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si_liest
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Lörrach

Bewertungen

Insgesamt 44 Bewertungen
Bewertung vom 15.01.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


weniger gut

Auf Social Media stolpert man zwangsläufig immer wieder über Hanya Yanagihara und ihren Roman „Ein wenig Leben“, welcher sehr viele begeisterte Leser*innen hat. Deshalb habe ich mich auch so sehr darauf gefreut, ihren neusten Roman „Zum Paradies“ zu lesen und mir selbst ein Bild von der Genialität der Autorin zu machen. Aber so gerne ich das Buch gemocht hätte, es konnte mich leider nicht überzeugen.
Die drei Geschichten im Buch – alle spielen zu unterschiedlichen Zeiten am selben Ort, beschreiben dystopische und reale Welten, jedoch immer mit den wiederkehrenden Motiven Liebe, Sehnsucht, Herkunft, Familie, Freiheit, und auch die Namen der Protagonisten sind immer dieselben – zeichnen sich vor allem durch ihre sehr intensive und ausufernde Erzählweise aus, konnten mich aber irgendwie emotional nicht erreichen, weil mir die Protagonisten (Protagonistinnen kommen nur am Rande vor) und ihre Probleme, Verhaltensweisen und Handlungen fast durchgehend fremd geblieben sind. Trotz des bildhaften Schreibstils hat mir bei allen Geschichten die Tiefe gefehlt und die offenen Enden haben meinen Eindruck einer „unrunden“ Erzählung nur noch verstärkt.
Der Klappentext hat einen spannenden Roman versprochen und ich habe gedacht, dass die Geschichten tiefer miteinander verknüpft und verwoben sind, aber leider konnte ich dies im Verlauf nicht erkennen, was mich – so muss ich gestehen – einige Seiten hat überspringen lassen. Meiner Meinung nach hat sich Hanya Yanagihara zu sehr im Detail verloren, so dass die Geschichten konstruiert und gezwungen geistreich erscheinen.
Am besten gefallen hat mir die dritte und längste Geschichte, die in einer dystopischen, jedoch vorstellbaren und deshalb erschreckenden Zukunft spielt. Auch hier habe ich aber nach einiger Zeit das Interesse verloren und musste mich zum Schluss regelrecht durchkämpfen. Dazu hat sicher auch die eher depressive und schwermütige Grundstimmung, die im Roman vorherrscht, beigetragen.
Fans von Hanya Yanagiharas Stil werden sicher Freude an diesem Roman haben, aber bei mir wollte sich leider keine Lesefreude einstellen und ich habe mich mühsam durch die 900 Seiten gequält.

