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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 08.12.2021
SCHWEIG!
Merchant, Judith

SCHWEIG!


ausgezeichnet

Manchmal wäre es besser, keine Schwester zu haben...

Der Roman handelt von zwei Schwestern, die gegensätzlicher nicht sein könnten und besser jeglichen Kontakt vermieden hätten. Soviel ist bereits nach wenigen Seiten deutlich. Esther hat Familie und sprüht vor Leben. Ständig in Aktion, fühlt sie sich zu den Feiertagen verpflichtet, zu ihrer abgeschieden lebenden jüngeren Schwester Sue zu fahren, die nach einer Scheidung wenig Wert auf menschliche Gesellschaft legt und ein wenig seltsam wirkt. Sofort ist klar, dass der Besuch auf wenig Begeisterung stößt, die bedrohliche Stimmung steht im starken Kontrast zu der Anfangsszene in Esthers Familie.

Mir haben die unterschiedlichen Szenarien gut gefallen, der Wechsel der Blickwinkel ist ein zwar übliches, hier aber sehr gelungen eingesetztes Stilmittel. Die lebhaften, mit vielen Dialogen gespickten Kapitel um Esther, dann die kargen, distanzierten Kapitel aus Sues Sicht. Erst später werden einzelne Kapitel aus der Sicht anderer Personen erzählt, die das Gesamtbild vervollständigen und vor allem auch sicher geglaubte Wahrheiten ins Wanken bringen. Dadurch werden auch die Charaktere immer feiner gezeichnet, bis sie am Ende wirklich facettenreich entwickelt sind.

„Schweig!“ ist der erste Roman dieser Autorin, den ich gelesen habe. Sprachlich eher nicht sehr anspruchsvoll, dafür aber wirklich spannend geschrieben und selbst das Ende überrascht, obwohl der Klappentext den Griff zum Messer bereits ankündigt.

Eine klare Leseempfehlung für LeserInnen, die Psychothriller mögen und kein persönliches Problem mit schwierigen familiären Beziehungen haben.

Bewertung vom 24.10.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Berührende Geschichte einer schwierigen Kindheit, großartig geschrieben.

Vor zwanzig Jahren waren die drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre zuletzt an dem einsamen See, an dem sie in einem einfachen Holzhaus die Sommer mit ihren Eltern verbracht haben. Jetzt sind die drei zurückgekehrt, um den letzten Wunsch ihrer Mutter zu erfüllen.

Aus der Sicht des mittleren Sohnes Benjamin wird auf zwei Zeitebenen diese tief bewegende und schwer verdauliche Familiengeschichte erzählt. Die eine beginnt am See, als die sich fremd gewordenen Brüder die Asche der Mutter verstreuen wollen. In kleinen Rückwärtsschritten erzählt der erwachsene Benjamin, was in den Stunden zuvor geschehen ist.

Noch berührender ist der Erzählstrang aus der Sicht des Kindes. Alle drei Söhne müssen damit zurechtkommen, dass die Eltern ihre Verantwortung nur unzureichend wahrnehmen und unter Alkoholeinfluss unberechenbar sind. Das gilt besonders für die Mutter, der Vater wirkt auf den ersten Blick sanfter und liebevoller. Doch auch dieser Eindruck täuscht.

Sprachlich hat mich dieser Roman absolut überzeugt. Bereits nach der Hälfte war ich mir fast sicher, dass er zu den wenigen Büchern gehört, die ich irgendwann ein zweites Mal lesen werde.
Für mich gehört „Die Überlebenden“ zu den Lesehighlights dieses Jahres.

