Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
bedard

Bewertungen

Insgesamt 56 Bewertungen
Bewertung vom 27.08.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

Das andere Paris

Der zweite Roman von Négar Djavadi spielt hauptsächlich in den Teilen von Paris, in die Touristen nie einen Fuß setzen und die sie bestenfalls mit Berichten von Ausschreitungen in den Banlieues aus den Nachrichten verbinden. In einer Art Domino-Effekt wird das Leben der Protagonisten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, komplett verändert. Der banale Auslöser höchst dramatischer Ereignisse ist der Verlust eines Handys:

Benjamin Grossman hat das Problemviertel seiner Kindheit hinter sich gelassen und ist erfolgreicher Manager bei BeCurrent, einem Streaming-Unternehmen. In seinem Handy finden sich die Nummern der prominentesten Schauspieler. Aber er weiß, dass er auch schnell alles verlieren kann. Als er durch einen unglücklichen Zufall nach einem seltenen Besuch bei seiner Mutter das Handy vermisst, verdächtigt er einen Jugendlichen des Diebstahls, es kommt zu einer tätlichen Auseinandersetzung. Tags darauf wird der Junge bei einem Routineeinsatz der Polizei tot aufgefunden, die Polizistin, die wenig sensibel die Leiche mit einem Fußtritt zum Aufstehen bewegen will, wird von einer Jugendlichen gefilmt, die das Video ins Netz stellt…

Auf den ersten Blick könnte es sich bei diesem Roman um einen einfachen Krimi handeln, doch mit dieser Erwartung ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Allein die Vielzahl an Personen mit völlig unterschiedlichen Biografien und Lebensentwürfen erfordert gerade zu Anfang viel mehr Konzentration als ein einfacher Krimi. Themen wie Gentrifizierung, Rassismus, Armut und Chancenlosigkeit sowie eine deutliche Kritik an der bedenkenlosen Nutzung sozialer Medien sind alles bestimmend. Gleichzeitig legt die Autorin viel Wert auf eine detaillierte Charakterzeichnung. Hier gibt es kein Schwarz-Weiß, Vorurteile und einfache Erklärungen werden nicht bedient. Armut ist nicht gleich ungebildet, bedrohliches Teenagergehabe nicht gleichzusetzen mit innerlicher Verrohung. Die besten Vorsätze können bei Négar Djavadi durchaus in die größte Katastrophe führen. Obwohl das Ende des Romans lange vorhersehbar war, ist das Ausmaß und die Wucht am Ende deutlich heftiger als erwartet. Nicht alle Fragen werden beantwortet, das Schicksal etlicher Protagonisten wird nicht auserzählt. Insofern lässt die Autorin die Leser*innen etwas ratlos zurück, ähnlich wie am Ende einer Serie, die Raum für eine weitere Staffel lässt.

Trotz des anspruchsvollen und nicht leicht zu konsumierenden Inhalts ist der Schreibstil wirklich sehr angenehm zu lesen. Auch hier spürt man, dass Négar Djavadi Drehbücher geschrieben hat.

„Die Arena“ gehört zu den Romanen, auf die man sich einlassen muss. Die Autorin bietet keine sympathischen Identifikationsfiguren und gibt auch keine einfachen Antworten. Trotzdem ist „Die Arena“ ein sehr lesenswerter, aktueller Gesellschaftsroman im besten Sinne. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 22.05.2022
Kopf über Wasser im Alltagschaos
Davis, KC

Kopf über Wasser im Alltagschaos


sehr gut

Sehr gelungener, empathischer Ratgeber, der sich in erster Linie an Menschen in besonderen Lebenssituationen richtet

KC Davis' SELFCARE-Aufräumbuch - so der Aufdruck auf dem Cover - wendet sich aus eigener Erfahrung an Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen vorübergehend oder dauerhaft mit der Bewältigung der im Haushalt anfallenden Aufgaben überfordert sind. Es handelt sich also ausdrückllich nicht um ein weiteres Optimierungsbuch mit dem Ziel, den perfekten Haushalt zu führen, sondern um das genaue Gegenteil: "Gut genug ist perfekt" ist ein Motto der Autorin. Leider geht das aus dem Text auf dem Cover nicht hervor, erst der Klappentext nennt die Zielgruppe.