Bewertung vom 21.11.2021
Gesammelte Werke
Sandgren, Lydia

Gesammelte Werke


ausgezeichnet

Nur selten passiert es mir bei einem Buch, dass ich es möglichst langsam lese, weil ich nicht will, dass die Geschichte zu Ende ist. Bei Lydia Sandgrens imposanten Erstlingswerk war dies so, wobei mir das Lesevergnügen bei knapp unter 900 Seiten doch relativ lange erhalten geblieben ist.
Hauptfigur des Romans ist der Göteborger Verleger Martin Berg, der in einer Lebenskrise steckt. Seine Frau Cecilia ist vor einigen Jahren spurlos verschwunden und hat ihn mit den Kindern Rakel und Elis alleine gelassen, sein Freund, der bekannte Künstler Gustav Becker, meldet sich kaum noch und auch für seinen Verlag Berg & Andrén sieht die Zukunft alles andere als rosig aus. Währenddessen schlägt sich seine Tochter Rakel mit ganz anderen Problemen herum: in einer Romanfigur eines deutschen Schriftstellers glaubt sie, ihre verschwundene Mutter wiederzuerkennen und begibt sich auf eine Spurensuche, die sie unter anderem nach Paris und Berlin führt.
Durch Rückblenden in Martin Bergs Jugendzeit erfährt man, wie er überhaupt in die jetzige Situation kam und welche Ereignisse zum Verschwinden seiner Frau geführt haben. Man taucht ein in die Göteborger Intellektuellenszene und in die Pariser Bohème der 80er Jahre, erlebt eine Jugendzeit mit, in der Kultur und Wissen eine große Rolle spielen, in der es keine große Rolle spielt, ob und wie man damit später sein Geld verdienen kann. Stück für Stück wird auch die komplizierte Beziehung zu seinen Kindern offenbar und gegen Ende wird immer deutlicher, warum Rakel unbedingt Licht ins Dunkel der Familiengeschichte bringen will. Auch die on-off Freundschaft zu Gustav Becker wird eingehend beleuchtet und zeigt das Leben eines Künstlers in allen Facetten.
Wie schon erwähnt war das Lesen für mich ein Hochgenuss, ich konnte so richtig tief in die Geschichte eintauchen. Lydia Sandgrens Schreibstil ist sehr flüssig, differenziert und intensiv und die Themen, die im Roman auftauchen, werden psychologisch subtil beschrieben. Wie auch im Umschlagtext schon erwähnt, erinnert der Stil ein bisschen an Donna Tartt. Zahlreiche Bezüge zu Literatur und Musik, Kunst und Zeitgeist machen die Lektüre greifbar und abwechslungsreich.
Manch einer mag vielleicht das offene Ende bemängeln, aber ich finde, gerade dies macht den Roman aus; so bleibt viel Raum für eigene Interpretationen und regt zum Nachdenken an.
Ein weiteres Highlight für mich in diesem Jahr und sehr empfehlenswert für alle Liebhaber von Sprache und Literatur.

Bewertung vom 10.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


ausgezeichnet

Die Bücher von Marco Balzano lassen mich immer mit einer gewissen Schwere und einem Hauch von Melancholie zurück. So hat mich auch sein neuester Roman, „Wenn ich wiederkomme“, sehr betroffen gemacht und mich zum Nachdenken angeregt.
Daniela, Mutter zweier Kinder, bricht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von ihrem Heimatdorf in Rumänien nach Italien auf, um dort als Pflegekraft zu arbeiten und mit dem hart verdienten Geld ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Die Kinder bleiben bei den Großeltern und beim Vater zurück. In drei Kapiteln wird die Geschichte aus den Perspektiven von Manuel, dem Sohn, Daniela selbst und ihrer älteren Tochter Angelica erzählt. Hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Familienmitglieder mit der Situation umgehen und mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben. Während Manuel sich von der Mutter im Stich gelassen fühlt und versucht, sich mit Konsum zu betäuben, wirft Angelica ihrer Mutter vor, ihr die Verantwortung für alles zugeschoben zu haben, erfüllt aber letztlich doch ihre Pflicht. Daniela wiederum hat mit ihrem schlechten Gewissen zu kämpfen und fühlt sich ausgenutzt, sowohl von ihrer Familie als auch von ihren Arbeitgebern.
Marco Balzano bringt die unterschiedlichen Sichtweisen den Leser*innen sehr differenziert und emotional nahe, obwohl seine Schreibweise eher nüchtern-beschreibend-klar ist. Mir wurden beim Lesen einige Themen offenbar, über die ich davor gar nicht nachgedacht habe und die mich tief getroffen haben, weil die Problematik auch hier in Deutschland sehr aktuell ist. Zudem fand ich die zusätzlichen Informationen im Nachwort – den Begriff „Italiensyndrom“ habe ich zum Beispiel nicht gekannt - sehr wertvoll und zeigen, wie gut der Autor recherchiert hat.
Ich bin von dem Buch sehr begeistert, weil es in einer leisen, stillen Art auf Probleme aufmerksam macht, die sich eher im Verborgenen, am Rande der Gesellschaft, abspielen.

