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amara5

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Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 28.03.2023
Wasserzeiten
Bilkau, Kristine

Wasserzeiten


sehr gut

Das magische Dritte
Kristine Bilkau geht in ihren feinfühligen, klugen und teils sehr persönliche Essays „Wasserzeiten“ ihrer eigenen Schwimmbiografie, aber auch ihrer Liebe zum Wasser nach. Dabei verwebt sie präzise komponiert verschiedenste literarische Querverweise ein, die schön akzentuiert in persönliche Erfahrungsmomente und versiert recherchierte Fakten über das Schwimmen ineinanderfließen.

Am Anfang und am Ende der Reflexionen steht dabei das Gedicht „The Third Thing“ von D. H. Lawrence im Vordergrund – dieser schreibt lyrisch über das unergründliche, geheimnisvolle Dritte, das sich im H²O verbirgt und die Menschen glücklich macht. Nicht nur das Dopamin und Seratonin, das beim Eistauchen oder langem Schwimmen ausgeschüttet wird, auch das Einssein mit diesem Element und den Menschen, die sich darin begeben, beschreibt Bilkau sehr feinsinnig und mit wunderschönen Sprachbildern – immer auf der Suche nach diesem geheimnisvollen dritten Element, das sich nicht richtig greifen lässt und dabei tiefsinnige Interpretationen mit Spielraum für eigene Gedanken zulässt.

Bewegend-berührende Momente in ihrem Leben wie die Angst beim Muttersein, das fehlende Vertrauen in den eigenen Körper oder der verstorbene Vater, ein Seemann, der ihr das Schwimmen beigebracht hat, fügen sich in informative Fakten über die Kulturgeschichte des Schwimmens. Feminismus, Gesundheit, Sozialgefüge und die Bedeutung eines glitzerndes Pools in Literatur und Film sind Themen dieses Essays, der untergliedert in kurzen Kapiteln nie das Menschsein an sich aus den Augen verliert. Auch verbindet Bilkau assoziativ, was der Schreibprozess und das Schwimmen für sie gemeinsam haben.

Kristine Bilkau schreibt unverwechselbar elegant, empathisch und weise – federleicht und unterhaltsam verknüpft sie eigene Schwimmerfahrungen, Sehnsuchtsbadeorte oder Badeoutfits im Schwimmband und im Meer mit der großen Geschichte des Schwimmens und spannenden literarischen Einblicken. Ein schmales, aber sehr gelungenes Buch!

Bewertung vom 21.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


ausgezeichnet

Einatmen, ausatmen
Die Bachmannpreisträgerin und studierte Soziologin Birgit Birnbacher zeichnet in ihrem neuen Roman „Wovon wir leben“ ein feinfühliges und detailliertes Bild einer jungen Frau in der Sinnkrise – und lässt dabei präzise und realistisch noch existenzielle Fragen des (nicht) arbeitenden Menschen miteinfließen.

Julia heißt die empathische Ich-Erzählerin des Romans und sie leidet an schwerem Asthma – nach einem traumatischen Erlebnis an ihrem alten Arbeitsplatz als Krankenschwester, das ihr auch ihre Stelle kosten wird, verschlechtert sich ihr Atemvolumen und sie muss nicht nur neu lernen, tief ein- und auszuatmen, sondern auch ohne Arbeit zu leben. Physisch und psychisch angeschlagen kehrt sie zurück zu ihren Eltern ins erdrückende Dorfleben von Innergebirg – doch ihre Mutter hat Reißaus genommen und lebt jetzt bei den Zitronen in Italien, ihr Vater, ein herrischer, hypochondrischer Grantler, zwingt sie mit emotionaler Erpressung dazu, für ihn da zu sein, während Julias geistig behinderter Bruder in einem Heim gepflegt wird.

Julia wird auf den Städter Oskar treffen, der sich nach einem Herzinfarkt erholt und dem ein bedingungsloses Grundeinkommen derzeit das Leben ohne Arbeit erleichtert. Gemeinsam erholen sie sich einen Sommer lang, kommen sich näher, beobachten das bornierte Dorfleben im Wirtshaus, in dem die arbeitslos gewordenen Männer trinken und spielen, und reflektieren ihr bisheriges (Arbeits-)Leben.