Auf 200 Seiten beleuchtet KC Davis in kurzen, sehr leicht lesbaren Kapiteln die Schwierigkeiten, die mit der Führung eines Haushalts mit und ohne Kinder auftauchen können. Dabei verurteilt sie nicht, sie wirbt um Verständnis und betont immer wieder, dass der Wert eines Menschen nicht von der Erfüllung bestimmter Aufgaben abhängt. In erster Linie richtet sie sich dabei an die Zielgruppe, für die alltägliche Haushaltsführung eine besondere Herausforderung darstellt, wobei das punktuell auf jeden Menschen zutrifft.

Sehr detailliert werden einzelne Aufgaben beschrieben, Hürden benannt und Lösungsvorschläge gemacht. Beeindruckend ist die Kreativität, aber auch die Toleranz, die die Autorin hier erkennen lässt. Es gibt kein Falsch oder Richtig, es sind Anregungen, die aufgegriffen werden können oder eben auch nicht.

Es geht darum, richtige Prioritäten zu setzen, die dem Menschen und nicht dem Haushalt nützen. Immer wieder betont die Autorin, wie wichtig Selbst-Mitgefühl ist und das Recht darauf.

Auch wenn ich nicht zu der Zielgruppe gehöre, mich hat die Sichtweise beeindruckt und die eine oder andere Anregung kann ich hoffentlich auch mitnehmen. Empfehlenswert ist dieses Buch uneingeschränkt für die eigentliche Zielgruppe und alle, die Interesse an einem anderen Blickwinkel fernab des Optimierungswahns haben.

Bewertung vom 10.05.2022
Mongo
Darer, Harald

Mongo


sehr gut

Umstrittener Titel für einen Roman mit Tiefgang

Katja ist ungeplant schwanger und verzweifelt. Nicht, weil sie keine Kinder will, sondern weil sie fürchtet, ihr Kind könnte ebenso wie ihr Bruder Markus das Down-Syndrom haben. Harry ist von der Reaktion seiner Freundin überfordert und sucht für sich einen sehr rationalen Weg, mit der Situation umzugehen. Er beginnt, eine Art Pro und Contra – Liste zu erstellen, in der er seine persönlichen Erfahrungen mit Menschen mit Behinderungen Revue passieren lässt.

In der Kindheit des Autors gab es wenige Kontakte zu Menschen mit Behinderung, und wenn war das eigene Verhalten gedankenlos oder sogar brutal. Erst durch Katjas Bruder ändert sich das. Unsicher, liebevoll und manchmal auch einfach zu naiv geht Harald Darer mit seinem Schwager um.
Katjas Verhältnis zu ihrem Bruder hingegen ist ambivalent. Einerseits liebt sie ihn und will ihn schützen, andererseits hat Markus Behinderung Auswirkungen auf ihr gesamtes Leben gehabt, die sie so nicht wollte. Ihre Eltern haben ihr dabei nicht wirklich zur Seite gestanden und viel zu wenig Rücksicht auf die Bedürfnisse des "gesunden" Kindes genommen.

Mich hat sehr beeindruckt, wie der Autor die Unsicherheit beschreibt, die die werdenden Eltern angesichts des eigentlich erfreulichen Ereignisses empfinden. Dazu gehören die recht drastischen Erfahrungen mit Ärzten, die pränatale Diagnostik ohne Empathie betreiben.

Der Sprachstil ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig und ich hatte auch Verständnisschwierigkeiten bei einigen österreichischen Begriffen. Trotzdem habe ich diesen Roman gerne gelesen und fand die Mischung aus ernster Thematik mit viel Humor und Situationskomik gelungen. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass Menschen mit Trisomie 21 das gleiche Recht auf ein glückliches und möglichst selbstbestimmtes Leben haben wie alle anderen auch. Und das das Zusammenleben vielleicht nicht immer einfach ist, aber trotzdem bereichernd sein kann.