Bewertung vom 27.09.2021
Die vier Winde
Hannah, Kristin

Die vier Winde


sehr gut

Ich muss zugeben, dass ich das Buch nach den ersten Seiten schon weglegen wollte, zu klischeehaft war mir der Anfang: Mädchen aus gutem, christlichem Hause, überbehütet, voller Träume und Sehnsüchte, trifft beim ersten Mal, als sie rebellierend das Haus verlässt, auf einen feurigen Italo-Amerikaner, mit dem sie wenige Male schläft und dann schwanger wird. Das hört sich ziemlich einfallslos und platt an, bleibt aber zum Glück im Verlauf der Geschichte nicht so, so dass ich rückblickend betrachtet froh bin, das Buch weitergelesen zu haben.
Texas, Anfang der 30er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts: Elsa Martinelli wohnt zusammen mit ihrem Mann und den zwei Kindern Loreda und Anthony auf der Farm der Schwiegereltern, die aus Italien eingewandert sind und sich ihren „American Dream“ durch harte Arbeit erfüllt haben. Doch die Weltwirtschaftskrise und die extreme Dürre und die Staubstürme – entstanden durch die jahrelange falsche Nutzung des Landes – treffen die Familie hart. Als Elsas Mann von heute auf morgen die Familie verlässt und Anthony aufgrund des Staubs krank wird, entschließt sie sich schweren Herzens, den weiten Weg nach Kalifornien auf sich zu nehmen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und ihre Kinder. Dort angekommen, muss sie jedoch am eigenen Leib erfahren, wie es ist, als Flüchtling ausgegrenzt und ausgebeutet zu werden. Doch sie gibt nicht auf und kämpft für ihr Glück – mit tragischen Folgen.
Nach den anfänglichen Schwierigkeiten hat mich die Geschichte wirklich gepackt. Kristin Hannahs Schreibstil ist mitreißend und man kann sich sehr gut in die damalige schwere Zeit hineinversetzen. Auch die Spannung bleibt eigentlich während der ganzen Zeit auf hohem Niveau, so dass es manchmal fast schon zu viel ist. Man lernt viel über einen Teil der amerikanischen Geschichte und mit Unbehagen wurde mir immer wieder bewusst, wie universell und aktuell das Thema der Flüchtlinge ist – leider!
Das Buch hat mich ausgesprochen gut unterhalten; es war stellenweise sehr aufwühlend und hat mich oft zum Nachdenken gebracht, aber genau das mag ich an Büchern. Lediglich der kitschige Anfang und das amerikanisch-heroische Ende waren nicht so meins.
Große Empfehlung für alle, die gerne spannende (historische) Romane lesen.

Bewertung vom 27.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


ausgezeichnet

Bücher wie dieses muss man ganz langsam lesen, man muss sie genießen. Nur selten findet man ein Buch, das sprachlich und inhaltlich so hochwertig daherkommt und das einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Südengland, im Sommer 1989: Zwei Männer, beide vom Leben gezeichnet – der eine von Drogen und Alkohol, der andere von seinem Einsatz als Soldat im Falklandkrieg -, machen sich auf, um den perfekten Kornkreis zu gestalten. Die Muster, die sie ins Korn drücken, werden akribisch geplant und nur so ausgeführt, dass niemand zu Schaden kommt. Um anonym zu bleiben, arbeiten sie ausschließlich nachts, wobei sie auf unterschiedlichste Personen treffen und diverse Situationen meistern müssen. Die beiden Männer sind durch eine leise, achtsame Freundschaft verbunden, wobei am Ende offenbleibt, ob diese Freundschaft überdauern wird.
Benjamin Myers schreibt so schöne Sätze, dass es eine Freude war, das Buch zu lesen. Die Naturbeschreibungen sind poetisch und intensiv (dies hat mich ein bisschen an „Der Gesang der Flusskrebse“ erinnert), so dass es manchmal fast ein bisschen übertrieben wirkt. In den einzelnen Kapiteln, die jeweils die Entstehung eines Kornkreises beschreiben, wird eine subtile Kritik an unterschiedlichen gesellschaftlichen Themen sichtbar (z.B. Umweltverschmutzung, Vandalismus). Sehr gelungen fand ich auch die Zeitungsmeldungen jeweils am Ende der Kapitel, in denen die abstrusesten Theorien über die Entstehung der Kornkreise aufgestellt werden, wobei die tatsächliche Erklärung sehr simpel ist.
Ein wunderbares, poetisches, philosophisches Buch über die Natur und über die Freundschaft, aber auch mit leiser Kritik an aktuellen Themen!

