruppe teilt das große Russland in große Stücke und macht großes Geld, während der Rest den Kopf einzieht und in seiner Erinnerung wohnen bleibt.“
Die Autorin schafft so, neben ihrer Kritik am sowjetischen System, Verständnis für die Menschen, die darunter leben.
Mit ihrer bilderreichen Sprache entwickelt Valery Tscheplanowa Szenen, die im Gedächtnis bleiben. Humorvolle, wie jene, als Lena ansteht, um Eier zu kaufen. Je länger sie warten muss, desto höher steigt die Anzahl der Eier, die das Warten rechtfertigen sollen. Am Ende werden es neunzig Eier sein, die Lena stolz nach Hause bringt und am Abend wird mit Freunden gemeinsam in der Küche gekocht, gebacken und gegessen.
Daneben finden sich auch eindringliche Bilder wie die vom Sterben Ninas. Ganz unsentimental und sachlich beschreibt die Autorin die Abläufe im Körper während des Todes. Trotz dieser Nüchternheit berührt diese Szene ganz stark.
So überzeugt Valery Tscheplanowa in ihrem Debut nicht nur mit einer fesselnden Familiengeschichte, sondern genauso mit ihrem literarischen Können.
Man darf gespannt sein auf weitere Bücher aus ihrer Feder.

Bewertung vom 29.07.2023
Frag nach Jane
Marshall, Heather

Frag nach Jane


sehr gut

Verschiedene Aspekte von Mutterschaft
Das Debut der jungen kanadischen Autorin Heather Marshall war in ihrer Heimat ein großer Erfolg. Oberflächlich betrachtet scheint es bei „ Frag nach Jane“ um das Thema Abtreibung zu gehen, doch das greift zu kurz. Wie die Autorin in ihrem aufschlussreichen Nachwort schreibt, ist es „ ein Buch über Mutterschaft. Über den Wunsch, Mutter zu sein, und den Wunsch, keine Mutter zu sein, und alle Graubereiche dazwischen.“ Es geht letztendlich um das Recht der Frauen um Selbstbestimmung.
Dazu verknüpft die Autorin drei Frauenschicksale über die Jahre hinweg miteinander.
Evelyn wird 1960 schwanger, doch ihr Verlobter stirbt überraschend kurz vor der Hochzeit. Ihre Eltern bringen sie in ein Heim für ledige Mütter, das von Nonnen geleitet wird. Den Frauen wird hier aber nicht in christlicher Nächstenliebe beigestanden, sondern sie werden gezwungen, ihr Kind kurz nach der Geburt zur Adoption freizugeben.
Die zwanzigjährige Nancy entdeckt 1980, dass sie adoptiert wurde. Das stürzt sie in eine emotionale Krise. Und als sie kurz darauf schwanger wird, stößt sie auf die „ Janes“, eine Art Untergrundnetzwerk von Ärzten und Aktivisten, die Frauen sichere Abtreibungen ermöglichen, als diese in Kanada noch illegal waren. Hier trifft sie Evelyn, die als Reaktion auf ihr Trauma Ärztin wurde und Frauen ein ähnliches Schicksal wie ihr eigenes ersparen will.
Und die dritte Figur ist Angela, die sich im Jahr 2017 einer Kinderwunschbehandlung unterzieht.
Der rote Faden, der die drei Geschichten miteinander verbindet, ist ein zehn Jahre alter Brief, der seine Adressatin nie erreichte. Hierin gesteht eine sterbenskranke Mutter ihrer Tochter, dass sie adoptiert wurde und nennt ihr den Namen ihrer leiblichen Mutter. Angela entdeckt zufällig diesen Brief und macht sich nun auf die Suche nach der Frau, für die er bestimmt war.

Der Roman greift verschiedene Aspekte der Mutterschaft auf: unerwünschte Schwangerschaft ebenso wie unerfüllter Kinderwunsch, Geburt und Abtreibung sowie Adoption.
Diese Themen bettet Heather Marshall in ihre emotional bewegende Geschichte ein.
Zutiefst schockiert liest man von den Verhältnissen in dem christlichen Heim, das den „ gefallenen Mädchen“ keinerlei Mitgefühl entgegenbringt, sondern sie völlig unvorbereitet gebären lässt, um ihnen dann mit grausamer Härte die Kinder wegzunehmen. Diese Erfahrung lässt die Frauen nie mehr los und immer werden sie sich fragen, was aus ihren Kindern geworden ist.
Doch auch eine Adoption wirft Fragen auf. Wer war meine Mutter und weshalb hat sie mich weggegeben?
Abtreibung wird in seiner ganzen Bandbreite thematisiert. Wir lesen von einer illegalen Abtreibung, bei der die junge Frau beinahe stirbt und von der belastenden Entscheidung, diesen Schritt zu gehen. Wir erleben hautnah, welche Risiken das Netzwerk einging, um schwangeren Frauen zu helfen. Und es wird immer wieder deutlich gezeigt, dass keine Frau sich leichtfertig zu einer Abtreibung entschließt.
Und mit Angela erleben wir das emotionale Wechselbad einer künstlichen Befruchtung. Denn mehrmals endet die Freude über eine Schwangerschaft mit einer Fehlgeburt.
Mit sehr viel Empathie für ihre Figuren und mit großer Sensibilität entfaltet Heather Marshall dieses komplexe Themenfeld. Der Roman liest sich leicht und die Autorin hält durchgehend die Spannung . Den Twist am Ende hätte ich nicht gebraucht, auch ohne den war die Geschichte schon erschütternd genug.
Im Nachwort erfahren wir die historischen Hintergründe des Romans. Die Geschichte ist zwar fiktiv, basiert aber auf Fakten und die Schicksale der Protagonistinnen stehen stellvertretend für die zahlreicher Frauen.
„ Frag nach Jane“ ist ein fesselnder und berührender Unterhaltungsroman, der eindrücklich aufzeigt, warum es wichtig ist, dass sich Frauen selbstbestimmt für oder gegen ein Kind entscheiden können. Wie aktuell er leider ist, sehen wir gerade in den USA, wo das den Frauen wieder abgesprochen wird.