Bewertung vom 28.03.2022
DIE LÜGEN
Kara, Lesley

DIE LÜGEN


gut

Unterhaltsam und gut geschrieben, allerdings auch zu vorhersehbar

Lizzie ist Epileptikerin und ihr bisheriges Leben ist durch ihre Krankheit bestimmt worden. Tragischer Höhepunkt war der Unfalltod ihrer Freundin Alice, als die damals 13-jährigen Mädchen gemeinsam unterwegs waren und Lizzie einen Anfall hatte. Das genaue Geschehen konnte nie aufgeklärt werden, weil Lizzie sich nur bruchstückhaft erinnern konnte. Mitschülerinnen und Alice' ältere Schwester Catherine haben ihr deshalb das Leben zur Hölle gemacht.

Inzwischen ist Lizzie Mitte Zwanzig, plant endlich zu studieren und zieht mit ihrem Verlobten Ross in sein neues Haus in London. Zur Einweihungsfeier kommt das gesamte Kollegium des Arztes. Völlig unvorbereitet steht Lizzie nach vielen Jahren Catherine gegenüber, die inzwischen als Krankenschwester arbeitet. Nach dem ersten großen Schock fast Lizzie Vertrauen zu Catherine und zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Freundschaft...


„Die Lügen“ ist mein erstes Buch der Autorin, deren Roman „Das Gerücht“ mir wiederholt empfohlen wurde. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen. Tatsächlich ist mein Fazit zweigeteilt. Der Schreibstil lässt sich wirklich sehr gut lesen, man fliegt nur so über die Seiten. Das liegt sicher auch daran, dass es relativ wenige Charaktere gibt und die dann auch nicht sehr komplex sind. Leider liegt darin auch eine Schwäche des Buches. Die Charakterzeichnungen sind fast schon plakativ, ohne dass es wirkliche Sympathieträger:innen gibt. Selbst Lizzie mit ihrer Naivität, die ein eher anachronistisches Frauenbild verkörpert, konnte bei mir nicht wirklich punkten.

Der Spannungsaufbau war leider auch nicht so überzeugend, ab einem recht frühen Zeitpunkt war zumindest ein Teil der Auflösung deutlich vorhersehbar. Das Ende wirkte dann fast ein bisschen zu gedrängt, als müsste die Autorin zum Abschluss kommen.


Eine Leseempfehlung würde ich deshalb nicht geben, aber für zwischendurch ist dieser Roman aufgrund des Schreibstils durchaus geeignet.

Bewertung vom 31.01.2022
Die falsche Zeugin
Slaughter, Karin

Die falsche Zeugin


sehr gut

Ein typischer Slaughter - hart und (zu) intensiv
Die Schwestern Leigh und Callie könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein:
Die eine ist erfolgreiche Strafverteidigerin in einer großen Kanzlei, verheiratet und hat eine Tochter im Teenageralter. Die andere ist seit zwanzig Jahren drogenabhängig, lebt an wechselnden Orten und die einzige Konstante in ihrem Leben ist die Liebe zu Tieren.
Als Leigh mit der Verteidigung eines brutalen Serienvergewaltigers beauftragt wird, der ausdrücklich sie angefordert hat, gerät ihre hart erarbeitete Existenz in Gefahr. Denn Leigh und Callie haben ein Geheimnis, von dem außer ihnen eigentlich niemand wissen kann.

Der neue Roman von Karin Slaughter ist ein sehr aktueller Stand Alone, der auch das Thema Corona nicht ausspart. Auf mehr als 500 Seiten rollt die Autorin die Geschichte von hinten auf, wechselt häufig die Perspektiven und überrascht immer wieder aufs Neue. Eigentlich wäre dieses Buch ein echter Pageturner, so spannend und gut geschrieben ist die Geschichte. Wäre da nicht die Intensität, mit der brutalste Szenen beschrieben werden und auch die Schilderung des Schmerzes, den die Protagonistinnen empfinden. Das war an etlichen Stellen schwer zu ertragen und hat dazu beigetragen, dass sich die Lektüre deutlich in die Länge gezogen hat.

