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amara5

Bewertungen

Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 22.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


sehr gut

Runden des Suchens
Mittlerweile ist der österreichische Schriftsteller und Deutscher-Buchpreis-Träger Arno Geiger sehr erfolgreich, doch seine Anfänge im literarischen Betrieb waren alles andere als leicht und von Durststrecken geprägt. Mit seinem neuen, sehr persönlichen Roman-Essay „Das glückliche Geheimnis“ taucht er autobiografisch tief ein in seinen Werdegang, in seine Lieben und Familiengeschichte, aber auch in sein außergewöhnliches Doppelleben, das sich wie ein präziser, roter Faden durch sein bewegtes Leben führt: Geiger hat 25 Jahre lang die Altpapier-Container der Wiener Stadt und Bezirke durchwühlt, um Geld mit dem Verkauf von Fundstücken wie Büchern, wertvollen Postkarten, Briefmarkensammlungen et cetera zu verdienen. Doch seine vielen Runden des Suchens und Findens waren zugleich Inspiration für sein Schaffen, Denken und Leben – so haben ihn beispielsweise zahlreiche aufgefundene Briefe und Tagebücher für sein prämiertes Buch „Es geht uns gut“ angeregt.

Unterhaltsam, bewegend und selbstironisch verwebt Arno Geiger seine Streifzüge und Fundstücke mit vielen Jahren Lebens- und Schaffensgeschichte sowie tiefgründige Reflexionen zum Wegwerfen, Sammeln, Müll, Anhäufen und parallel die Liebe zu Wörtern und Büchern. Unglückliche Lieben, die gehen, eine glückliche Liebe, die trotz Hindernissen bleibt, Enttäuschungen und Erfolge im Literaturbetrieb sowie kranke Eltern, die auf Hilfe angewiesen sind.

Sehr offen und zugleich pointiert lässt Arno Geiger den Leser an seinem Leben, seinen klug-humorvollen Gedanken dazu und natürlich an seinem glücklichen Geheimnis teilhaben – das Sammeln, Sichten und Reflektieren des Gefundenen und wie sich diese geschriebene Dinge in seinem Leben spiegeln. Seine ausgedehnten Erkundungsrunden dienten auch zur inneren Einkehr und haben ambivalente Gefühle bei Geiger hervorgerufen: Zuallererst die Scham, dann das Herzklopfen und Selbstbewusstsein, wenn sich wertvolle Bücher auftun. Und alles sortiert Geiger gesellschaftspolitisch ein, setzt den Müll, die Sammler und das Entsorgen in größere Kontexte der Veränderung; erzählt von körperlichen Verletzungen und lässt detaillierte Beobachtungen beim Containern einfließen. Am Ende sammelt Geiger in „Das glückliche Geheimnis“ nicht nur Geschriebenes aus Containern, sondern auch seine eigene Erinnerungen, Anekdoten und Eckpfeiler im Leben.

„Was ich an meinen Runden und dem, was ich nach Hause brachte, immer mochte, war das Raue, das Ungehobelte, das Reale. Das körperlich Reale und das gegenständlich Reale. Ich mag Dinge. Ich mag Menschen. Ich mag Niedergeschriebenes.“ (S. 237)

Ein wertvolles, besonderes und kluges Porträt über die Wendungen und Gefühle im Leben, das Werden eines erfolgreichen Schriftstellers und über die Kunst des Schreibens – zutiefst menschlich, empathisch und anregend.

Bewertung vom 20.12.2022
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


sehr gut

Aufwachsen im Kiez
Die preisgekrönte Journalistin und Juristin Iris Sayram widmet ihren ergreifenden, ungeschönten und authentischen Roman „Für euch“ ihrer Mutter Sonja – aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im Kölner Kiez und Brennpunkt-Viertel der 1980er-Jahre, opfert sich die Mutter von der Putzfrau bis zur Prostituierten auf, um ihrer Tochter Iris ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Vater Mustafa ist türkischer Einwanderer, verliert seine Arbeit bei Ford, ist spielsüchtig und hält sich meist bedeckt im Lösen von Familienproblemen. Eine bewegende, kluge und autobiografische Geschichte zwischen Gesellschafts-, Familien- und Milieuroman mit viel atmosphärischem Kölner Lokalkolorit sowie Dialekt und schonungslos ehrlichen Einblicken in eine Kindheit voller Schamgefühlen abseits der deutschen Wohlstandsgesellschaft.

