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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 07.08.2021
Junge mit schwarzem Hahn
vor Schulte, Stefanie

Junge mit schwarzem Hahn


ausgezeichnet

Als "außergewöhnliches Debüt" beschreibt es der Klappentext und in der Tat, das ist es. Ich habe das Buch fast in einem Zuge ausgelesen, war ganz gebannt von der Welt, in die es mich mitgenommen hat und nach der letzten Seite habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich gerade gelesen habe.

Es ist die Geschichte des elfjährigen Martins, der als gute Seele eines kleinen Dorfs aufwächst, das von Armut und Gewalt geprägt ist. Wann genau die Geschichte spielt, erfahren wir nicht, aber das Setting mutet mittelalterlich an, die Gegner sind hier Hunger, Pest, fehlende Bildung, Aberglaube, Tyrannei. Martin ist der einzige Überlebende eines Familiendramas, sein einziger Begleiter und Freund ist ein schwarzer Hahn. Anstatt diesem klugen, warmherzigen, etwas naiven Jungen mit Mitgefühl zu begegnen, wird er von der Dorfgemeinschaft nur umso mehr gemieden - ein jeder spürt, dass er den Erwachsenen um ihn herum, die immer wieder in Streit verfallen, weit überlegen ist. Als ein Maler das Dorf besucht, zieht Martin mit diesem hinaus in die Welt, um sie ein klein wenig besser zu machen.

Ich habe selten ein Buch gelesen, bei dem ich so wenig ahnen konnte, was mich auf der nächsten Seite erwarten wird. Stefanie vor Schulte hat ein Märchen für Erwachsene geschrieben, eine Parabel mit viel Interpretationsfreiheit, eine magische Geschichte vor düster-historischer Kulisse. Die Sätze sind kurz, die Ausdrucksweise hat etwas von der Naivität des Jungen und gleichzeitig strahlt jeder Satz vor Klugheit und Poesie. Dieses Buch ist ein kleines Überraschungspäckchen, das es sich wirklich lohnt auszupacken, ein herausragendes Debüt!

Bewertung vom 01.08.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Diese Familiengeschichte hat es in sich. Sie erzählt von Benjamin und seinen beiden Brüdern Pierre und Nils, die sich mit der Zeit voneinander entfernt haben und nach dem Tod der Mutter als mittlerweile erwachsene Männer wieder zu dritt zusammenkommen. Sie machen sich auf zu der Hütte am See, in der sie gemeinsam mit ihren Eltern die schwedischen Sommer ihrer Kindheit verbracht haben, um dort die Asche ihrer Mutter zu verstreuen und dieser Trip wird für sie auch zu einer Reise in die eigene Vergangenheit.

Erzählt wird aus der Perspektive von Benjamin, auf zwei verschiedenen Zeitebenen, die sich gefühlt einander annähern und deren Ausgangspunkt die Hütte am See ist und was dort vor vielen Jahren geschah. Gemeinsam mit den drei Brüdern nähern wir uns dieser Vergangenheit an. Unbehagen und Unheil werden nicht immer direkt ausgesprochen und dennoch schwebt von Beginn an etwas in der Luft. Es gibt sie, diese vermeintliche Idylle dieser wilden Sommertage zwischen Wald und See, in der die Kinder schwimmen, toben, entdecken. Doch diese wird immer wieder gebrochen. Unscharf zunächst, denn wir blicken auf die Familie aus der Sicht des kleinen Benjamin, der zwar bemerkt, dass die Eltern oft ein Glas Schnaps nach dem anderen trinken und die Kinder danach sich selbst überlassen, dass seine Mutter im einen Moment liebevoll kuschelt und im anderen zurückweist, dass der Vater zu Wutausbrüchen neigt. Dass auf sie nicht so gut acht gegeben wird wie auf andere Kinder. Das alles nehmen die Brüder wahr und dennoch ist es das einzige Familienleben, das sie kennen und wie sollte man das in Worte fassen?