Beeindruckend und teilweise sehr berührend ist die Charakterisierung insbesondere der beiden Schwestern, die nach ihrer schrecklichen Kindheit so verschiedene Lebenswege eingeschlagen und trotzdem eine sehr enge Verbindung aufrechterhalten haben. Gerade Callie wird sowohl in ihrem Elend als Junkie, aber eben auch als sehr liebenswerte, empfindsame Frau gezeichnet, deren Charakter alle menschlichen Facetten beinhaltet. Es fällt schwer, für sie keine Sympathie zu empfinden. Auch für die meisten anderen Personen gilt, dass schwarz-weiß Kategorien nicht greifen und eigentlich unentschuldbares Handeln zumindest Verständnis hervorruft. Nur das abgrundtief Böse bleibt böse.

Eine klare Leseempfehlung kann ich für dieses Buch nicht geben, dafür sind einige Szenen zu drastisch und das Ende hinterlässt bei mir einen schalen Beigeschmack. Nichts für zartbesaitete Gemüter, aber die würden den Roman ohnehin nicht lesen wollen.

Bewertung vom 15.12.2021
Reise durch ein fremdes Land
Park, David

Reise durch ein fremdes Land


ausgezeichnet

Sprachlich überzeugend und zutiefst bewegend

Tom lebt mit seiner Frau Lorna und der zehnjährigen Tochter Lilly in Belfast. Sein Sohn Luke studiert in Sunderland, 400 Meilen entfernt. Er hat eine schwere Grippe und ist ganz allein in einem alten, kalten Haus, die anderen Studenten sind über Weihnachten längst bei ihren Familien. Schwere Schneefälle haben den Flugverkehr lahmgelegt, die Straßen sind kaum passierbar. Obwohl es Wahnsinn ist, macht Tom sich mit dem Auto auf den Weg, um Luke über Weihnachten nach Hause zu holen.
Während dieser Reise hat er regelmäßig telefonischen Kontakt zu Luke, Lorna und Lilly. Er trifft auch einige wenige Personen, aber meist ist er mit seinen Gedanken allein. Dort taucht erst flüchtig, dann immer vehementer Daniel auf, der älteste Sohn.

David Park hat keinen einfachen Roman geschrieben. Auf nur 200 Seiten begleiten LeserInnen den Fotografen Tom dabei, sich in starken Bildern einer fast unerträglichen Wahrheit zu stellen. Zunächst unverständliche Handlungsweisen werden auf dieser Reise - im doppelten Sinne - nachvollziehbar.

Selten habe ich ein Buch gelesen, in dem die einzelnen Charaktere so stimmig beschrieben wurden und in ihrer Verschiedenheit geradezu perfekt aufeinander abgestimmt waren, um die Aussage des Romans zu verdeutlichen.

Sprachlich gebührt neben dem Autor auch der Übersetzerin ein großes Lob. Die Sätze sind geschliffen formuliert, präzise und ohne überflüssige Schnörkel.

Dieser Roman verdient nicht nur wegen seines wunderschönen Covers einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal.
Ein großartiger Roman, der in starken Bildern eine tragische Geschichte erzählt und trotz allem tröstlich endet.

Bewertung vom 08.12.2021
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

Manchmal wäre es besser, keine Schwester zu haben...

Der Roman handelt von zwei Schwestern, die gegensätzlicher nicht sein könnten und besser jeglichen Kontakt vermieden hätten. Soviel ist bereits nach wenigen Seiten deutlich. Esther hat Familie und sprüht vor Leben. Ständig in Aktion, fühlt sie sich zu den Feiertagen verpflichtet, zu ihrer abgeschieden lebenden jüngeren Schwester Sue zu fahren, die nach einer Scheidung wenig Wert auf menschliche Gesellschaft legt und ein wenig seltsam wirkt. Sofort ist klar, dass der Besuch auf wenig Begeisterung stößt, die bedrohliche Stimmung steht im starken Kontrast zu der Anfangsszene in Esthers Familie.