Zwischen Rotlicht-Amüsements, Kaschemmen und Spielhöllen des Friesenwalls schildert Iris Sayram ihre Kindheit und Jugend voller klarsichtigen, warmherzigen Anekdoten, die mal humorvoll und mal hart-direkt ihr Heranwachsen unter schwierigen sozialen Bedingungen schildern. Die Mutter muss zwischendurch sogar ins Gefängnis und infiziert sich mit HIV – sie nimmt alles in Kauf, um ihre kleine Familie durchzubringen, nachdem sie ihre erste Familie verloren hat.

Die versierte Autorin hat mit „Für euch“ eine bewegende und empfehlenswerte Hommage an ihre Mutter und ungewöhnliche Herkunft geschrieben und öffnet präzise die Augen für andere soziale Blickwinkel – und obwohl ihre Lebensgeschichte in den 80er-, 90er-Jahren angesiedelt ist, bleiben die gesellschaftspolitischen Themen wie Kinderarmut und die dadurch fehlende Bildungsmöglichkeiten bis heute aktuell. Sayram hat sich nach oben gekämpft, ihr Abitur gemacht und erfolgreich studiert – mit der Kraft ihrer außergewöhnlichen Eltern und einem immensen inneren Willen. Ihr damaliges Schamgefühl lässt die Autorin nun hinter sich und wandelt es in ein sehr lesenswertes und unterhaltsames Denkmal für ihre Mutter, das auf ihrer ergreifenden Beerdigungsrede basiert.

Bewertung vom 02.12.2022
Alles selbst gemacht!
Ganner, Annalena

Alles selbst gemacht!


ausgezeichnet

Schritt für Schritt
Die sympathische Meranerin und erfolgreiche Foodbloggerin Annalena Ganner (www.annalenashearthbeat.com) hat sich ihren großen Traum erfüllt – ein hochwertiges und sehr ansprechend fotografiertes Rezeptbuch. In dem rund 130 Seiten starken Hardcover-Buch steckt sehr viel Liebe zum Kochen und fürs Detail – verständlich, gut strukturiert und mit hilfreichen Video-QR-Codes sowie weiterführenden Tipps und Koch-Varianten führt Annalena selbst die unentschlossenen Anfänger Schritt für Schritt ans Brot- und Baguettebacken. Hervorzuheben ist zudem, dass fast alles ohne große Küchengeräte sowie ausgefallenen Zutaten zuzubereiten ist.

In ihrem Vorwort erläutert die passionierte Köchin Annalena die Vorteile des Selbstbackens und -kochens wie Geschmack, Frische und Nachhaltigkeit – zudem lässt man die vielen versteckten Zusatzstoffe von Fertiglebensmitteln außen vor und kann sich tolle Vorräte anlegen. Die umfangreichen und brillant fotografierten Rezepte umfassen einen gelungenen Querschnitt in den Rubriken Brot, Pasta, Aus aller Welt, Aufstriche und Dips, Snacks und Geschenke aus der Küche sowie Backen und Desserts. Die vielseitige Auswahl ist präzise getroffen, ohne zu überfordern und beinhaltet notwendige Basics des Alltags, die variiert werden können. Verblüffend ist wirklich, dass die bisher ausprobierten der 50 Rezepte recht einfach nachzukochen sind und Annalena es vorzüglich schafft, die Ängste des vermeintlich schwierigen Selbstmachens wie Nudeln, Pesto, Pizzateig, Brot oder Pralinen empathisch nimmt.