Mit einer klaren, sehr starken und ausdrucksstarken Sprache widmet sich Birgit Birnbacher dem Sinn von Arbeit und der unterschätzten Anerkennung von weiblicher Care-Arbeit bis zur Erschöpfung – aber auch weitergegebenen Rollenbildern, Verpflichtungen und Erwartungen, die zu erdrücken drohen. Dabei webt sie in ihrer Geschichte subtil soziologische Studien zur Arbeit ein, auf die sie sich am Ende des Buches bezieht. Auch bildgewaltige Metaphern aus der Tierwelt spielen eine übertragene Rolle – wie ein arbeitswütiger, exotischer Vogel, eine schreiende Ziege sowie ein verendetes Arbeitspferd.

Äußerst sensibel und klug schaut Birnbacher auf das Zerbrechliche im Menschenleben und obwohl der Roman sehr schmal ist, steckt zwischen den Zeilen noch so viel mehr Weisheit zum Entdecken. Ein wunderbarer und literarisch geglückter Dorf- und Gesellschaftsroman über den Sinn und Wandel von Arbeit, Fürsorge sowie einem gelungenen, freien Leben.

Bewertung vom 04.03.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


sehr gut

Dieser Spiegel-Blick

Der Autorin und Journalistin Antonia Baum gelingt mit „Siegfried“ ein brillantes Psychogramm einer jungen Frau und Mutter, die nervlich zusammenbricht, sich neu orientieren muss und mit alten, übertragenen Erwartungen und emotionaler Erpressung in der Kindheit aufräumen muss.

Die namenlose Ich-Erzählerin ist Radiomoderatorin in Berlin und leidet bei ihrem Roman unter einer Schreibblockade – aber nicht nur das zwingt sie psychisch in eine Überforderung und in Angstzustände; auch der Streit mit ihrem Partner Alex und übertriebene Sorgen um Siegfried lasten schwer auf ihr. Siegfried – ihr Stiefvater, der immer alles dominant und nonchalant zusammenhält, weiß wo es lang geht, erfolgreich ist und ihr einen festen Halt im Leben bietet. Und der im Kontrast zu ihrer eher schwachen Mutter steht, die Siegfried alles Recht machen will. Alex dagegen ist ein Tagträumer, Barkeeper und künstlerisch interessiert, etwas verpeilt, aber ein guter Vater der gemeinsamen Tochter Johnny. Eines Morgens findet sich die Protagonistin im Wartezimmer einer Psychiatrie wieder – sie erwartet Hilfe, einen Ruhepol von den Verpflichtungen und der gedanklichen Raserei sowie den täglichen zwanghaften To-Do-Listen und resümiert schmerzvoll und sprunghaft über ihre Vergangenheit.

„Ich gewöhnte mir ein Lachen an, das klang, als würde ich rufen oder irgendwo dagegentrommeln. Diese Härte, die ich mir zulegte, bedingte aber auch eine permanente Angekotztheit. Es war, als versuchte ich, mich an einer glatten Wand festzuhalten – nicht hinunterzufallen, mir aber auch nicht helfen zu lassen.“ S. 94

Bei ihren assoziativen und nicht chronologischen Erinnerungen taucht sie tief ein in ihre Beziehungen, auch in die ihrer Kindheit, die sie viel bei Siegfrieds strenger Mutter Hilde verbracht hat – der Alltag dort war geprägt von Kälte, Zwängen, Regeln und sehr verurteilenden, durchdringenden Blicken von Hilde, die sich nicht nur in den Spiegeln ihrer Wohnung verankern, sondern über Generationen hinweg für Härte sorgen.

Diese subtil gewaltvollen Erfahrungen spiegeln sich nun in den Reflexionen der Erzählerin wider, die Antonia Baum brillant und sehr feinfühlig-scharfsinnig in sich aneinanderreihenden, soghaften Schachtelsätzen bringt. Schmerzvoll, ehrlich und sehr klug zeichnet sie ein Bild, wie Kriegstraumata auf nachfolgende Generationen übertragen werden, aber auch, wie sich eine verletzende Erziehung in das kindliche Seelenleben einprägt.

Der Roman ist keine leichte Kost, dafür aber psychologisch messerscharf ausgeleuchtet und voller Tiefgründigkeit – kleinste Beobachtungen an sich und an ihrer Außenwelt fließen präzise komponiert in die Gedanken der Protagonistin ein, die sich Stück und Stück ein Bild ihres Familienlebens zusammensetzt, das immer geprägt war von Hildes strengen Blicken und Handlungsanweisungen sowie einer permanenten Sprachlosigkeit und einem tiefgreifenden Traumata. Ein sehr intensiver, faszinierender und einfühlsamer Roman über Herkunft, Prägung, Elternschaft und Gewalt, der stilistisch mit wunderbaren Sprachbildern sowie inhaltlich bewegend-eindringlich überzeugt.