Alex Schulmann gelingt es, nicht nur vielschichte Charaktere zu zeichnen, sondern auch beim Lesen eine Spannung aufrecht zu erhalten, die mich das Buch beinahe in einem Zuge durchlesen lies. Vergangenheit und Gegenwart sind fein verwoben, die Beziehungen zwischen den Brüdern berühren, es geht um Schuld und Sich-Vergeben, jedes Kapitel macht die eigene Sicht ein wenig klarer und dann kommt das Ende und das ist eine Wucht. Leseempfehlung!

Bewertung vom 25.07.2021
Auszeit
Lühmann, Hannah

Auszeit


weniger gut

Das Thema gibt eigentlich so viel her. Henriette, eine junge Frau um die 30, die in einer komplizierten Beziehung steckt und noch dazu seit Jahren mitten in einer Dissertation über Werwölfe, mit der sie nicht weiter kommt. Nach einem Schwangerschaftsabbruch zieht sie sich mit ihrer besten Freundin Paula in eine einsame Hütte zurück, um sich die titelgebende Auszeit zu nehmen. Sie trauert um ihr ungeborenes Kind und kann sich diese Gefühle dennoch nicht zugestehen. Sie weiß nicht, was sie will, ob sie überhaupt etwas will. Es hätte ein spannender Roman um die Schwierigkeiten einer Generation mit zu vielen Optionen werden können, eine Auseinandersetzung mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch, mit der Suche nach den eigenen Prioritäten.

Stattdessen habe ich mich am Ende des Buches genauso ratlos gefühlt wie Henriette. Mit Hilfe von Paula, die mit ihr Yoga macht, sie massiert, Blockaden löst und ihr allerlei Wege aufzeigt um scheinbar zu sich selbst zu finden, versucht Henriette Antworten zu finden, Entscheidungen zu treffen, zu verarbeiten,... und irrt doch nur unruhig zwischen ihren bewegten und selbstbezogenen Gedanken hin und her, unfähig wirklich zu ihren Gefühlen vorzudringen. Als Leserin sind mir sowohl Henriette als auch Paula fremd geblieben, zu groß war die Distanz, als dass ich die beiden Frauen tatsächlich hätte kennenlernen oder ihre Handlungen hätte nachvollziehen können. Einige wirklich spannende Gedanken werden angerissen, allerdings leider nicht vertieft, manchmal schaut die Spitze des Eisbergs aus dem Wasser, aber die wirklichen Fragen bleiben für mich unbeantwortet unter der Oberfläche.

Sprachlich hat mir der Roman durchaus gefallen und da es sich hier um das Debüt von Hannah Lühmann handelt, bleibe ich gespannt auf weitere Romane von ihr. Hier konnte mich die (wenige) Handlung jedoch leider nicht wirklich begeistern und sowohl die ausführliche Werwolf-Metapher, als auch angedeutete Traumata in Verbindung mit einem sehr schrägen Ende bewirkten, dass nach der Lektüre das Gefühl der Verwirrung überwiegte.

Bewertung vom 11.07.2021
Dein ist das Reich
Döbler, Katharina

Dein ist das Reich


ausgezeichnet

Katharina Döblers Roman ist eine literarische Auseinandersetzung mit dem schwierigen Erbe, welches ihre Familie ihr als Nachfahrin missionarischer Kolonialisten mit auf den Weg gegeben hat. Nacheinander führt die Erzählerin ihre vier süddeutschen Großeltern ein und nimmt so die Fäden einer Familiengeschichte auf, welche schließlich in Neuguinea, auf kolonialistischem Boden, zusammenführen. Anfang des 20. Jahrhunderts reisen die vier Missionarinnen und Missionare ins "Kaiser-Wilhelmsland", um dort als Wegbereiter des christlichen Glaubens die "Heiden" zu bekehren.

Der Erzählstil und die Sprache haben mir sehr gefallen. Die Autorin schreibt eindrücklich, mit klugen Bezügen, durchgehend im Präsens und verzichtet auf die Kenntlichmachung wörtlicher Rede, sodass Handlung, direkte Sprache und Gedanken ineinander übergehen und man sich als Leserin in einer ständigen Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen befindet. Die Perspektive wechselt zwischen den vier Großeltern und manchmal auch mitten im Absatz zur Erzählerin in die Gegenwart. Da der Roman sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt und mit den zwei Familien, zahlreichen Kindern und Kindeskindern, sowie vielen Missionstätigen auch in der Breite weit aufgestellt ist, kann man mit den Namen schon einmal durcheinander kommen. Insgesamt ergibt sich so eine hohe Komplexität in der Erzählstruktur, welche die Aufmerksamkeit der Leser fordert.