Bewertung vom 27.09.2021
Das letzte Bild
Jonuleit, Anja

Das letzte Bild


sehr gut

Isdal, Norwegen, November 1970: Wanderer finden eine zum Teil verbrannte Frauenleiche, deren Identität bis heute - über 50 Jahre später – ungeklärt ist. Seither wurde viel darüber spekuliert, wer die Tote sei und wie sie ums Leben kam. Erst im Jahre 2016 konnte mittels einer DNA-Analyse festgestellt werden, dass die Frau ursprünglich aus Deutschland stammt. Zahlreiche Mythen ranken sich um den Fall; so war unter anderem schon die Rede davon, dass die Frau eine Geheimdienst-Mitarbeiterin war, was aber durch die Einschätzung von Experten widerlegt werden konnte.
Anja Jonuleit hat aus diesem spannenden Fall einen interessanten Roman erschaffen, der sowohl fiktive als auch reale Elemente enthält. Auf verschiedenen Zeitebenen wird einerseits das Leben der Isdal-Frau beleuchtet, andererseits spielt auch die Nichte der Toten – Eva, eine Autorin -, die sich auf Spurensuche begibt und das Rätsel um ihre Tante gerne lösen möchte, eine Rolle im Roman. Allzu viel möchte ich aber nicht verraten, da ich nicht spoilern möchte.
Der Roman liest sich sehr flüssig und da die Geschichte sehr spannend und geheimnisvoll ist, konnte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Geschickt verknüpft die Autorin Wahrheit und Fiktion und zeigt, wie extrem gut sie den Fall recherchiert hat. Zwei Schwachstellen hat der Roman jedoch meiner Meinung nach: Zum einen blieb mir die Figur der Marguerite durch ihr Verhalten (gerade Männern gegenüber) und durch die allzu vielen Zufälle, die ihr Leben bestimmen, eher fremd. Und zum anderen kam für mich der Schluss – im Vergleich zu den davor sehr detailreich geschilderten Vorgängen – plötzlich und irgendwie zu schnell. Aber nichtsdestotrotz habe ich das Buch gerne gelesen und auch angefangen, den BBC-Podcast "Death in Ice Valley" zu hören.

Bewertung vom 27.09.2021
Das Glashotel
Mandel, Emily St. John

Das Glashotel


ausgezeichnet

Lange habe ich überlegt, wie sich die Handlung von „Das Glashotel“ am besten zusammenfassen lässt, aber es ist mir einfach nicht gelungen, dem Inhalt dieses vielschichtigen Romans gerecht zu werden, ohne etwas auszulassen. Deshalb ein paar Worte dazu, um WEN es hauptsächlich geht: Zum einen sind da Vincent und ihr Halbbruder Paul, die irgendwie miteinander verbunden sind, aber doch die meiste Zeit ihres Lebens getrennt voneinander verbringen. Dann Walter, der die Einsamkeit liebt, jedoch hauptsächlich mit Menschen arbeitet. Leon Prevant, der bei einer Reederei arbeitet und seinen Lebensabend im Wohnwagen verbringt. Schließlich Jonathan Alkaitis, der Schein-Ehemann von Vincent, dessen Finanz-Betrugssystem zusammenbricht und der eine Gefängnisstrafe von 170 Jahren absitzen muss. Und Olivia, die ein Gemälde von Jonathans verstorbenem Bruder angefertigt hat. Daneben gibt es noch einige Randfiguren, die alle mal mehr, mal weniger von den Ereignissen im Roman gestreift werden.
Beim Lesen habe ich mir oft die Frage gestellt, wie denn nun alles zusammenhängt. Diese Frage wird ganz subtil beantwortet, Stück für Stück, aber am Schluss fügt sich alles zu einem umfassenden Bild zusammen. Rückblickend betrachtet finde ich es genial, wie der Roman aufgebaut ist, unkonventionell und fast schon künstlerisch, aber doch nie abgehoben oder unverständlich.
Emily St. John Mandels Schreibstil ist klar und man kann das Buch flüssig lesen. Die Protagonisten werden nicht unbedingt detailliert beschrieben und man bekommt oft nur Bruchstücke aus ihren Leben/Gedanken/Gefühlen präsentiert, man kommt ihnen nicht wirklich nah, aber ich finde, dies macht den Roman auch so besonders, da das Gesamtbild trotzdem stimmig und rund ist.
Das titelgebende Glashotel, das Hotel Caiette in British Columbia, spielt, obwohl nur ein kleiner Teil der Handlung dort stattfindet, insofern eine tragende Rolle, als dass die unscheinbaren Ereignisse, die letztendlich große Wellen geschlagen haben, im Hotel ihren Anfang genommen haben.
Ein toller, überraschender Roman, dessen stilvolles Cover zudem noch ein Blickfang im Bücherregal ist.