Bewertung vom 23.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


sehr gut

Dschinn der Steppe
Die deutsch-polnische Schriftstellerin Autorin Sabrina Janesch verwebt in ihrem packendem Roman „Sibir“ zwei Geschichten des Erwachsenwerdens in sehr unterschiedlichen Zeiten sowie Ländern und beleuchtet dabei bewegend die Geschichte der „Russlanddeutschen“.

Als Leila bemerkt, dass ihrem Vater die Erinnerungen an Früher durch seine Demenzerkrankung langsam verlorengehen und er stattdessen verwirrte Stimmen aus der Vergangenheit wahrnimmt, beschließt sie, seine außergewöhnliche Geschichte des Zwangsaussiedelns und Wiederankommens in Deutschland niederzuschreiben. Josef Ambacher ist ein sogenannter Russlanddeutscher: Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er als 10-jähriger von der Roten Armee mit seiner Familie und vielen weiteren Zivilgefangenen aus Galizien nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Schon alleine die weite Anfahrt im Zugwaggon haben viele nicht überlebt – auch sein kleiner Bruder Jakob. Doch was die Menschen verschiedenster Kulturen gemeinsam in dieser Siedlung Nowa Karlowka in der irrsinnig weiten, rauen Steppe erleben, um zu überleben, ist erzählerisch atemberaubend und menschlich dramatisch.

Sabrina Janesch verknüpft das Heranwachsen von Josef in Kasachstan mit den Erlebnissen von seiner Tochter Leila im jeweils gleichen Alter, stellt die Steppe in Bezug auf eine Randsiedlung in Mühlheide, Niedersachsen. Als Josef mit Ende des Eisernen Vorhangs in Deutschland die vielen ankommenden Spätaussiedler in seiner Heimat sieht, wird er frontal mit seiner eigenen Vergangenheit und Ängsten konfrontiert. Denn er hat gelernt, über sein Leben in Kasachstan zu schweigen – nur Tochter Leila kann von seinen bewegenden, abenteuerreichen und teils tragischen Geschichten, den Dschinn der Steppe, nicht genug bekommen.

Aus abwechselnden Perspektiven entwirft Janesch in einer beeindruckenden, poetischen und bildhaften Sprache ein tiefgreifendes Bild über Heimat, Identität, Vertreibung, familiären Verstrickungen, unterschiedlichen Kulturen, Freundschaft und Mut. Besonders die eindringlichen Schilderungen aus Kasachstan sind sehr dicht, plastisch und soghaft – faszinierend komponiert Janesch das harte Leben in der kasachischen Steppe mit wilden Tieren, Mythen, kulturellen Traditionen und Wetterphänomenen. Leilas Kindheit in den 1990er-Jahren ist geprägt von ihrer Freundschaft zu Arnold, mit dem sie viel Zeit draußen verbringt und alles teilen kann und doch empfindet sie ihr Heranwachsen als hart und ausgegrenzt. Mit assoziativen Schlaglichtern zieht Janesch Anknüpfungspunkte aus Kasachstan zu Leilas Leben in Norddeutschland, was nicht immer ganz rund erscheint, da beide Lebensumstände nicht wirklich zu vergleichen sind.

„Sibir“ glänzt vor allem durch eine sprachliche Wucht und Versiertheit – Bilder der unendlichen Steppe tauchen beim Lesen auf und gleichzeitig lenkt Janesch präzise recherchiert den Blick auf ein Stück wichtige deutsch-russische Geschichte und autofiktional auf ihre eigene Familiengeschichte. Über Jahrzehnte hinweg rollt sie feinfühlig auf, wie verdrängte Kriegstraumata auf die nächste Generation weitergegeben werden und welchen Überlebenswillen Menschen auch in der härtesten Umgebung und Ausgrenzung entwickeln. Ein tiefsinniger, kraftvoller und sehr sinnlicher Roman mit einem berührenden Ende und der dazu einlädt, sich noch tiefer mit der Zeitgeschichte und Entwurzelungstraumata zu beschäftigen.