„Alles selbst gemacht!“ ist eine überzeugende und hochwertige Bereicherung in der Reihe des kulinarischen do-it-yourself-Trends mit vielen einfachen, gut erklärten und leckeren Rezepten, die auf Qualität und Authentizität statt Quantität setzen – Annalena Ganner ist ihr ehrliches Herzblut fürs Kochen anzumerken und das motiviert wirklich zum Nachkochen!

Bewertung vom 01.12.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


sehr gut

Träume vom Ausbrechen
Der gefeierte französische Autor und Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu nimmt in seinem neuen Roman, der auf einen Chanson-Party-Hit von Michel Sardou anspielt, seine Generation der Vierzigjährigen in der Provinz von Lothringen en détail unter die Lupe. Dabei hat er eine präzise Beobachtungsgabe und erschafft eine dichte Atmosphäre voller Gefühle, Träume, Versäumnissen und Sehnsüchten.

Im Mittelpunkt steht die zweifache Mutter Hélène, die in der von Männern dominierten Consulting-Branche Karriere machen möchte und trotz Klassenaufstieg innerlich mit Unsicherheiten und einer stetigen Zerrissenheit zu kämpfen hat – nach einem schweren Burnout ist sie weg aus der Metropole Paris, zurück in ihre Heimat in der Provinz von Nancy. Der Alltag mit zwei Töchtern und einer eingefahrenen Ehe locken sie in eine Affäre mit ihrem Jugendschwarm Christophe, der die Kleinstadt Cornécourt nie verlassen hat und in Trennung lebt. Doch auch das geht trotz leidenschaftlichen Nächten nicht gut und mit viel Schwermut, Melancholie und Einfühlungsvermögen zieht Nicolas Mathieu den Leser tief in seine in Rückblenden und tiefsinnig erzählte Milieustudie hinein. Detaillierte und anschauliche Beschreibungen treffen auf emotionale sowie politische Stimmungen und genaue Umgebungsbeschreibungen – jeder Charakter ist tief und fein geschliffen, hat mit anderen Generationen, Klassen, Familienstrukturen und negativen Emotionen zu kämpfen und kann seine provinzielle Herkunft trotz teilweise gelungenen Aufstieg nicht leugnen. Alle träumen von einem besseren Leben, vom Ausbrechen aus festgefahrenen Wegen.

Trotz ein paar pathetischen Längen in der erzählerischen Ausführlichkeit ist Nicolas Mathieu mit „Connemara“ ein tiefgründiges Gesellschaftspanorama gelungen, die nicht nur von geplatzten Träumen und Lieben in der Provinz erzählt, sondern auch soziale und politische Aspekte bis in die 1980er-Jahre verwebt. Dabei sieht der Leser besonders tief in die Lebensläufe und Gefühlswelten von Hélène und Christophe, aber auch in gesellschaftliche Entwicklungen eines ganzen Landes.

Bewertung vom 25.11.2022
Die Kraft der Reue
Pink, Daniel H.

Die Kraft der Reue


sehr gut

Chance des Bedauerns
Der amerikanische Bestseller-Autor Daniel H. Pink hat sich in seinem neuen Sachbuch versiert, spannend und umfassend einer unangenehmen, sehr starken Emotion angenommen, in der viel Kraft stecken kann, wenn man sie zulässt und transformiert – die Reue.

In einer Mischung aus fundierter Wissenschaft mit einer groß angelegten Studie aus dem Jahre 2020, weltweiten Ergebnissen seiner großen Bedauern-Website sowie zahlreichen Praxisgeschichten von bekannten und unbekannten Menschen fächert Daniel Pink eine Emotion auf, die viele lieber nach dem Motto „Bloß nichts bereuen“ verdrängen, bis sie vielleicht irgendwann doch schweißgebadet mit Albträumen aufwachen.