Die Enkelin, die sich mehr als ein Jahrhundert später auf Spurensuche begibt, ergreift im Laufe der Geschichte immer wieder das Wort und führt durch den Roman. Sie stößt auf Fotografien, Reiseberichte, Briefe, Erzählungen von Verwandten, erinnert sich an ihre eigenen Wahrnehmungen in der Kindheit und versucht so, sich der Geschichte ihrer Großeltern anzunähern. Einer Geschichte, die auch geprägt ist von hierarchischen Machtverhältnissen, religiöser Überlegenheit, Ausbeutung und der Vorrangstellung des weißen Mannes, sowohl im Sinne von Rassismus als auch im Sinne von Frauenunterdrückung. Wie haben ihre Großeltern damals gehandelt und welche Gründe hatten sie? Wie haben sie gefühlt und gedacht?

Der eigentliche Spagat des Buches besteht darin, die Geschichte aus der Perspektive der Großeltern als Roman erzählen zu wollen - und trotzdem nicht vollkommen darin aufzugehen, sondern (angesichts der problematischen Themen) eine kritische Distanz zu bewahren. Ein Spagat, der insofern gut gelungen ist, als dass ich als Leserin das Gefühl hatte, in das Leben der Großeltern aus der Sicht der nachfolgenden Generationen einzutauchen. Insbesondere das Thema der kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Nachfahren bis heute hat mich beim Lesen begleitet und zum Nachdenken angeregt. Wer allerdings eine objektiv-sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Kolonialisimus oder aber einen Roman mit steiler Spannungskurve und emotionaler Nähe zu den Protagonisten erwartet, wird enttäuscht werden. Die größte Nähe besteht zur Großmutter Nette, zu der die Erzählerin in ihrer Kindheit ein leises Band knüpfen konnte: "Wir saßen nebeneinander auf der Gartenbank, meine Großmutter und ich, und wir verdammten einander nicht." Und so ist auch der Umgang mit dem Handeln der Großeltern weder Verurteilung, noch Rechtfertigung. Nicht jede Situation wird für die Leser eingeordnet und doch ist die kritische Perspektive der Grundton der Erzählung. Insgesamt ein komplexes Werk, auf das man sich einlassen muss, das in seiner thematischen Vielfalt und Tiefe aber in jedem Fall eine Bereicherung darstellt und viel Raum für eigene Gedanken lässt!

Bewertung vom 11.07.2021
Drei Kameradinnen
Bazyar, Shida

Drei Kameradinnen


ausgezeichnet

Dass es Alltagsrassismus gibt, dass rassistische Diskriminierung strukturell verankert ist in deutschen Institutionen, dass Vorurteile an Aussehen und Nachnamen gebunden sind und diese die persönlichen Chancen einschränken,... als nüchterne Fakten mag das den meisten schon bekannt sein, der Roman von Shida Bazyar vermittelt diese Wahrheiten allerdings noch einmal wesentlich eindrücklicher und auf seine ganz eigene Art. Hier geht es nicht um statistische Zusammenhänge, hier erfährt man durch die Lektüre ganz unmittelbar das Gefühl, stets unter Verdacht zu sein, sich immer mehr anstrengen zu müssen als andere, sich keinen Fehltritt erlauben zu dürfen, ständig Zuschreibungen aufgrund der eigenen Herkunft zu erfahren und Hass aushalten zu müssen.

Aus nächster Nähe kennenlernen dürfen wir diese Lebenswirklichkeit durch Kasih, eine junge Frau, die als Kind aus einer Einwandererfamilie in einer deutschen Stadtrandsiedlung der 90er aufgewachsen ist. Zusammen mit ihren Freundinnen Saya und Hani, die sie nun, anlässlich einer Hochzeit, für einige Tage wieder trifft. Kasih erzählt uns von der gemeinsamen Kindheit in der Siedlung - von Vorurteilen der Kindergärnterinnen über Unverständnis der Lehrkräfte für die Lebenssituation Eingewanderter bis hin zum Schubladendenken bei der Job-Beratung. Von kleinen oder größeren diskriminierenden Erfahrungen aufgrund von Kopftüchern, Nachnamen oder Hautfarben, welche die drei Freundinnen immer mehr wahrnehmen und schließlich beginnen, Worte dafür zu finden und ihren eigenen Umgang damit. Hani, indem sie sich anpasst, anstrengt und über Alltagsrassismus möglichst gelassen hinwegsieht und Saya, indem sie die Auseinandersetzung und Provokation sucht, wütend, radikal und kämpferisch.