Bewertung vom 12.02.2023
Salomés Zorn
Bekono, Simone Atangana

Salomés Zorn


sehr gut

Ein zweites Ich
In ihrem kraftvollen und zornigen Debütroman „Salomés Zorn“ schildert die niederländische Autorin und Lyrikerin Simone Atangana Bekono eindrücklich, was Rassismus und Mobbing mit einem jungen Menschen anrichtet.

Die Teenagerin Salomé Henriette Constance Atabong lebt zusammen mit ihrer Familie in einem niederländischen provinziellen Dorf – ihr Vater stammt aus Kamerun und weiß, was es bedeutet, wegen der Hautfarbe von täglichen Anfeindungen betroffen zu sein. Er installiert in der Garage einen Punchingball und sein Mantra an seine Töchter lautet: Arbeitet hart, beklagt euch nicht und schlagt ein Loch in den Feind. Auf dem Gymnasium ist Salomé schlau, besonders die Literatur und das Lesen haben es ihr angetan, aber Freunde findet sie kaum. Im Gegenteil: Das Schulleben ist geprägt von Mobbing, verletzenden Kraftausdrücken und herabsetzenden Handlungen. Als sie eines Tages zwei Jungs aus der Schule beim Nachhauseweg verfolgen, befolgt Salomé den Ratschlag ihres Vaters und lässt ihrer aufgetauten Wut freien Lauf. Die Gewalttat bringt sie in eine Jugendstrafanstalt, in der sie sechs Monate lang lernen soll, ihre Gefühle auszudrücken und sich zu rehabilitieren.

Der Kernpunkt des eindringlichen und bewegenden Romans liegt in diesem Aufenthalt im sogenannten Donut, der kreisförmigen Jugendstrafanstalt. Salomé wird dem Betreuer und Therapeuten Frits zugeordnet, der vorher in der fragwürdigen TV-Show „Hello Jungle“ teilgenommen hat – in diesem Format werden indigene Völker in Afrika bloßgestellt. Aus der Ich-Perspektive erzählt Salomé von anderen Insassinnen, vom Alltag in der Anstalt, aber vor allem von ihren Albträumen und ihrem mäandernden Zusammenfinden der Erinnerungen. Faszinierend, lyrisch und packend setzt Simone Atangana Bekono diese Erinnerungen mosaikartig und künstlerisch abstrakt zusammen, lässt Salomé in einer Art sogartigem Monolog von ihrer Kindheit, ihrer Familie samt den Ratschlägen der intellektuellen Tante Céleste, aber auch von ihrem prägenden Besuch in Kamerun, dem Entstehen eines Geflüchtetenheims und damit einhergehenden Anfeindungen in ihrem Dorf und den darauffolgenden inneren und äußeren Veränderungen in ihrer Seele reflektieren.

„Meine Gedanken sind alt. Sie wiederholen sich in merkwürdigen Formationen, wie die Vögel, die über den Donut fliegen, wie Erinnerungen, die sich mir aufdrängen.“ S. 111

In Salomés Gedanken mischen sich beim Aufbrechen ihres Seelenlebens mythische Geschichten, griechische Tragödien, Furien und Charaktere der vielen anspruchsvollen Romane, die sie in der Haft liest, bis sie ergreifend zum Kern ihrer Gewalttat vordringt. Besonders die Schilderung der Tat beweist pointiert das lyrische Talent der Autorin, aber auch der Rest des Romans lebt von der sprachlichen Wucht und Akzentuierung – Kernaussagen werden wie ein roter Faden wiederholt und zusammengesetzt, was einem einprägendem Klagelied und einer Katharsis gleicht. Salomés tiefgründige und philosophische Gedanken auf der Suche nach dem ausschlaggebenden Zeitfenster, in dem sie einen Weg eingeschlagen hat, der sie von dem ihrem zweiten Ich, der anderen Salomé, der alles im Leben offensteht und gelingt, entfernt hat, mögen zwar stellenweise etwas verwirrend aufgefangen sein, ergeben am Ende aber ein klug-beklemmendes Gesamtkunstwerk und prägen sich beim Lesen so tief ein, dass sie sich nicht so schnell abschütteln lassen.