Hier ist es an der Zeit, der Reue mutig tiefer in die Augen zu sehen und aus ihr zu lernen – wie das am besten funktioniert, erläutert Pink mit vielen anschaulichen Anekdoten und psychologischem Hintergrundwissen, bestens unterteilt in übersichtlichen Kapiteln und einer flüssig verfassten und leicht verständlichen Sprache. Denn Bedauern ist nicht gefährlich oder abseits der Norm, sie kann sehr gesund sein und gehört zum natürlichen Menschsein dazu. Gerade in einer so unsicheren Zeit wie heute mit Pandemie, Umweltkrisen und Kriegen zeigt Daniel Pink auf, wie der akzeptierende Blick in die Vergangenheit auf Reue und Bedauern ein Weg voller Stärke in die Zukunft weisen kann. Denn nicht selten äußert sich diese starke Emotion auch als körperlicher Schmerz.

Pink unterteilt die Reue in „vier Kernbedauern“, unter denen die Verbindungsreue und Karriere-Reue dominieren – mit bewegenden Beispielen schildert der Autor hier Fälle, in denen Freunde, Angehörige oder Liebespartner weggedriftet sind und wie Betroffene mit diesem Schmerz und getroffenen Entscheidungen mit Selbstmitgefühl und ohne endlose, quälende Grübelei umgehen können.

Unterhaltsam, informativ und lehrreich für alle, die sich gerne mit Psychologie und Lebensweisheit beschäftigen, liefert Pink nicht nur einen tiefen Blick in die menschliche Seele, sondern auch einen eindringlichen Ratgeber voller gesammelten Ergebnisse seiner Studie mit vielen wichtigen Anregungen für das eigene erfüllte Leben. Ein faszinierender Einblick in die verschlungenen Wege der Reue!

Bewertung vom 15.11.2022
Frau mit Messer
Byeong-mo, Gu

Frau mit Messer


ausgezeichnet

Angeschlagene Frucht
Die südkoreanische Autorin Gu Byeong-mo hat mit „Frau mit Messer“ eine außergewöhnliche, soghafte und höchst spannende Geschichte zwischen tiefsinnig-philosophischem Gesellschaftsroman und rasanten Thriller erschaffen.

Eine alternde, unauffällige Frau lebt alleine mit ihrem Hund Deadweight in einer beengten Wohnung einer Großstadt – ihr Beruf: Auftragskillerin. Deckname: Hornclaw. Über eine Agentur erhält sie ihre brutalen Aufträge zur „Schädlingsbekämpfung“, möchte sich aber bald zur Ruhe setzen und ihre legendäre Karriere beenden – doch bei ihren letzten Schritten holen sie die Schatten der Vergangenheit ein und Hornclaw, die es gewohnt war, ihre Gefühle zu verstecken und kaltblütig zu töten, wird ihre aufkommende Zuneigung zu Dr. Kang und seiner Familie zum Verhängnis, das sie angreifbar macht. Auch merkt sie, dass ihr scharfer Verstand und tadellose körperliche Fitness langsam nachlassen.

Mit schwarzem Humor und tiefgründigem Feingefühl für die prekäre Rolle einer älteren Frau in Südkorea ist „Frau mit Messer“ ein messerscharfes Psychogramm einer Frau, die sich aus der Armut nach oben gekämpft hat und nun im Kapitalismus, der sie gnadenlos abhängt, „Schädlinge“ eliminiert. Der Plot ist äußerst packend, intelligent konstruiert und wartet am Ende mit einem fulminanten und detailliert gewaltvollen Showdown mit Hornclaws Gegenspieler Bullfight. Die prägnanten gesellschaftskritischen Aspekte der modernen koreanischen Gesellschaft werden gekonnt mit rasanten Thriller-Elementen und treffsicheren Dialogen sowie Hornclaws bissig-klugen Gedanken zum Älterwerden in Korea verwoben – auch die Rückblicke in die turbulente Vergangenheit mit Mentor Ryu sowie in die schwierige Kindheit der Killerin sind bewegend und ausgewogen akzentuiert.