Mir haben die unterschiedlichen Szenarien gut gefallen, der Wechsel der Blickwinkel ist ein zwar übliches, hier aber sehr gelungen eingesetztes Stilmittel. Die lebhaften, mit vielen Dialogen gespickten Kapitel um Esther, dann die kargen, distanzierten Kapitel aus Sues Sicht. Erst später werden einzelne Kapitel aus der Sicht anderer Personen erzählt, die das Gesamtbild vervollständigen und vor allem auch sicher geglaubte Wahrheiten ins Wanken bringen. Dadurch werden auch die Charaktere immer feiner gezeichnet, bis sie am Ende wirklich facettenreich entwickelt sind.

„Schweig!“ ist der erste Roman dieser Autorin, den ich gelesen habe. Sprachlich eher nicht sehr anspruchsvoll, dafür aber wirklich spannend geschrieben und selbst das Ende überrascht, obwohl der Klappentext den Griff zum Messer bereits ankündigt.

Eine klare Leseempfehlung für LeserInnen, die Psychothriller mögen und kein persönliches Problem mit schwierigen familiären Beziehungen haben.

Bewertung vom 24.10.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Berührende Geschichte einer schwierigen Kindheit, großartig geschrieben.

Vor zwanzig Jahren waren die drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre zuletzt an dem einsamen See, an dem sie in einem einfachen Holzhaus die Sommer mit ihren Eltern verbracht haben. Jetzt sind die drei zurückgekehrt, um den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen.

Aus der Sicht des mittleren Sohnes Benjamin wird auf zwei Zeitebenen diese tief bewegende und schwer verdauliche Familiengeschichte erzählt. Die eine beginnt am See, als die sich fremd gewordenen Brüder die Asche der Mutter verstreuen wollen. In kleinen Rückwärtsschritten erzählt der erwachsene Benjamin, was in den Stunden zuvor geschehen ist.

Noch berührender ist der Erzählstrang aus der Sicht des Kindes. Alle drei Söhne müssen damit zurechtkommen, dass die Eltern ihre Verantwortung nur unzureichend wahrnehmen und unter Alkoholeinfluss unberechenbar sind. Das gilt besonders für die Mutter, der Vater wirkt auf den ersten Blick sanfter und liebevoller. Doch auch dieser Eindruck täuscht.

Sprachlich hat mich dieser Roman absolut überzeugt. Bereits nach der Hälfte war ich mir fast sicher, dass er zu den wenigen Büchern gehört, die ich irgendwann ein zweites Mal lesen werde.
Für mich gehört „Die Überlebenden“ zu den Lesehighlights dieses Jahres.

Bewertung vom 20.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


sehr gut

In ihrem zweiten Roman nach dem hochgelobten „Heimkehren“ erzählt Yaa Gyasi auf ca. 300 Seiten die Geschichte von Gifty, die mit 28 Jahren in Neurowissenschaften promoviert.
Ihre Eltern stammen aus Ghana und sind nach der Geburt des ersten Kindes auf Wunsch der Mutter mit einer Greencard nach Amerika gekommen. Doch das Leben in Huntsville / Alabama ist alles andere als einfach, die Mutter arbeitet bis zur Erschöpfung in schlechtbezahlten Jobs und wird obendrein rassistisch beschimpft, der Vater wird noch stärker diskriminiert und kann gar nicht Fuß fassen. Trost und Halt findet die Mutter in der Religion, obwohl die Gemeinde überwiegend aus Weißen besteht. Als Gifty vier Jahre alt ist, kehrt ihr Vater von einem Familienbesuch in Ghana nicht mehr zurück in die USA.
Anerkennung in der Kirchengemeinde erfährt die Familie vor allem auch, weil der Sohn Nana ein extrem guter Sportler ist. Das hat ein jähes Ende, als er mit 15 Jahren eine Sportverletzung hat und süchtig durch die starken Medikamente wird. Schließlich stirbt er mit 16 Jahren an einer Überdosis. Gifty ist elf Jahre alt, als ihre Mutter ihre erste schwere Depression hat und eine Behandlung ablehnt. Für sie zählt nur der Glaube.
Trotz der ungünstigen Voraussetzungen schlägt Gifty den Weg zur Wissenschaftlerin ein und sagt sich von der strenggläubigen Gemeinde los. Während sie im Labor Versuche an Mäusen durchführt, um auf ihre Weise Ursachen von Sucht und mögliche Heilungsmethoden zu erforschen, rutscht ihre Mutter zum zweiten Mal in eine schwere Depression und lässt sich auch dieses Mal nicht therapeutisch helfen. Gifty holt sie zu sich und versucht ihr zu helfen, so gut sie kann. Sie pendelt jetzt zwischen der apathisch im Bett liegenden Mutter und den Mäusen im Labor.
Der Roman ist in einem schönen, sehr angenehm zu lesenden Schreibstil geschrieben. Die kurzen Kapitel wechseln inhaltlich zwischen Giftys Forschungsarbeit, der aktuellen Situation mit ihrer Mutter und nicht chronologisch erzählten Szenen aus der Vergangenheit. Die Autorin behandelt etliche relevante Themen in diesem dann doch recht wenige Seiten umfassenden Buch. Dadurch fehlt es leider dann gelegentlich an Tiefe. Das gilt auch für die Hauptprotagonistin, die als Charakter sehr distanziert bleibt. Dazu passt unglücklicherweise auch das etwas abrupte Ende.
Trotz dieser Kritikpunkte ist der Roman durchaus lesenswert. Vermutlich können Menschen mit einem stärkeren Bezug zu Glauben und/oder Religion aber mehr mit der Thematik anfangen.
Abraten würde ich allerdings LeserInnen, die Beschreibungen von Tierversuchen nicht ertragen können. Diese Szenen sind teilweise sehr drastisch.