Kasih schreibt ihre Geschichte in einer einzigen langen Nacht auf, in der Nacht nach einer Brand-Katastrophe, an die sie den Leser Seite für Seite näher heranführt und die dazu führen wird, dass Saya im Gefängnis landet. Und bevor die Presse ihre Sicht der Dinge inklusive Vorverurteilung verbreiten kann, macht sie gleich zu Beginn klar, dass sie den Leser nicht schonen wird mit ihrer Sicht auf die Dinge, dass das hier allein ihre Geschichte ist. Sie spielt mit dem Leser, ebenso wie mit der Wahrheit - gerade denkt man, man hätte verstanden, da ist sie schon wieder einen Schritt weiter und schlägt der Selbstgewissheit des Lesers ein Schnippchen. Geschickt hält sie dem Leser den Spiegel vor - hier, so fühlt es sich an, wenn andere alles über dich zu wissen glauben. Wenn es ein "Wir" und ein "Ihr" gibt. Wenn andere die alleinige Deutungshoheit haben. Wenn deine Herkunft stellvertretend für deine Eigenschaften steht.

Kasih stellt eingefahrene Denkmuster in Frage. Sie sagt uns nicht, aus welchen Herkunftsländern sie und ihre Freundinnen kommen, damit uns die Schubladen fehlen, in die wir einsortieren können. Sie benennt auch nicht den NSU-Prozess, der im Roman gerade beginnt und den Kasih und ihre Freundinnen gebannt verfolgen, da die Bedrohung und der Hass genauso gut sie meinen wie die tatsächlichen Opfer und weil die deutschen Institutionen bei der Aufklärung versagt haben.

Wenn man sich darauf einlässt, lernt man die verschiedenen Perspektiven der drei Freundinnen kennen, verschiedene Positionen werden gegenübergestellt, reflektiert, in Frage gestellt - und transzendiert durch die Freundschaft zwischen den drei Frauen, die bedingungslos und solidarisch zusammenstehen. Ein berührender Roman, der eine Lebenswirklichkeit nahe bringt, Unordnung in Schubladen verursacht und ein erhellendes Spotlight auf die eigenen Privilegien und Voreingenommenheiten wirft - wenn man denn bereit ist, Kasih einfach einmal zuzuhören.

Bewertung vom 11.07.2021
Der Himmel ist hier weiter als anderswo
Pauling, Valerie

Der Himmel ist hier weiter als anderswo


gut

Dieser Roman schmeckt nach Rhabarberkuchen, duftet nach Kirschblüten, klingt nach dem Plätschern eines Baches und fühlt sich an wie ein warmer Sonnenstrahl am Frühlingsmorgen. Das wunderschöne Cover trifft genau die Melodie dieses Buches und erweckt bereits auf den ersten Blick ein behagliches Gefühl, das einen durch die Geschichte tragen wird und mühelos alle kleineren und größeren Dramen in Zuckerwatte einhüllt. Kurzum, ein Wohlfühlroman.

Dabei klingt die Geschichte erst einmal gar nicht so locker-leicht, denn Fee, unsere Protagonistin, hat vor kurzem ihren Mann verloren und erzieht nun alleine ihre vier Kinder. Als sie dann auch noch ihren Job als Geigenlehrerin verliert und die Familie aus ihrer gemeinsamen Wohnung ausziehen muss, scheint die Katastrophe perfekt. Doch die Geschichte von Fee und ihren Kindern ist keine von Verlust und Trauerbewältigung, sondern vielmehr eine von Abenteuer und Neuanfang. Denn die Familie zieht kurzerhand aus der Stadt hinaus ins Alte Land, in einen alten Gasthof, und versucht hier, sich ein neues Leben aufzubauen. Fee eröffnet ein kleines Café und lernt den sympathischen Nachbarn Jesko kennen und natürlich bahnt sich zwischen den beiden eine Liebesgeschichte an, die allerdings noch die ein oder andere Hürde zu nehmen hat.