Bewertung vom 22.01.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


sehr gut

Runden des Suchens
Mittlerweile ist der österreichische Schriftsteller und Deutscher-Buchpreis-Träger Arno Geiger sehr erfolgreich, doch seine Anfänge im literarischen Betrieb waren alles andere als leicht und von Durststrecken geprägt. Mit seinem neuen, sehr persönlichen Roman-Essay „Das glückliche Geheimnis“ taucht er autobiografisch tief ein in seinen Werdegang, in seine Lieben und Familiengeschichte, aber auch in sein außergewöhnliches Doppelleben, das sich wie ein präziser, roter Faden durch sein bewegtes Leben führt: Geiger hat 25 Jahre lang die Altpapier-Container der Wiener Stadt und Bezirke durchwühlt, um Geld mit dem Verkauf von Fundstücken wie Büchern, wertvollen Postkarten, Briefmarkensammlungen et cetera zu verdienen. Doch seine vielen Runden des Suchens und Findens waren zugleich Inspiration für sein Schaffen, Denken und Leben – so haben ihn beispielsweise zahlreiche aufgefundene Briefe und Tagebücher für sein prämiertes Buch „Es geht uns gut“ angeregt.

Unterhaltsam, bewegend und selbstironisch verwebt Arno Geiger seine Streifzüge und Fundstücke mit vielen Jahren Lebens- und Schaffensgeschichte sowie tiefgründige Reflexionen zum Wegwerfen, Sammeln, Müll, Anhäufen und parallel die Liebe zu Wörtern und Büchern. Unglückliche Lieben, die gehen, eine glückliche Liebe, die trotz Hindernissen bleibt, Enttäuschungen und Erfolge im Literaturbetrieb sowie kranke Eltern, die auf Hilfe angewiesen sind.

Sehr offen und zugleich pointiert lässt Arno Geiger den Leser an seinem Leben, seinen klug-humorvollen Gedanken dazu und natürlich an seinem glücklichen Geheimnis teilhaben – das Sammeln, Sichten und Reflektieren des Gefundenen und wie sich diese geschriebene Dinge in seinem Leben spiegeln. Seine ausgedehnten Erkundungsrunden dienten auch zur inneren Einkehr und haben ambivalente Gefühle bei Geiger hervorgerufen: Zuallererst die Scham, dann das Herzklopfen und Selbstbewusstsein, wenn sich wertvolle Bücher auftun. Und alles sortiert Geiger gesellschaftspolitisch ein, setzt den Müll, die Sammler und das Entsorgen in größere Kontexte der Veränderung; erzählt von körperlichen Verletzungen und lässt detaillierte Beobachtungen beim Containern einfließen. Am Ende sammelt Geiger in „Das glückliche Geheimnis“ nicht nur Geschriebenes aus Containern, sondern auch seine eigene Erinnerungen, Anekdoten und Eckpfeiler im Leben.

„Was ich an meinen Runden und dem, was ich nach Hause brachte, immer mochte, war das Raue, das Ungehobelte, das Reale. Das körperlich Reale und das gegenständlich Reale. Ich mag Dinge. Ich mag Menschen. Ich mag Niedergeschriebenes.“ (S. 237)

Ein wertvolles, besonderes und kluges Porträt über die Wendungen und Gefühle im Leben, das Werden eines erfolgreichen Schriftstellers und über die Kunst des Schreibens – zutiefst menschlich, empathisch und anregend.

Bewertung vom 20.12.2022
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


sehr gut

Aufwachsen im Kiez
Die preisgekrönte Journalistin und Juristin Iris Sayram widmet ihren ergreifenden, ungeschönten und authentischen Roman „Für euch“ ihrer Mutter Sonja – aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen im Kölner Kiez und Brennpunkt-Viertel der 1980er-Jahre, opfert sich die Mutter von der Putzfrau bis zur Prostituierten auf, um ihrer Tochter Iris ein besseres Leben zu ermöglichen. Der Vater Mustafa ist türkischer Einwanderer, verliert seine Arbeit bei Ford, ist spielsüchtig und hält sich meist bedeckt im Lösen von Familienproblemen. Eine bewegende, kluge und autobiografische Geschichte zwischen Gesellschafts-, Familien- und Milieuroman mit viel atmosphärischem Kölner Lokalkolorit sowie Dialekt und schonungslos ehrlichen Einblicken in eine Kindheit voller Schamgefühlen abseits der deutschen Wohlstandsgesellschaft.

Zwischen Rotlicht-Amüsements, Kaschemmen und Spielhöllen des Friesenwalls schildert Iris Sayram ihre Kindheit und Jugend voller klarsichtigen, warmherzigen Anekdoten, die mal humorvoll und mal hart-direkt ihr Heranwachsen unter schwierigen sozialen Bedingungen schildern. Die Mutter muss zwischendurch sogar ins Gefängnis und infiziert sich mit HIV – sie nimmt alles in Kauf, um ihre kleine Familie durchzubringen, nachdem sie ihre erste Familie verloren hat.