Bewertung vom 20.08.2021
Ein erhabenes Königreich
Gyasi, Yaa

Ein erhabenes Königreich


sehr gut

In ihrem zweiten Roman nach dem hochgelobten „Heimkehren“ erzählt Yaa Gyasi auf ca. 300 Seiten die Geschichte von Gifty, die mit 28 Jahren in Neurowissenschaften promoviert.
Ihre Eltern stammen aus Ghana und sind nach der Geburt des ersten Kindes auf Wunsch der Mutter mit einer Greencard nach Amerika gekommen. Doch das Leben in Huntsville / Alabama ist alles andere als einfach, die Mutter arbeitet bis zur Erschöpfung in schlechtbezahlten Jobs und wird obendrein rassistisch beschimpft, der Vater wird noch stärker diskriminiert und kann gar nicht Fuß fassen. Trost und Halt findet die Mutter in der Religion, obwohl die Gemeinde überwiegend aus Weißen besteht. Als Gifty vier Jahre alt ist, kehrt ihr Vater von einem Familienbesuch in Ghana nicht mehr zurück in die USA.
Anerkennung in der Kirchengemeinde erfährt die Familie vor allem auch, weil der Sohn Nana ein extrem guter Sportler ist. Das hat ein jähes Ende, als er mit 15 Jahren eine Sportverletzung hat und süchtig durch die starken Medikamente wird. Schließlich stirbt er mit 16 Jahren an einer Überdosis. Gifty ist elf Jahre alt, als ihre Mutter ihre erste schwere Depression hat und eine Behandlung ablehnt. Für sie zählt nur der Glaube.
Trotz der ungünstigen Voraussetzungen schlägt Gifty den Weg zur Wissenschaftlerin ein und sagt sich von der strenggläubigen Gemeinde los. Während sie im Labor Versuche an Mäusen durchführt, um auf ihre Weise Ursachen von Sucht und mögliche Heilungsmethoden zu erforschen, rutscht ihre Mutter zum zweiten Mal in eine schwere Depression und lässt sich auch dieses Mal nicht therapeutisch helfen. Gifty holt sie zu sich und versucht ihr zu helfen, so gut sie kann. Sie pendelt jetzt zwischen der apathisch im Bett liegenden Mutter und den Mäusen im Labor.
Der Roman ist in einem schönen, sehr angenehm zu lesenden Schreibstil geschrieben. Die kurzen Kapitel wechseln inhaltlich zwischen Giftys Forschungsarbeit, der aktuellen Situation mit ihrer Mutter und nicht chronologisch erzählten Szenen aus der Vergangenheit. Die Autorin behandelt etliche relevante Themen in diesem dann doch recht wenige Seiten umfassenden Buch. Dadurch fehlt es leider dann gelegentlich an Tiefe. Das gilt auch für die Hauptprotagonistin, die als Charakter sehr distanziert bleibt. Dazu passt unglücklicherweise auch das etwas abrupte Ende.
Trotz dieser Kritikpunkte ist der Roman durchaus lesenswert. Vermutlich können Menschen mit einem stärkeren Bezug zu Glauben und/oder Religion aber mehr mit der Thematik anfangen.
Abraten würde ich allerdings LeserInnen, die Beschreibungen von Tierversuchen nicht ertragen können. Diese Szenen sind teilweise sehr drastisch.

Bewertung vom 17.08.2021
Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1
Beckett, Simon

Die Verlorenen / Jonah Colley Bd.1


gut

Spannender, aber noch nicht ganz überzeugender Beginn einer neuen Krimi-Reihe

Der Auftakt der neuen Reihe von Simon Beckett beginnt gewohnt spannend.

Jonah Colley ist Polizist und Mitglied einer Londoner Spezialeinheit. Vor zehn Jahren verschwand sein kleiner Sohn Theo spurlos, die Ehe und auch die Freundschaft zu seinem engsten Freund und damaligen Kollegen Gavin zerbrachen. Als Gavin ihn unerwartet telefonisch um Hilfe bittet, zögert Jonah kurz, fährt dann aber an den vereinbarten Treffpunkt. In der verlassenen Lagerhalle findet er seinen ehemaligen Freund in einer Blutlache vor, weitere Opfer sind in Folie eingewickelt. Aber eine Frau lebt noch. Bevor Jonah sie retten kann, wird er selbst niedergeschlagen und schwer verletzt.

Trotzdem gerät Jonah selbst ins Visier des ermittelnden Beamten und beginnt nun auf eigene Faust nachzuforschen. Dabei stößt er immer wieder auf Hinweise, die einen Bezug zu dem Verschwinden seines Sohnes haben.

Im Mittelpunkt des Romans steht eindeutig die traumatisierte Figur Jonah Colley. Getrieben von seinen eigenen Dämonen setzt er immer noch alles daran, Theos Verschwinden im Alleingang aufzuklären. Dabei geht er über seine Grenzen, aber auch die anderer Menschen. Jonah entspricht dem Klischee des einsamen Wolfes, der mit schwersten körperlichen Verletzungen immer weiter kämpft. Trotzdem ist er fast schon der sympathischste Charakter, insbesondere die gegen ihn ermittelnden PolizistInnen und seine Ex-Ehefrau wirken extrem unsympathisch und sind leider ebenso wie die meisten Nebencharaktere auch klischeehaft beschrieben.