Bewertung vom 17.08.2021
Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1
Beckett, Simon

Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1


gut

Spannender, aber noch nicht ganz überzeugender Beginn einer neuen Krimi-Reihe

Der Auftakt der neuen Reihe von Simon Beckett beginnt gewohnt spannend.

Jonah Colley ist Polizist und Mitglied einer Londoner Spezialeinheit. Vor zehn Jahren verschwand sein kleiner Sohn Theo spurlos, die Ehe und auch die Freundschaft zu seinem engsten Freund und damaligen Kollegen Gavin zerbrachen. Als Gavin ihn unerwartet telefonisch um Hilfe bittet, zögert Jonah kurz, fährt dann aber an den vereinbarten Treffpunkt. In der verlassenen Lagerhalle findet er seinen ehemaligen Freund in einer Blutlache vor, weitere Opfer sind in Folie eingewickelt. Aber eine Frau lebt noch. Bevor Jonah sie retten kann, wird er selbst niedergeschlagen und schwer verletzt.

Trotzdem gerät Jonah selbst ins Visier des ermittelnden Beamten und beginnt nun auf eigene Faust nachzuforschen. Dabei stößt er immer wieder auf Hinweise, die einen Bezug zu dem Verschwinden seines Sohnes haben.

Im Mittelpunkt des Romans steht eindeutig die traumatisierte Figur Jonah Colley. Getrieben von seinen eigenen Dämonen setzt er immer noch alles daran, Theos Verschwinden im Alleingang aufzuklären. Dabei geht er über seine Grenzen, aber auch die anderer Menschen. Jonah entspricht dem Klischee des einsamen Wolfes, der mit schwersten körperlichen Verletzungen immer weiter kämpft. Trotzdem ist er fast schon der sympathischste Charakter, insbesondere die gegen ihn ermittelnden PolizistInnen und seine Ex-Ehefrau wirken extrem unsympathisch und sind leider ebenso wie die meisten Nebencharaktere auch klischeehaft beschrieben.

Trotzdem ist dieser Krimi durchaus spannend zu lesen. Das liegt zum großen Teil daran, das man zu Anfang überhaupt nichts über die Umstände von Theos Verschwinden weiß. Auch die weitere Geschichte erfährt man erst im Verlauf des Romans. Das aktuelle Verbrechen bestimmt zwar die Ermittlungen, ist aber nicht wirklich besonders.

Insgesamt ist der erste Band dieser Reihe durchaus unterhaltsam zu lesen, hebt sich aber aus der Vielzahl ähnlich strukturierter Krimis nicht heraus. An den ersten Band der David Hunter – Reihe von Simon Beckett reicht er leider nicht heran.