Bewertung vom 27.09.2021
Die Überlebenden
Schulman, Alex

Die Überlebenden


ausgezeichnet

Mit dem Schluss ist es bei Romanen ja so eine Sache, finde ich. Oft ist es so, dass ich am Ende die Sätze eher überfliege, weil die Handlung vorhersehbar und wenig überraschend, wenn nicht sogar langweilig, ist. Dies war jedoch bei „Die Überlebenden“ auf gar keinen Fall so. Hier hat mich das Ende völlig überraschend getroffen, fast so wie ein unerwarteter Schlag ins Gesicht (wenn man einen bildlichen Vergleich sucht). Das passiert mir beim Lesen sehr, sehr selten und ist ein Grund, warum ich von dem Buch so begeistert bin.
Der andere Grund ist die psychologische Raffinesse, mit der der Autor die Geschichte der drei Brüder Nils, Benjamin und Pierre erzählt. Die Handlung ist aufgeteilt in zwei Zeitstränge, die sich immer wieder abwechseln, so dass man Stück für Stück erfährt, wie die Ereignisse aus der Vergangenheit zu der Situation in der Gegenwart beigetragen haben.
Alex Schulman schafft es, durch eine dichte Erzählweise, die auf eine Art die Dinge eher nüchtern beschreibt, sehr reale Emotionen bei den Leser*innen zu wecken. So hatte ich beim Lesen durchgehend ein bedrückendes, beklemmendes Gefühl, da im Buch eine toxische Eltern-Kind-Beziehung beschrieben wird, geprägt von emotionaler Unreife der Eltern, psychischer und physischer Vernachlässigung und Alkoholismus. Am Ende wird diese depressive Grundstimmung meiner Meinung nach jedoch durch die überraschende Wendung etwas aufgelöst und man hat fast schon so etwas wie Hoffnung, dass doch noch alles gut wird.
Ein psychologisch vielschichtiger Roman, der mich begeistert, berührt und überrascht hat! Ich hoffe darauf, dass auch die anderen Bücher von Alex Schulman noch übersetzt werden!