Trotzdem ist dieser Krimi durchaus spannend zu lesen. Das liegt zum großen Teil daran, das man zu Anfang überhaupt nichts über die Umstände von Theos Verschwinden weiß. Auch die weitere Geschichte erfährt man erst im Verlauf des Romans. Das aktuelle Verbrechen bestimmt zwar die Ermittlungen, ist aber nicht wirklich besonders.

Insgesamt ist der erste Band dieser Reihe durchaus unterhaltsam zu lesen, hebt sich aber aus der Vielzahl ähnlich strukturierter Krimis nicht heraus. An den ersten Band der David Hunter – Reihe von Simon Beckett reicht er leider nicht heran.

Bewertung vom 05.07.2021
Medical Cuisine
Lafer, Johann;Riedl, Matthias

Medical Cuisine


ausgezeichnet

Gesunde Ernährung muss nicht zwangsläufig Verzicht bedeuten

Die Autoren dieses kombinierten Gesundheitsratgebers und Kochbuches gehören durch ihre TV-Auftritte zu den bekanntesten Vertretern ihrer Branche in Deutschland.

Auf 265 hochwertig gestalteten Seiten gibt es einen sehr gut lesbaren und informativen Theorieteil, der sich mit unserer aktuellen Ernährung, den Folgen und den notwendigen Veränderungen auseinandersetzt. Dabei wird weitestgehend auf den erhobenen Zeigefinger verzichtet und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Veränderungen Zeit brauchen und auch Ausrutscher keine Katastrophe sind.

Nach 50 Seiten folgt dann der Rezeptteil, der lediglich in drei Kategorien unterteilt ist: Salate, Suppen, Vorspeisen - Hauptgerichte - Süßes.
Für jedes Rezept gibt es eine Doppelseite Foto - Rezept. Darauf folgt die gesündere Alternative.

Die Rezeptbeschreibungen sind leicht verständlich und logisch aufgebaut, die Zutatenliste detailliert und bis auf wenige Ausnahmen auch nicht so ungewöhnlich, dass es Beschaffungsprobleme geben dürfte. Gut ist auch die Kennzeichnung der einzelnen Rezepte als Herzgesund, Antidiabetisch etc.

Mich hat "Medical Cuisine" positiv überrascht. Das mag auch daran liegen, dass mich die traditionelle deutsche Küche eher abschreckt. Gleichzeitig sind Essen und Genuss für mich untrennbar. Die abgewandelten Rezepte versprechen aber genau das: Genuss beim Essen, und das ohne großen Aufwand.
Auch wenn ich vermutlich nicht zur ausdrücklichen Zielgruppe dieses Buches gehöre, einige der Rezepte werden sicher auf Dauer in meinem Speiseplan landen.

Besonders empfehlen würde ich dieses Buch allen, die gerne traditioneller essen, aber aus gesundheitlichen Gründen unbedingt auf ihre Ernährung achten sollten. Auch wenn man nicht gleich auf die Alternative umschwenkt, die Änderungen in dem ersten Rezept sind ein Anfang. Für alle anderen ist es trotzdem ein schön gemachter Ernährungsratgeber, der nachdenklich macht und viele gute Rezepte enthält.

Bewertung vom 25.05.2021
Gefangen und frei
Sheff, David

Gefangen und frei


sehr gut

Spirituelle Entwicklung eines zum Tode Verurteilten

Jarvis Jay Masters ist 19 Jahre alt, als er eine langjährige Gefängnisstrafe antritt. Dort wird er von der "Black Guerilla Family" rekrutiert und schließlich wegen Beihilfe zum Mord an einem Gefängniswärter angeklagt. Obwohl er seine Unschuld beteuert, wird er zum Tode verurteilt und in den Todestrakt nach San Quentin verlegt.
David Sheff hat die Biografie dieses Mannes auf der Basis seiner Gespräche mit ihm geschrieben. Kindheit und Jugend scheinen typisch für so viele Lebensläufe von Afroamerikanern, die in amerikanischen Gefängnissen auf ihre Hinrichtung warten müssen. Eine extrem schwierige Kindheit: Gewalterfahrungen und Vernächlässigung, wechselnde Pflegefamilien und früh erste Straftaten, wachsende Gewaltbereitschaft. Im Gefängnis dann Anschluss an die BGF, Misstrauen gegenüber Verteidigern und eigener Familie. Gleichzeitig aber auch tiefste Verzweiflung über die eigene Ohnmacht.
Als ihm von einer Kriminalistin wegen seiner Panikattacken empfohlen wird zu meditieren, reagiert er zunächst skeptisch und ablehnend. Trotzdem versucht er es schließlich mehr oder weniger erfolgreich. Tatsächlich gelingt es ihm im Laufe der Zeit, durch Meditation auch Phasen tiefster Verzweiflung durchzustehen. Dabei helfen ihm eine Reihe von Lehrern, die ihn auf seinem langen spirituellen Weg begleiten und anleiten.