„Frau mit Messer“ ist ein literarisches Highlight aus Südkorea – intelligent, gewitzt, gesellschaftskritisch und mit nervenaufreibender Spannung bis zum Schluss! Einzig und alleine der koreanische Originaltitel, der übersetzt etwa „angeschlagene Frucht“ bedeutet, wäre noch treffender gewesen – fängt er doch metaphorisch das gebrechliche Älterwerden samt Abgehängtsein, das Aufbrechen von Gefühlen und die Verdrängung der traditionellen Marktstände in Südkorea durch große Supermärkte besser ein.

Bewertung vom 26.10.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


sehr gut

Komplexe Familien-Traumata
In „Meine bessere Schwester“ seziert die Autorin Rebecca Wait scharfsinnig und mit subtilen Humor die komplexen Dynamiken einer Familie, die unter toxischen Verstrickungen und generationsübergreifenden Traumata leidet. Dabei kommen facettenreich alle Familienmitglieder Stück für Stück zu Wort und ihre seelischen Verletzungen werden detailliert sowie mit Rückblicken untersucht.

Alice und Hanna sind Zwillingsschwestern, aber alles andere als unzertrennlich und sehr unterschiedlich – seit Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander und treffen erstmals wieder bei der Beerdigung ihrer an Schizophrenie erkrankten Tante Katy aufeinander. Auch der Kontakt zu Mutter Celia und Bruder Michael ist für Hanna abgerissen und während Rebecca Wait feinfühlig die Lebenswege der Protagonisten nachzeichnet, wird diese Spaltung und mögliche Familienzusammenführung der berührend-humorvolle Plot der Geschichte ausmachen.

„Es tut mir leid, dass du dich so fühlst“ lautet der englische Originaltitel dieser flüssig und klug geschriebenen Tragikomödie und dieser macht deutlich, worauf es hinausläuft: Die Familie lernt, sich langsam zu öffnen und ihre Finger in die schmerzenden Wunden zu legen. Mutter Celia hat selbst an der psychischen Erkrankung ihrer Schwester und der Vernachlässigung durch ihre Eltern gelitten, gibt aber ihre alte Verletzungen in Form von emotionalen Erpressungen und Zwanghaftigkeit an ihre Kinder weiter – nicht jedes wird gleich geliebt und schnell verurteilt; der Ehemann und Vater verlässt die Familie. Und so entwickeln sich die Geschwister in diesem familiären Geflecht sehr unterschiedlich: Während Hanna selbstbewusst ist, ist für die schüchterne Alice das Leben eher von Hindernissen und Einsamkeit geprägt. Sie klammert auch noch später ungesund an der narzisstischen Mutter, will ihr alles Recht machen und hat Angst vor dem Scheitern – was ihr Leben zum Stillstand gebracht hat.

Die klar und scharf beobachtete Familienaufstellung spickt Rebecca Wait noch mit lustigen Alltagsbeobachtungen, was die ernsten Themen auflockert und ein authentisch-rundes Gesamtbild ergibt. Jeden ihrer Protagonisten zeichnet Wait dicht und mit viel Liebe zum Detail – der Leser fiebert empathisch mit Hanna, Alice und ihrem weiteren möglichen Lebensweg mit. Eine außergewöhnliche, pfiffige und lebensnahe Geschichte über dysfunktionale Familienstrukturen mit Tiefgang und Witz!

Bewertung vom 18.10.2022
Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)
Yokomizo, Seishi

Die rätselhaften Honjin-Morde / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Nostalgischer Kriminalfall
Seishi Yokomizo war einer der berühmtesten Kriminalroman-Autoren Japans – mit „Die rätselhaften Honjin-Morde“ erscheint nun in der präzisen und gelungenen Übersetzung von Ursula Gräfe der erste Band der Kindaichi-Reihe endlich auf Deutsch.