Die versierte Autorin hat mit „Für euch“ eine bewegende und empfehlenswerte Hommage an ihre Mutter und ungewöhnliche Herkunft geschrieben und öffnet präzise die Augen für andere soziale Blickwinkel – und obwohl ihre Lebensgeschichte in den 80er-, 90er-Jahren angesiedelt ist, bleiben die gesellschaftspolitischen Themen wie Kinderarmut und die dadurch fehlende Bildungsmöglichkeiten bis heute aktuell. Sayram hat sich nach oben gekämpft, ihr Abitur gemacht und erfolgreich studiert – mit der Kraft ihrer außergewöhnlichen Eltern und einem immensen inneren Willen. Ihr damaliges Schamgefühl lässt die Autorin nun hinter sich und wandelt es in ein sehr lesenswertes und unterhaltsames Denkmal für ihre Mutter, das auf ihrer ergreifenden Beerdigungsrede basiert.

Bewertung vom 02.12.2022
Alles selbst gemacht!
Ganner, Annalena

Alles selbst gemacht!


ausgezeichnet

Schritt für Schritt
Die sympathische Meranerin und erfolgreiche Foodbloggerin Annalena Ganner (www.annalenashearthbeat.com) hat sich ihren großen Traum erfüllt – ein hochwertiges und sehr ansprechend fotografiertes Rezeptbuch. In dem rund 130 Seiten starken Hardcover-Buch steckt sehr viel Liebe zum Kochen und fürs Detail – verständlich, gut strukturiert und mit hilfreichen Video-QR-Codes sowie weiterführenden Tipps und Koch-Varianten führt Annalena selbst die unentschlossenen Anfänger Schritt für Schritt ans Brot- und Baguettebacken. Hervorzuheben ist zudem, dass fast alles ohne große Küchengeräte sowie ausgefallenen Zutaten zuzubereiten ist.

In ihrem Vorwort erläutert die passionierte Köchin Annalena die Vorteile des Selbstbackens und -kochens wie Geschmack, Frische und Nachhaltigkeit – zudem lässt man die vielen versteckten Zusatzstoffe von Fertiglebensmitteln außen vor und kann sich tolle Vorräte anlegen. Die umfangreichen und brillant fotografierten Rezepte umfassen einen gelungenen Querschnitt in den Rubriken Brot, Pasta, Aus aller Welt, Aufstriche und Dips, Snacks und Geschenke aus der Küche sowie Backen und Desserts. Die vielseitige Auswahl ist präzise getroffen, ohne zu überfordern und beinhaltet notwendige Basics des Alltags, die variiert werden können. Verblüffend ist wirklich, dass die bisher ausprobierten der 50 Rezepte recht einfach nachzukochen sind und Annalena es vorzüglich schafft, die Ängste des vermeintlich schwierigen Selbstmachens wie Nudeln, Pesto, Pizzateig, Brot oder Pralinen empathisch nimmt.

„Alles selbst gemacht!“ ist eine überzeugende und hochwertige Bereicherung in der Reihe des kulinarischen do-it-yourself-Trends mit vielen einfachen, gut erklärten und leckeren Rezepten, die auf Qualität und Authentizität statt Quantität setzen – Annalena Ganner ist ihr ehrliches Herzblut fürs Kochen anzumerken und das motiviert wirklich zum Nachkochen!

Bewertung vom 01.12.2022
Connemara
Mathieu, Nicolas

Connemara


sehr gut

Träume vom Ausbrechen
Der gefeierte französische Autor und Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu nimmt in seinem neuen Roman, der auf einen Chanson-Party-Hit von Michel Sardou anspielt, seine Generation der Vierzigjährigen in der Provinz von Lothringen en détail unter die Lupe. Dabei hat er eine präzise Beobachtungsgabe und erschafft eine dichte Atmosphäre voller Gefühle, Träume, Versäumnissen und Sehnsüchten.