Besonders eindrücklich werden die Phasen beschrieben, in denen Jarvis Jay Masters zwischen Hoffnung und Enttäuschung schwankt. Die spirituelle Entwicklung ist auch für nichtgläubige Menschen sehr nachvollziehbar und lässt verstehen, welche Kraft der Glaube schenken kann.
Mich hat diese Biografie sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht alles nachvollziehen kann. So wundert es mich, das Jarvis Jay Masters, der selbst schreibt, keine Autobiografie geschrieben hat. Aber vielleicht brauchte es jemanden mit mehr Erfahrung als Schriftsteller und etwas mehr Distanz.

Lohnenswerte Informationen über dieses Sachbuch hinaus findet man im Internet über Jarvis Jay Masters und seine UnterstützerInnen.

Bewertung vom 14.05.2021
Der Klang der Wälder
Miyashita, Natsu

Der Klang der Wälder


ausgezeichnet

Ruhig und sehr poetisch

Tomura ist zufällig anwesend, als das Klavier in seiner Schule durch Itadori gestimmt wird. Dieses Erlebnis beeindruckt Tomura so sehr, dass er ohne jeglichen Bezug zu Musik und Instrumenten beschließt, den Beruf des Klavierstimmers zu erlernen. Tatsächlich bekommt er nach der theoretischen Ausbildung eine Anstellung in derselben Firma wie Itadori.
Anfangs nur als Assistent, später auch selbständig, stimmt er meist in Privathaushalten Klaviere. Dabei lernt er die Zwillingsschwestern Kazune und Yuni kennen. Auch das ist eine schicksalhafte Begegnung, denn Tomura ist verzaubert von dem unaufdringlichen Klavierspiel Kazunes, die als die weniger begabte der Schwestern gilt. Obwohl Tomura seine Fähigkeiten grundsätzlich eher geringschätzt, träumt er davon, Kazune bei ihren Konzerten als Klavierstimmer zu unterstützen.

Auf die Geschichte Tomuras muss man sich einlassen und viel Geduld haben. Sprachlich überzeugend, bietet der Roman an Handlung nicht viel mehr als oben beschrieben.
Tomura ist ehrgeizig, aber von Selbstzweifeln geplagt und niemals zufrieden mit seinen erworbenen Kenntnissen. Sein ganzes Handeln und Streben ist darauf ausgerichtet, besser in seinem Beruf zu werden. Dementsprechend viel Raum nimmt die Beschreibung des Klavierstimmens als Prozess ein. Das könnte langweilig und uninteressant sein, aber tatsächlich empfand ich diese Passagen lehrreich und sie haben mir einen neuen Blick auf Klaviermusik eröffnet.

Ich habe die Geschichte Tomuras wirklich genossen, allerdings kenne ich auch schon etliche japanische Romane. Die Charakterzeichnungen empfinde ich häufig als deutlich zurückhaltender, was sich natürlich auch auf die Spannungsbögen auswirkt.

Ein schöner Roman, wenn man sich auf die leisen Töne einlassen kann.

Bewertung vom 27.04.2021
Das Flüstern der Bienen
Segovia, Sofía

Das Flüstern der Bienen


gut

Leider nicht so gut wie erwartet

Dieser Roman lässt mich ein bisschen ratlos zurück.

Auf 480 Seiten erzählt die Autorin in einem ausschweifenden, angenehm lesbaren Schreibstil die Geschichte der mexikanischen Großgrundbesitzerfamilie Morales und dem von ihr adoptierten Simonopio Anfang des 20. Jahrhunderts.