Im Jahre 1937 heiratet der älteste Sohn Kenzo der angesehenen, wohlhabenden Ichiyanagi-Familie im japanischen Ort Okamura seine Verlobte Katsuko auf dem herrschaftlichen Anwesen. Doch nach der traditionellen Zeremonie und Feier dann der große Schrecken in der Nacht: Nach auffälligen Geräuschen sowie Koto-Melodien im abgeschlossenen Raum des frisch vermählten Paares finden Angehörige das Ehepaar mit Stichwunden ermordet darin auf. Wie kann das nur möglich sein? Im Schnee befinden sich keine Spuren, doch mittendrin steckt die Tatwaffe, ein blutverschmiertes Schwert. Und Tage zuvor hat sich schon ein ominöser Landstreicher mit nur drei Fingern und einer Maske im Dorf herumgeschlichen und sich nach dem Anwesen erkundigt. Doch auch die Angehörigen der Familie Ichiyanagi halten zwar ihr Honjin-Erbe hoch, verhalten sich aber sehr seltsam und sind von exzentrischen Charakteren gekennzeichnet. Ein pfiffiger und klassischer Kriminalfall mit einem spannenden Locked-Room-Mysterium nimmt seinen wendungsreichen Lauf.

Erzählt wird aus der humorvoll-detaillierten Perspektive eines Krimiautors, der den Fall nochmal als wahre Geschichte nacherzählt und dabei auch gerne den Leser direkt bei seinen Gedankengängen anspricht. Den verzwickten Fall auflösen soll zuerst Kommissar Isokawa, der aber vor einem Rätsel steht und bald scharfsinnig-kluge Unterstützung von dem unkonventionellen, jungen Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erhält – dieser hat einen außergewöhnlichen Lebenslauf mit Drogenvergangenheit und fehlender Ausbildung, was seinem sehr schlauen Ermittler-Geist aber wenig schadet. Mit stürmischer Vogelnest-Frisur und einem sympathischen Stottern stochert er in jeder Kleinigkeit, kombiniert blitzschnell seine Geistesblitze und löst die vertrackten Honjin-Morde.

Bereits 1973 in Japan erschienen, sind dort dem ersten Band 76 weitere erfolgreiche Folgen rund um den verschroben-blitzgescheiten Privatdetektiv Kosuke Kindaichi erschienen. Eingebettet in viel nostalgischem Lokalkolorit, strengen japanischen Traditionen und szenischer Atmosphäre zu dieser Zeit, taucht der Leser tief in eine Zeitreise und lernt etwas über die japanische Kultur hinzu. Der trickreiche Krimi lädt zum Miträtseln ein und wartet mit einer zwar leicht unrealistisch-überkonstruierten, aber sehr klaren Auflösung. Ein Personenregister und Glossar am Ende des Buches helfen, sich bei den vielen Namen und japanischen Begriffen zurecht zu finden. Zudem hat der Rätsel-Krimi trotz seines älteren Erscheinungsjahres einen modern-frechen Ton und spielt auch mit der Reflexion über das Krimigenre an sich. Ein solider Klassiker mit raffinierter Handlung, gut gezeichneten Charakteren und japanischen Traditionen.

Bewertung vom 27.09.2022
Teen Couple Have Fun Outdoors
Jayan, Aravind

Teen Couple Have Fun Outdoors


sehr gut

Verhängnisvolle Aufnahmen

Der junge talentierte Autor Aravind Jayan erzählt in seinem humorvoll-scharfsinnigen Debüt „Teen Couple Have Fun Outdoors“ von einer turbulenten Familienkrise im südindischen Trivandrum, Kerala – dabei bestimmen vor allem Scham, Ehrgefühl und sturköpfige Moralvorstellungen das Handeln der vier Familienmitglieder aus der Mittelklasse.

Was sollen nur die Leute denken? Besonders in Indien herrschen noch immense Ansprüche auf einen guten Ruf und gesellschaftliches Ansehen im Umfeld – so ist es nicht verwunderlich, welche große Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne auftaucht, als ein Sex-Video des Sohnes online rasant die Runde auf diversen Internet-Portalen macht. Eltern Amma und Appa sind außer sich, als sie die prekären Aufnahmen von Sreenath mit seiner Freundin Anita im Freien sehen und werfen den 20-jährigen Sohn kurzerhand aus dem gemeinsamen Haus. Zu tief sitzen die große Scham und das verletzte Ehrgefühl, das auch das neue Statussymbol, der polierte weiße Honda Civic vor der Tür, nicht mehr retten kann. Dabei ist doch im Stadtteil Blue Hills alles so sauber und in ordentlichen Bahnen.