Die Autorin lässt uns in die Idylle im Alten Land eintauchen, und erzählt mit so atmosphärischen Beschreibungen von frischgebackenem Brot, Kräuterlimonaden, Lagerfeuer, Radtouren und Segelausflügen, dass man wirklich ins Träumen kommt. Die vier Kinder von Fee sind ganz wunderbar gezeichnet, und mit ihren Eigenheiten, Interessen und Wünschen einfach zum Gernhaben. Sie bringen ihre ganz eigenen Herausforderungen mit, verlieben sich, werden von Schulkameraden geärgert, haben Schwierigkeiten in der Schule und zusammen mit einem renovierungsbedürftigen Haus, Geldmangel, Intrigen und Missverständnissen könnten die Sorgen fast überhand nehmen, würde der Roman nicht in einer Welt spielen, in der für jedes Problem auch eine Lösung gefunden werden kann. Nicht jeder Handlungsstrang wird dabei auserzählt, die Motive und Gefühle von Fee bleiben für mich oft unverständlich und der Umgang mit den (zu) vielen Schwierigkeiten und verwirrenden Gefühlen von Fee bleibt oberflächlich.

Insgesamt ist der Roman keine anspruchsvolle Lektüre, kann aber durchaus ein angenehmer Begleiter zum Seele-baumeln-lassen auf der Gartenbank oder im Strandkorb sein. Der pastellige Grundton überwiegt und wer sich darauf einlässt, darf gespannt mit Fee ihren Neuanfang erleben und auf ein Happy End hoffen.

Bewertung vom 11.07.2021
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


sehr gut

Bei diesem tollen Titel braucht das Buch für mich kein Marketing mehr. Na klar, tausende Jahre Menschheitsgeschichte sind bereits vergangen - da wird es doch langsam einmal Zeit, dass jemand mal ein Resümee zieht.

Ich kann allerdings nicht empfehlen, mit der Erwartung eines klassischen, wissensorientierten Sachbuchs in die Lektüre zu starten, denn diese Erwartung wird von John Green nicht erfüllt. Ich musste mich in das Buch eine Weile einlesen, um ein Gefühl für den Stil des Buchs zu bekommen und bin dann im Nachwort auf einen Satz gestoßen, den ich mir ganz wunderbar prägnant auch für die etwas verschwurbelte Einleitung gewünscht hätte, hier sagt er nämlich: "Ich habe versucht, einige der Orte zu kartografieren, an denen mein kleines Leben an die große Kräfte stößt, die die menschliche Erfahrung gegenwärtig prägen".

Und das beschreibt schon sehr gut das Vorgehen des Beststeller-Autors John Green in seinem ersten Sachbuch. In kurzen Kapitelchen greift er einzelne Aspekte des menschlichen Lebens heraus und beschreibt unter Überschriften wie "Sonnenuntergänge", "Pest", "Mario Kart" oder "Flüstern" seine Gedanken dazu. Am Ende eines jeden Kapitels vergibt er abschließend bis zu fünf Sterne, was an die heute weitverbreiteten Bewertungsskalen anschließt und nebenbei eine nette Spielerei ist. Die einzelnen Kapitel sind dabei sehr unterschiedlich. Mal steht die Wissensvermittlung im Vordergrund wie bei "Piggly Wiggly" oder "Yips", mal sind es neue Gedankenanstöße wie in "Kentucky Bluegrass", manchmal ist es spannend wie ein Krimi wie in "Monopoly" und dann wird es auf einmal sehr berührend wie in "Sonnenuntergänge" oder "Mein Freund Harvey". Trocken liest sich das Buch an keiner Stelle - John Green gelingt es, auch Fakten verständlich und sehr anschaulich zu vermitteln, mit Bildern die hängen bleiben. Mit feinsinnigem Humor treibt er Aussagen auf die Spitze, betrachtet sie aus einem ironischen Blickwinkel und verteilt kleine Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und rührt dann wieder beinahe zu Tränen, wenn er die großen Gefühle in einem Menschenleben einfühlsam beschreibt.