Unter einem Busch wurde der mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geborene Säugling neben einer Bienenwabe gefunden und trotz geringer Überlebenschancen von der alten Nana Reja hochgepäppelt. Die Bienen bleiben Simonopios ständiger Begleiter und werden ihn auch in der Zukunft auf seinen ausgedehnten Streifzügen durch die Natur leiten. Während die Familie Morales den Jungen in ihr Herz schließt, lehnt ihn die Dorfbevölkerung ab. Insbesondere der Landarbeiter Espiricueta sieht ihn als Ausgeburt des Teufels, die vernichtet werden muss.

Der Roman behandelt anhand dieser Familiengeschichte die Auswirkungen der mexikanischen Revolution und schildert durchaus anschaulich den grausamen Ausbruch der Spanischen Grippe in Linares. Dabei liegt der Fokus eindeutig auf dem Leid der Privilegierten und beschreibt deren Handeln zu einseitig als wohltätig und auch der Erhalt des väterlichen Erbes zum großen Teil zum Nutzen Aller. Insbesondere im späteren Verlauf bekommt für mich die Charakterisierung des Bösen in Gestalt Espiricuetas einen faden Beigeschmack. Er verkörpert alles Negative, was ein Mensch zu tun imstande ist. Demgegenüber wird kritiklos das Handeln des reichen Großgrundbesitzers beschrieben und seine Strategien, sein Land vor der Enteignung zu retten. Hier hätte ich mir einen deutlich differenzierteren Blick auf die realen historischen Ereignisse gewünscht, ohne die damals begangenen Gräuel gegenüber den Besitzenden verharmlosen zu wollen.

Insgesamt sind mir einige der Charaktere zu verschwommen und nicht wirklich greifbar, andere hingegen schon ein bisschen zu überzeichnet. Historisch hätte ich mir mehr Informationen und eine differenziertere Betrachtungsweise gewünscht.

Trotz dieser Einschränkungen ist der Roman sehr unterhaltsam geschrieben und ich kann nachvollziehen, warum er so viele LeserInnen überzeugt hat. Für mich ist er aus den genannten Gründen leider nicht das erwartete Lesehighlight.

Bewertung vom 15.04.2021
Hard Land
Wells, Benedict

Hard Land


ausgezeichnet

Glaubwürdige Charaktere zeichnen diesen Coming-of-Age-Roman aus

Sam Turner ist 15 Jahre alt und lebt in der unattraktiven Kleinstadt Grady in Missouri. Mit dem Ort geht es seit Jahren bergab, sein Vater ist arbeitslos und kommt nur schlecht mit der Situation zurecht. Zu seiner schwer kranken Mutter hat der Außenseiter Sam ein sehr gutes Verhältnis, sie ist sein einziger wirklicher Rückhalt.
Um die Sommerferien nicht mit seinen verhassten Cousins verbringen zu müssen, nimmt Sam einen Ferienjob im örtlichen Kino an. Auch für das Programmkino steht die Schließung zum Jahresende bereits fest, Zuschauer gibt es nur wenige, Sam hat kaum etwas zu tun. Allerdings trifft er hier auf die eingeschworenen Freunde Kirstie, Hightower und Cameron. Sie sind älter als er und werden nach dem letzten gemeinsamen Sommer in Grady auf verschiedene Colleges gehen. Nach anfänglicher Ablehnung nehmen sie ihn in ihre Clique auf. Gemeinsam mit ihnen verbringt er einen aufregenden und verwirrenden Sommer, der sein Leben für immer verändern wird.

Dieser Coming-of-Age-Roman behandelt mit einer Leichtigkeit schwierige Themen, die wirklich bemerkenswert ist. Neben der normalen Orientierungslosigkeit und damit verbundener Unsicherheit, dem ersten (unglücklichen) Verlieben und Auflehnung gegen die Eltern geht es hier auch um Tod und Trauer, wirtschaftlichen Niedergang, Mobbing, Rassismus, Bisexualität... Trotz dieser Masse an Themen, die mit einer Selbstverständlichkeit in die Handlung einfließen, wirkt es nicht überfrachtet.

Das liegt hauptsächlich an den glaubwürdigen Charakteren, die die Handlung zum Leben erwecken. Sie haben Ecken und Kanten, auch die selbstbewusst wirkenden Freunde haben tiefe Verletzungen und Unsicherheiten erlebt. Dabei beschränkt sich der Autor nicht nur auf die Hauptcharaktere, auch die Nebenfiguren werden liebevoll und detailliert entwickelt.