Bewertung vom 25.08.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


gut

Pedro, Postbote auf Lanzarote, lebt zusammen mit Sohn Miguel und Freundin Carlota ein beschauliches, zufriedenes, ja fast schon langweiliges Leben. Er fährt mit seiner Dienst-Honda quer über die Insel, obwohl er fast keine Briefe mehr auszutragen hat, holt seinen Sohn von der Schule ab und kümmert sich um ihn, während seine Freundin mit ihrem stressigen Job in einem Hotel vermeintlich kaum noch Zeit für ihr Privatleben hat. Auch kann er mit den Worten Digitalisierung und Fortschritt nicht viel anfangen und lebt somit ein bisschen in seiner eigenen Welt. Nach einem Ausflug auf die Nachbarinsel Fuerteventura, den er heimlich mit seinem Freund Tenaro und Miguel macht, überschlagen sich die Ereignisse und Carlota verlässt mit dem Sohn die Insel. Gemeinsam mit Tenaro und dem Flüchtling Amado schmiedet er einen irrwitzigen Plan, um Miguel zurückzuholen. In dem Buch spielen auch noch verschiedene andere Elemente eine Rolle, so dass dies dem im Umschlagtext erwähnten Feuerwerk an Geschichten vollkommen gerecht wird. Was hat es zum Beispiel mit dem marokkanischen Tisch aus deutscher Eiche, der im Postamt steht, auf sich, und was hat der portugiesische Schriftsteller und Nobelpreisträger José Saramago mit allem zu tun?
Die Geschichte liest sich auf Grund der vielen kurzen Kapitel (die übrigens sehr kreative Überschriften haben) sehr flüssig und schnell. Man kann sich dank der Beschreibungen die kanarische Insel sehr gut vorstellen und gedanklich dorthin reisen. Zudem lernt man einiges über die Geschichte der Insel und es werden immer wieder interessante Fakten erwähnt.
Trotzdem konnte mich das Buch nicht wirklich überzeugen. Manche Geschehnisse waren mir einfach zu skurril und zu überspitzt und Pedro und Tenaro waren mir so gar nicht sympathisch, ich konnte die Charaktere nicht wirklich greifen. Auch die immer wieder eingefügten Bilder und Skizzen hätten meiner Meinung nach nicht sein müssen, aber vielleicht hänge ich da zu sehr an einer konservativen Vorstellung.
Aber dies ist natürlich Geschmackssache und ich kann mir vorstellen, dass der Humor und die Einzigartigkeit des Romans viele Leser*innen begeistern wird.

Bewertung vom 25.08.2021
Shuggie Bain
Stuart, Douglas

Shuggie Bain


ausgezeichnet

Schmerzhaft, tragisch, berührend, hoffnungsvoll – wie man an den Worten erkennen kann, mit denen ich das in Teilen autofiktionale Werk beschreiben würde, war die Lektüre von Douglas Stuarts Roman „Shuggie Bain“ für mich eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
Hugh „Shuggie“ Bain wächst in den 80er Jahren in Glasgow auf, inmitten von Armut, Hoffnungslosigkeit, Massenarbeitslosigkeit und einer zerfallenden Stadt. Schon früh lässt ihn sein Umfeld wissen, dass er anders ist: er tanzt gerne und spielt lieber mit Puppen als mit den anderen Jungen Fußball. Sein Vater verlässt die Familie, als Shuggie fünf Jahre alt ist, und von da an sind er und sein Bruder Leek für ihre alkoholsüchtige Mutter Agnes verantwortlich. Es folgt ein ständiger Wechsel zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Vernachlässigung und Fürsorge, Freundschaft und Ausgrenzung, Rausch und Entzug. Während Shuggie immer mehr in eine Art toxische Co-Abhängigkeit rutscht und zum Teil tagelang die Wohnung nicht verlässt, aus Angst, seine Mutter könnte sich etwas antun, entfernt sich sein Bruder psychisch und physisch aus dieser Beziehung.
Mir hat das Buch wahnsinnig gut gefallen, auch wenn es teilweise kaum auszuhalten war, über all die grausamen Facetten von Alkoholismus zu lesen. Douglas Stuart hat es mit seiner schonungslosen und nüchternen Schreibweise geschafft, mich emotional an die Lektüre zu fesseln und die Verhaltensweisen aller Protagonist*innen nachvollziehen zu können. Man leidet mit und man hofft mit und natürlich weint man auch mit.
Sprachlich bin ich am Anfang über das Wort „Glasweger*in“ gestolpert; bis jetzt kannte ich nur die Bezeichnung „Glasgower*in“ für das englische „Glaswegian“. Aber man lernt ja immer dazu! Und auch die Dialoge in der Umgangssprache haben den Lesefluss etwas gestört, wenngleich der Dialekt natürlich Authentizität in die Geschichte bringt.
Eine starke, tragische Geschichte, die mich tief berührt hat und die sicher noch lange nachhallt.