Im Mittelpunkt steht die zweifache Mutter Hélène, die in der von Männern dominierten Consulting-Branche Karriere machen möchte und trotz Klassenaufstieg innerlich mit Unsicherheiten und einer stetigen Zerrissenheit zu kämpfen hat – nach einem schweren Burnout ist sie weg aus der Metropole Paris, zurück in ihre Heimat in der Provinz von Nancy. Der Alltag mit zwei Töchtern und einer eingefahrenen Ehe locken sie in eine Affäre mit ihrem Jugendschwarm Christophe, der die Kleinstadt Cornécourt nie verlassen hat und in Trennung lebt. Doch auch das geht trotz leidenschaftlichen Nächten nicht gut und mit viel Schwermut, Melancholie und Einfühlungsvermögen zieht Nicolas Mathieu den Leser tief in seine in Rückblenden und tiefsinnig erzählte Milieustudie hinein. Detaillierte und anschauliche Beschreibungen treffen auf emotionale sowie politische Stimmungen und genaue Umgebungsbeschreibungen – jeder Charakter ist tief und fein geschliffen, hat mit anderen Generationen, Klassen, Familienstrukturen und negativen Emotionen zu kämpfen und kann seine provinzielle Herkunft trotz teilweise gelungenen Aufstieg nicht leugnen. Alle träumen von einem besseren Leben, vom Ausbrechen aus festgefahrenen Wegen.

Trotz ein paar pathetischen Längen in der erzählerischen Ausführlichkeit ist Nicolas Mathieu mit „Connemara“ ein tiefgründiges Gesellschaftspanorama gelungen, die nicht nur von geplatzten Träumen und Lieben in der Provinz erzählt, sondern auch soziale und politische Aspekte bis in die 1980er-Jahre verwebt. Dabei sieht der Leser besonders tief in die Lebensläufe und Gefühlswelten von Hélène und Christophe, aber auch in gesellschaftliche Entwicklungen eines ganzen Landes.

Bewertung vom 25.11.2022
Die Kraft der Reue
Pink, Daniel H.

Die Kraft der Reue


sehr gut

Chance des Bedauerns
Der amerikanische Bestseller-Autor Daniel H. Pink hat sich in seinem neuen Sachbuch versiert, spannend und umfassend einer unangenehmen, sehr starken Emotion angenommen, in der viel Kraft stecken kann, wenn man sie zulässt und transformiert – die Reue.

In einer Mischung aus fundierter Wissenschaft mit einer groß angelegten Studie aus dem Jahre 2020, weltweiten Ergebnissen seiner großen Bedauern-Website sowie zahlreichen Praxisgeschichten von bekannten und unbekannten Menschen fächert Daniel Pink eine Emotion auf, die viele lieber nach dem Motto „Bloß nichts bereuen“ verdrängen, bis sie vielleicht irgendwann doch schweißgebadet mit Albträumen aufwachen.

Hier ist es an der Zeit, der Reue mutig tiefer in die Augen zu sehen und aus ihr zu lernen – wie das am besten funktioniert, erläutert Pink mit vielen anschaulichen Anekdoten und psychologischem Hintergrundwissen, bestens unterteilt in übersichtlichen Kapiteln und einer flüssig verfassten und leicht verständlichen Sprache. Denn Bedauern ist nicht gefährlich oder abseits der Norm, sie kann sehr gesund sein und gehört zum natürlichen Menschsein dazu. Gerade in einer so unsicheren Zeit wie heute mit Pandemie, Umweltkrisen und Kriegen zeigt Daniel Pink auf, wie der akzeptierende Blick in die Vergangenheit auf Reue und Bedauern ein Weg voller Stärke in die Zukunft weisen kann. Denn nicht selten äußert sich diese starke Emotion auch als körperlicher Schmerz.

Pink unterteilt die Reue in „vier Kernbedauern“, unter denen die Verbindungsreue und Karriere-Reue dominieren – mit bewegenden Beispielen schildert der Autor hier Fälle, in denen Freunde, Angehörige oder Liebespartner weggedriftet sind und wie Betroffene mit diesem Schmerz und getroffenen Entscheidungen mit Selbstmitgefühl und ohne endlose, quälende Grübelei umgehen können.

Unterhaltsam, informativ und lehrreich für alle, die sich gerne mit Psychologie und Lebensweisheit beschäftigen, liefert Pink nicht nur einen tiefen Blick in die menschliche Seele, sondern auch einen eindringlichen Ratgeber voller gesammelten Ergebnisse seiner Studie mit vielen wichtigen Anregungen für das eigene erfüllte Leben. Ein faszinierender Einblick in die verschlungenen Wege der Reue!