Sreenaths zwei Jahre älterer Bruder und der pfiffig-kluge Ich-Erzähler dieser eindringlichen Geschichte hat einen scharfbeobachtenden Blick auf den Konflikt sowie den neuen, schnelllebigen Technologien samt Internet und versucht geschickt zwischen Sree und Eltern zu vermitteln, wo es nur geht. Seine authentisch-frische Stimme trägt den beschwingt erzählten Roman trotz sehr ernstem Thema und sprüht vor intellektuellem Witz und bittersüßem Charme. Er zieht Vergleiche zu Kafka und Tolstoi, interessiert sich leidenschaftlich für die Kultur und schreibt journalistische Artikel – nebenbei erfährt der interessierte Leser noch jede Menge über das moderne, aufgeschlossene Indien im Konflikt mit alteingewachsenen Traditionen samt Klassensystem und die Tücken des Klatschsystems im Internet samt Social Media. Und am Ende lässt sich der Ich-Erzähler ein wenig von dem rebellischen Charakter des Bruders anstecken.

Die geistvoll erzählte Geschichte über einen indischen Generationen-, Moral- und Statuskonflikt besticht durch die unaufgeregte, detaillierte Schilderung der Geschehnisse innerhalb des jungen Paares und der Familien und ihren teils urkomischen Versuchen, das gesellschaftliche Ansehen und die öffentliche Meinung über ihr Leben wieder herzustellen. Dabei könnte man dem Plot unterstellen, dass eigentlich wenig Aufregendes passiert und doch entfaltet „Teen Couple Have Fun Outdoors“ mit dieser indischen Kleinstadt-Tragikomödie eine packende Sogwirkung mit vielen faszinierenden Einblicken und es bleibt spannend, welche literarischen Werke noch von Aravind Jayan folgen werden!

Bewertung vom 25.09.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


sehr gut

Verrückte Liebesobsession
Die schmale Novelle „Ich verliebe mich so leicht“ vom französischen Bestseller-Autor Hervé Le Tellier besticht durch seine lakonische und lebenskluge Erzählfreude voller literarischen und filmischen Bezügen – über einen älteren Mann, der in verrückter Liebesobsession seiner 20 Jahre jüngeren Geliebten in ein abgelegenes, schottisches Dorf folgt.

Der namenlose und von der Liebe verdrehte und etwas aufdringliche Protagonist wird von Le Tellier als Held umschrieben und ist nicht gerade vom Glück verfolgt – seine Anreise beginnt schon mit einem verspäteten Flug und auch seine Avancen laufen ins Leere, das Treffen mit der Angebeteten in den Highlands endet in einem frustrierten Liebesaus. Das Ganze ist eigentlich schnell erzählt, doch Le Tellier lässt in 12 humorvoll-scharfsinnigen Kapiteln die kleine Geschichte durch seine leichtfüßige und doch sehr treffsichere Sprache glänzen, die diesmal zwar etwas altmodisch angehaucht ist, aber jeder Satz sowie jede Andeutung sitzen perfekt.

Feinfühliger Humor trifft hierbei auf eine auktoriale Erzählperspektive, die durch faszinierenden Variantenreichtum und pfiffigen Kapitelsynopsen viel Lesefreude bereitet. Und auch zwischen den Zeilen verstreut Le Tellier zwischen den ironischen Reflektionen des Helden und den detaillierten Beobachtungen in der schottischen Natur allerhand schlaue Querverweise, die dazu einladen, das schmale Buch immer wieder zur Hand zu nehmen. Das einzige Manko: Es ist viel zu schnell zu Ende!