Man erfährt in diesem Buch sehr viel über John Green persönlich - über einzelne Stationen in seinem Leben, prägende Erlebnisse, seine Gedanken und auch über seine psychischen Erkrankungen. Gerade mit seiner Verletzlichkeit geht er sehr offen um, was einiges an Respekt verdient. Was mich etwas gestört hat, ist der sehr amerikanische Blickwinkel. Viele Themen werden anhand von typisch amerikanischen Beispielen behandelt und wenn dann zum Beispiel auch noch der amerikanische Unabhängigkeitstag anhand eines Hotdog-Wettessens abgearbeitet wird, ist mir persönlich das etwas too much. Ich hätte mir außerdem gewünscht, dass transparenter gemacht wird, worum es eigentlich geht. Zum einen was den autobiografischen Anteil des Buchs angeht, zum anderen in Bezug auf die einzelnen Kapitel, denn da er oft eigentlich über die Dinge hinter den Dingen schreibt, musste ich teilweise zur Kapitelüberschrift zurückblättern, da ich zwischenzeitlich vergessen hatte, was eigentlich sein Aufhänger war.

Wer Freude hat an kurzweilig-klugen Spotlights auf Errungenschaften, Begleiterscheinungen, Schrecken und Wunder des menschlichen Lebens und gleichzeitig den Autor John Green besser kennenlernen möchte, dem sei das Buch wärmstens ans Herz gelegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Nach dem Erfolg seines Debütromans ist auch Lukas Rietzschels zweiter Roman "Raumfahrer" wieder ein Stück ostdeutsche Zeitgeschichte. Über zwei Generationen hinweg erhalten wir Einblick in ostdeutsche Leben zur Zeit der DDR und heute.

Jan, der 1989 im Jahr der Wende geboren wurde, hat die DDR selbst nicht mehr kennengelernt. Er wohnt nun als junger Mann zusammen mit seinem Vater in der sächsischen Provinz, aus der sich zuerst die Bewohner und dann auch die Gewerbegebiete zurückgezogen haben und arbeitet in einem Krankenhaus, das aufgrund von mangelnden Patienten kurz vor der Schließung steht. In diese melancholisch-triste Stimmung ist die Familiengeschichte von Jan eingebettet, über die er zunächst selbst wenig weiß, die aber plötzlich aktuell wird als er von einem älteren Mann einen Karton mit Fotos und Aufzeichnungen erhält. Langsam wird deutlich, dass Jans Familie mit der des Künstlers Georg Baselitz und seinem Bruder Günther schicksalshaft verbunden ist.

Erzählt wird in erster Linie aus der Perspektive von Jan, je weiter das Buch fortschreitet, desto häufiger springt die Erzählung jedoch in die Vergangenheit: mal in die Nachkriegszeit, zum Mauerbau, zur Nachwendezeit, zurück in die Gegenwart. Man könnte das vielschichtig und komplex nennen, für mich waren diese Sprünge allerdings eher fragmentarisch, im Aufbau hätte ich mir mehr Struktur gewünscht. So erfordert das Lesen einiges an Konzentration, eigenes Schließen der Leerstellen und Zusammenfügen der Fäden. Die Trennung durch die Mauer, die Stasi-Bespitzelung, der Wegzug in den Westen und die Verlassenheit der Zurückgebliebenen - all das bekommt einen Stellenwert im Roman. An diesen ostdeutschen Themen hangelt sich die Geschichte entlang und vermittelt auf diese Weise weniger offensichtliche Zusammenhänge als viel mehr ein Einfühlen in diesen verlassenen Landstrich und seine "Raumfahrer", die sich irgendwo in Raum und Zeit verloren haben. Zwischen Sehnsucht und Resignation, zwischen Lachen und Weinen über die Absurdität ihrer Lebensumstände und dessen, was die Politik oder die Medien daraus oft machen. Und hier liegt die besondere Stärke des Roman, denn diese ganz besondere Atmosphäre durchdringt den Text, ist fast greifbar und bleibt auch nach dem Lesen noch lange hängen.