Hinzu kommt die wirklich gelungene Beschreibung des Ortes Grady. Diese langweilige Kleinstadt, die eigentlich dem Untergang geweiht ist und doch für ihre Bewohner so wichtig ist, dass sie versuchen, sie am Leben zu erhalten.

Auch wenn „Hard Land“ für mich nicht ganz das Niveau von „Das Ende der Einsamkeit“ erreicht, kann ich den Roman uneingeschränkt empfehlen. Er ist trotz seiner schweren Themenanteile wunderbar leicht zu lesen, das Ende ist hoffnungsvoll ohne in Kitsch abzudriften. Ein Kunststück, das nicht jedem Autor gelingt.

Bewertung vom 20.03.2021
Freiflug
Drews, Christine

Freiflug


gut

Unterhaltungsroman mit realem Hintergrund

Anfang der 1970er-Jahre herrschte in der BRD das traditionelle Frauen- und Familienbild vor. Es gab zwar die Studentenbewegung, die sich gegen die verkrusteten Strukturen wandte, aber das betraf nur einen geringen Teil der westdeutschen Bevölkerung. Obwohl Frauen im 2. Weltkrieg und besonders in den Jahren danach einen wesentlichen Beitrag außerhalb der Familie geleistet hatten, waren viele von ihnen jetzt wieder ausschließlich für Heim, Herd und Kindererziehung zuständig. Erwerbstätigkeit von Frauen war keine Selbstverständlichkeit, sie bedurfte der Zustimmung des Ehemannes (!) und die Berufsfelder waren noch deutlich eingeschränkter als heute.
Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund muss man die bemerkenswerte Berufswahl von Rita Maiburg sehen. Sie lässt sich auf eigene Kosten als Pilotin ausbilden und bewirbt sich als erste Frau bei der Lufthansa als Linienflugkapitänin. Die Absage wird ausschließlich mit ihrem Geschlecht begründet. Sie klagt gegen diese Entscheidung und unterliegt in zwei Instanzen. Trotzdem wird sie von einer kleineren Fluggesellschaft für deutlich weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen eingestellt, allerdings dürfen die Passagiere ihr Geschlecht nicht erfahren. Eine Stewardess begrüßt die Fluggäste im Namen von Kapitän Maiburg…
Im Roman wendet Rita Maiburg sich an die Anwältin Katharina Berner. Sie stammt aus einer angesehenen, sehr konservativen Familie, mit einer ausgesprochen patriarchalischen Struktur. Als jüngste von vier Kindern hat sie sich mit ihrer Berufswahl allen Erwartungen widersetzt. Mit 35 Jahren ist sie immer noch unverheiratet, lebt in einer WG und macht sich trotz aller Widerstände schließlich selbständig. Als sie dann auch noch das Aufsehen erregende Mandat übernimmt, spitzt sich der Konflikt mit ihrer Familie zu. Unterstützung erfährt sie in dieser Situation von ihren Freundinnen in der WG und ihrem Vermieter, mit dem sie im Laufe des Romans eine Liebesbeziehung eingeht.
Die fiktive Geschichte von Katharina Berner nimmt in diesem Roman einen sehr großen Raum ein. Die Autorin vermittelt anhand der Frauen in der Familie Berner sehr anschaulich, wie machtlos und unglücklich diese letzten Endes waren, zunächst aber Katharinas Weg auch nicht unterstützten. Im Vergleich dazu erhält Rita Maiburg durch ihre Eltern bedingungslosen Rückhalt. Sie finanzieren den Pilotenschein, nehmen sie wieder im elterlichen Haushalt auf und stellen ihre Berufswahl niemals in Frage. Die Klage gegen die Lufthansa bzw. die Bundesrepublik als Anteilseignerin scheint ihnen folgerichtig.
Der Roman lässt sich sehr leicht und flüssig lesen. Die Atmosphäre der 1970er Jahre und die Benachteiligung von Frauen auch in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ist sehr anschaulich beschrieben.
Trotzdem hat das Buch meine Erwartungen nicht erfüllt. Nach Lesen des Klappentextes hatte ich mit einem biographischen Roman gerechnet, der Rita Maiburg und den Prozess viel mehr in den Mittelpunkt stellen würde. Tatsächlich nimmt Katharina Berner und ihre fiktive Geschichte aber den größten Raum ein. Das Ende war mir dann leider auch noch viel zu süßlich.